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Spinnenpiñata

Hybrid Verlagerschienen am01.07.2022
Bei Tino Falke steht Vielfalt auf dem Programm. Seine Geschichtensammlung umfasst Texte von herzerwärmend bis verstörend, mal zuckersüß und lustig, mal schockierend und düster. 22 Kurzgeschichten in verschiedensten Genres laden zum Staunen, Schmunzeln und Schaudern ein. Ob realistisch oder phantastisch, im Kern beleuchten doch alle dasselbe: was in und zwischen Menschen vorgeht. Und bieten damit eine ganz besondere, kunterbunt gefüllte Piñata.

Tino Falke wurde 1988 in Rostock geboren, hat in Freiburg Neuere Deutsche Literatur, Kultur, Medien studiert und lebt in Hamburg, wo er im Korrektorat/Lektorat arbeitet. Nach dem Comiczeichnen in seiner Jugend fand er zum Schreiben. Entstanden sind seitdem Texte in vielen verschiedenen Genres - von Fantasy und Science-Fiction über Solar- und Steampunk bis Abenteuer und Horror, mit ein bisschen Slam Poetry, Romance und Ausflügen in der Nichtphantastik.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR16,90

Produkt

KlappentextBei Tino Falke steht Vielfalt auf dem Programm. Seine Geschichtensammlung umfasst Texte von herzerwärmend bis verstörend, mal zuckersüß und lustig, mal schockierend und düster. 22 Kurzgeschichten in verschiedensten Genres laden zum Staunen, Schmunzeln und Schaudern ein. Ob realistisch oder phantastisch, im Kern beleuchten doch alle dasselbe: was in und zwischen Menschen vorgeht. Und bieten damit eine ganz besondere, kunterbunt gefüllte Piñata.

Tino Falke wurde 1988 in Rostock geboren, hat in Freiburg Neuere Deutsche Literatur, Kultur, Medien studiert und lebt in Hamburg, wo er im Korrektorat/Lektorat arbeitet. Nach dem Comiczeichnen in seiner Jugend fand er zum Schreiben. Entstanden sind seitdem Texte in vielen verschiedenen Genres - von Fantasy und Science-Fiction über Solar- und Steampunk bis Abenteuer und Horror, mit ein bisschen Slam Poetry, Romance und Ausflügen in der Nichtphantastik.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783967411614
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum01.07.2022
Seiten288 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4052
Artikel-Nr.9802380
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Avalanche Rocks

Contemporary

 

Als wir die Achterbahn verlassen, erwartet uns ein defekter Eisbär.

Eigentlich sollte er uns anlachen, munter hin- und herwackeln und ein Lied singