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Alles ist noch zu wenig

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
Arche Literatur Verlagerschienen am17.08.20221. Auflage
Drei Generationen zwischen Verantwortung und individueller Freiheit ?Alles ist noch zu wenig? erzählt rasant und mit entwaffnender Menschenkenntnis von allgegenwärtigen Gräben zwischen Stadt und Land, Ost und West, Alt und Jung. Dabei geht es immer wieder um die Erwartungen, die wir an unsere Familie stellen - und den Widerwillen, selbst Verantwortung zu übernehmen. Weil seine Mutter Inge nach einem Sturz nicht mehr gut laufen kann, beschließt Carsten, mit seiner fünfzehnjährigen Tochter Lissa für ein paar Wochen zu Inge in die ostdeutsche Provinz zu fahren. In der Enge des Dorfes und im Alltag ihrer seltsamen Wohngemeinschaft kollidieren unterschiedliche Lebenserfahrungen und Vorstellungen. Wo zunächst nur Unverständnis herrscht, sind Großmutter, Sohn und Enkelin schließlich gezwungen, einander neu kennenzulernen. Denn eine gemeinsame Sprache sprechen sie seit Jahren nicht: Inge schmollt lieber, als um Hilfe zu bitten. Carsten schiebt Dienstreisen vor, um Reißaus nehmen zu können. Und Lissa fühlt sich allein mit ihren Ansichten von einer gerechteren Welt. In ?Alles ist noch zu wenig? schreibt Katja Schönherr federleicht und gleichzeitig beeindruckend feinsinnig von überzogenen Erwartungen, bissigem Schweigen und vorsichtiger Annäherung. Dabei umkreist sie eine Frage, die drängender nicht sein könnte: Was schulden wir unseren Nächsten - und was uns selbst?

Katja Schönherr, Jahrgang 1982, ist in Dresden aufgewachsen. Sie hat Journalistik und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig studiert sowie Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Ihr erster Roman 'Marta und Arthur' wurde 2019 von der Presse hochgelobt. Er war in Deutschland für den Klaus-Michael-Kühne-Preis als bestes Romandebütnominiert und in Frankreich für den Prix Les Inrockuptibles als bestes ausländisches Buch. 2020 nahm Katja Schönherr am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil. Sie lebt als Journalistin und Schriftstellerin in der Schweiz. Der Kanton und die Stadt Zürich haben ihre Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet und gefördert.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR23,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR13,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextDrei Generationen zwischen Verantwortung und individueller Freiheit ?Alles ist noch zu wenig? erzählt rasant und mit entwaffnender Menschenkenntnis von allgegenwärtigen Gräben zwischen Stadt und Land, Ost und West, Alt und Jung. Dabei geht es immer wieder um die Erwartungen, die wir an unsere Familie stellen - und den Widerwillen, selbst Verantwortung zu übernehmen. Weil seine Mutter Inge nach einem Sturz nicht mehr gut laufen kann, beschließt Carsten, mit seiner fünfzehnjährigen Tochter Lissa für ein paar Wochen zu Inge in die ostdeutsche Provinz zu fahren. In der Enge des Dorfes und im Alltag ihrer seltsamen Wohngemeinschaft kollidieren unterschiedliche Lebenserfahrungen und Vorstellungen. Wo zunächst nur Unverständnis herrscht, sind Großmutter, Sohn und Enkelin schließlich gezwungen, einander neu kennenzulernen. Denn eine gemeinsame Sprache sprechen sie seit Jahren nicht: Inge schmollt lieber, als um Hilfe zu bitten. Carsten schiebt Dienstreisen vor, um Reißaus nehmen zu können. Und Lissa fühlt sich allein mit ihren Ansichten von einer gerechteren Welt. In ?Alles ist noch zu wenig? schreibt Katja Schönherr federleicht und gleichzeitig beeindruckend feinsinnig von überzogenen Erwartungen, bissigem Schweigen und vorsichtiger Annäherung. Dabei umkreist sie eine Frage, die drängender nicht sein könnte: Was schulden wir unseren Nächsten - und was uns selbst?

Katja Schönherr, Jahrgang 1982, ist in Dresden aufgewachsen. Sie hat Journalistik und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig studiert sowie Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Ihr erster Roman 'Marta und Arthur' wurde 2019 von der Presse hochgelobt. Er war in Deutschland für den Klaus-Michael-Kühne-Preis als bestes Romandebütnominiert und in Frankreich für den Prix Les Inrockuptibles als bestes ausländisches Buch. 2020 nahm Katja Schönherr am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil. Sie lebt als Journalistin und Schriftstellerin in der Schweiz. Der Kanton und die Stadt Zürich haben ihre Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet und gefördert.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783037901359
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum17.08.2022
Auflage1. Auflage
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1663 Kbytes
Artikel-Nr.9783364
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Zimmer 601. Sein Herz pocht, als stünde eine Prüfung bevor. Carsten atmet tief ein, drückt die Klinke hinunter. Vorsichtig guckt er ins Krankenzimmer. Als er Inge sieht - im ersten Bett -, nickt er, wie um sich selbst zu bestätigen, dass er seine Mutter erkannt hat. Er tritt ein, schließt die Tür und geht auf Inge zu.

»Hallo, Mutti«, sagt er so laut, dass es offenbar auch die Bettnachbarin mitbekommt. Denn die setzt ihr Schnarchen aus, nur um kurz darauf weiterzuröhren.

Inge hat den Kopf in Carstens Richtung gedreht, mustert ihn von oben bis unten. An seinen Füßen verharrt ihr Blick. Sie wird also seine Schuhe kritisieren oder die umgeschlagenen Hosen.

»Keine Blumen?«, sagt sie.

Sie findet immer etwas, denkt Carsten. Sie. Findet. Immer. Irgendetwas.

»Ich sehe, du bist noch die Alte«, erwidert er.

»Meinst du, hier drinnen werde ich jünger?«

»Ich habe keine Blumen gekauft, damit du dir unten im Laden selbst einen Strauß aussuchen kannst«, fällt es Carsten ein zu sagen. In Wahrheit hat er nicht einen Moment an Blumen gedacht.

Inge drückt auf die Fernbedienung, um ihr Bett aufzurichten. Sie klopft auf die Decke und legt die Hände links und rechts neben der Hüfte ab.

In einem Winkel seines Körpers, den Carsten nicht genau verorten kann, ist er erleichtert, seine Mutter zu sehen. Die Phasen vor einer Begegnung mit ihr fühlen sich für ihn oft beklemmender an als die Begegnung selbst. In Abwesenheit bekommt seine Mutter etwas Dämonisches, das dann verpufft, sobald er auf sie trifft. Dann fällt ihm auf, wie klein diese Frau ist, wie zerbrechlich. Auch nur ein Mensch. Ein alter Mensch inzwischen mit dünnen Lippen und einem dunklen Mal darauf.

Inge sieht besser aus, als er erwartet hatte. Zwar hat sie abgenommen, was ihr Gesicht noch faltiger wirken lässt; ihre Haut neigt zu vielen, besonders kleinen Falten. Blass ist sie auch. Aber in ihren hellen Augen liegt die übliche Wachheit, die Carsten von ihr kennt. Ohne Details über ihren Zustand zu wissen, verrät ihm ihr Blick: Seine Mutter kommt wieder auf die Beine. Zart mag ihr Körper wirken, aber er ist zäh.

 

Carsten holt sich einen Stuhl und setzt sich zu Inge ans Bett. Er schaut sich um. Er mag Krankenhäuser nicht, aber wer tut das schon? Die andere Patientin schnarcht unablässig.

»Ganz schön laut hier«, bemerkt er.

»Es ist eine Zumutung. Die hätten sie mit einer Schwerhörigen zusammenlegen müssen«, flüstert Inge. »Die hat noch nie ein Wort gesagt, die kann nur schnarchen.«

 

Sie beschließen, einen Kaffee trinken zu gehen. Carsten hilft seiner Mutter beim Aufstehen. Sie will sich zurechtmachen, aber Carsten ist ungeduldig. Er überredet Inge, einfach den Morgenmantel überzuziehen. Nach der Einlieferung ins Krankenhaus hat Ulrike, die nur ein paar Häuser von Inge entfernt wohnt, ihr die wichtigsten Sachen hergebracht.

Den gesteppten Morgenmantel mit Stehkragen und Blumenmuster besitzt Inge schon, seit sie mit Carstens Bruder Jens schwanger war, seit fast sechzig Jahren. Und ein wenig beschämt es Carsten, dass sie damit hier im Krankenhaus ist. Allerhand Fäden zieht er. Zu Weihnachten hatte er ihr einmal einen neuen geschenkt. Aber entweder hat Inge ihn direkt weiterverschenkt, an irgendeine andere Frau im Dorf, oder er liegt unberührt im Kleiderschrank. Jedenfalls hat er seinen Morgenmantel bei keinem seiner Besuche je im Bad hängen sehen. Da hängt immer nur der alte. Seiner war nicht billig gewe- sen.

 

Neben dem Bett steht ein Rollator. Inge weigert sich, ihn zu benutzen. Stattdessen hakt sie sich bei Carsten ein. Er spürt einen leisen Ekel, für den er sich schämt. Er bekommt Gänsehaut und wendet den Kopf von seiner Mutter ab. Wie unangenehm ihm diese Nähe ist, diese Berührung. Ihr Arm an seinem Arm. Kurz schließt er die Augen, um sich zu sammeln. Langsamen Schrittes gehen sie zum Fahrstuhl.

Sie kann laufen, denkt Carsten. Immerhin, sie kann laufen!

Mit heller, begeisterter Stimme sagt er: »Super! Das klappt ja schon wieder richtig klasse!«, und fühlt sich wie ein Motivationscoach dabei.

»Du weißt doch gar nicht, wie es vorher war«, faucht Inge.

 

In der Kantine sagt sie: »Nur alte Leute hier. Alles richtig alte Leute.« In ihrer Stimme liegt eine kaum verborgene Ablehnung. Das ist Carsten schon früher bei seinen Großeltern aufgefallen: dieses Sprechen alter Menschen über die eigene Generation, als gehörten sie selbst nicht dazu.

Carsten hat bisher weniger auf die Patienten geachtet als auf das grün und weiß gekleidete Personal. Er fragt sich, ob es sinnstiftender ist, junge Leute zu heilen als alte, oder ob man, als jemand, der tagtäglich Gutes tut, gefeit ist vor derlei Gedanken. Medizinisches Personal schüchtert Carsten ein, schon immer. Es beschämt ihn, wie wichtig diese Leute sind.

Carsten ist Marketingleiter bei Smyrna, einem Hersteller von Gefrierbeuteln und Aluminium- und Frischhaltefolien. Seit Kurzem hat Smyrna zudem Abdeckhauben aus Frischhaltefolie im Angebot, die man dank eines elastischen Bunds direkt über einen Teller stülpen kann.

Vorhin, als eine Ärztin mit ihrem Sandwich in der Kassenschlange stand, fragte sich Carsten, wie vielen Menschen ihre Hände heute schon geholfen haben. Haben sie gerade eine Bandscheibe operiert, ohne die Wirbelsäule zu verletzen? Oder einen Tumor entfernt? Oder einen Herzschrittmacher eingesetzt? Carstens Finger tippen Tag für Tag bloß auf einer Tastatur herum, erstellen Präsentationen und schreiben E-Mails mit Aufträgen. Auch muss er gar nicht so viele strategische Überlegungen anstellen, wie er gegenüber der Geschäftsführung immer behauptet, wenn er sein Gehalt rechtfertigt. Er sucht aus den Vorschlägen anderer Leute nur aus: neues Logo, neue Packung, neues Plakat, neuer Werbeclaim, mehr SEO, ab und an ein überteuerter TV-Spot. Immerhin hat er einen guten Riecher bei der Auswahl seiner Dienstleister; das hat nicht jeder, darauf kommt es aber an. Carsten findet seine Arbeit weder besonders interessant noch bereichernd. Er hat sich schlicht daran gewöhnt. Eigentlich hätte er, karriereorientiert gedacht, in all den Jahren mindestens zweimal das Unternehmen wechseln sollen. Inzwischen hofft er, bei Smyrna bis zur Rente durchzukommen.

 

Inge trinkt ihren Kaffee schlürfend. Carsten schaut auf das blauschwarze Mal auf ihrer Unterlippe. Bei der Heirat hatte sie das noch nicht; auf den Hochzeitsfotos ist sie ohne zu sehen. Irgendwann danach muss es gekommen sein. Carsten kennt seine Mutter nur so. Das Mal sieht aus wie ein geschwollenes Hämatom, nur dass es nicht weggeht. Carsten meint sogar, es sei mit den Jahren dunkler geworden. Als Kind haben er und Jens manchmal gefragt, warum dort dieser Blutegel sitze. Mit ihren kleinen Zeigefingern tippten sie es an. Wenn sie nicht nah genug an den Lippen ihrer Mutter waren, deuteten sie darauf. Inge sagte: »Das ist eben so«, und drehte sich weg.

»Ah, tut das gut«, stöhnt Inge beim Absetzen der Tasse. »Das war mein erster Kaffee seit über einer Woche.«

Carsten kennt niemanden, der so gerne Kaffee trinkt wie seine Mutter. Zwei Würfel Zucker pro Tasse.

Eine seltsame Intimität, sie hier, umgeben von fremden Leuten, in diesem ollen Morgenmantel Kaffee trinken zu sehen. Außer ihm und Jens und seinem verstorbenen Vater hat wahrscheinlich niemand sie je so gesehen. Das Frühstück all die Jahre an dem für vier viel zu kleinen Küchentisch. Zu Mittag und Abend aßen sie immer im Wohnzimmer, aber morgens mussten sie sich an den kleinen Ecktisch in der Küche quetschen. Inge stürzte ihren Kaffee hinunter und sprang immer wieder auf, um sich und Richard nachzuschenken. Für Jens und Carsten gab es heiße Milch (Jens mochte die Haut obendrauf, Carsten nicht), sonntags sogar Kakao.

 

Jetzt trinkt Carsten einen Cappuccino. Er schmeckt genauso säuerlich, wie er es erwartet hat.

»Wahrscheinlich hast du gehofft, dass ich sterbe. Aber so leicht werde ich es dir nicht machen«, sagt Inge.

»Kein Zweifel«, erwidert Carsten.

Danach sitzen die beiden eine Weile schweigend da, schauen sich um, aber einander nicht an. Mit ihrer Hand tippt Inge unablässig auf die Tischplatte. Irgendwann hält Carsten die Anspannung nicht mehr aus, zumal er spürt, dass seine Mutter am liebsten einen ganzen Schwall von Vorwürfen über ihm auskippen würde. Er geht einen zweiten Kaffee für sie holen. Er fragt nicht, ob sie noch einen möchte. Er hofft einfach, sie damit ein wenig sanftmütiger stimmen zu können. Und sowieso ist jeglicher hemdsärmelig wirkende Aktionismus besser, als stumm mit ihr herumzusitzen.

»Oh«, sagt Inge überrascht. »Eigentlich soll ich ja gar keinen Kaffee trinken«, erklärt sie und trinkt diese Tasse noch schneller als die erste, weil sie noch verbotener ist.

»Ich fahre nachher ins Haus und räume auf.« Er habe sich ein paar Tage freigenommen, erklärt Carsten.

»Das fällt dir aber zeitig ein.«

»Das bringt doch jetzt nichts.«

»Wenn du dich ordentlich um mich gekümmert hättest, wäre das nicht passiert.« Inge schaut ihn immer noch nicht an.

Genervt blickt auch Carsten weiter in der Kantine herum. Seine Colaflasche steht noch neben dem Automaten am Eingang. »Es kann keiner etwas dafür, dass du gestürzt bist.«

»Doch«, sagt sie scharf.

»Gut, dann bin ich eben schuld«, ergibt sich Carsten. »Rückgängig machen kann ich es trotzdem nicht. Ich werde das Haus jetzt umräumen, damit so etwas nicht noch mal passiert. Das Bett kommt ins Erdgeschoss.«

»Du meinst doch nicht im Ernst, dass ich allein ins...
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Katja Schönherr, Jahrgang 1982, ist in Dresden aufgewachsen. Sie hat Journalistik und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig studiert sowie Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Ihr erster Roman "Marta und Arthur" wurde 2019 von der Presse hochgelobt. Er war in Deutschland für den Klaus-Michael-Kühne-Preis als bestes Romandebütnominiert und in Frankreich für den Prix Les Inrockuptibles als bestes ausländisches Buch. 2020 nahm Katja Schönherr am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil. Sie lebt als Journalistin und Schriftstellerin in der Schweiz. Der Kanton und die Stadt Zürich haben ihre Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet und gefördert.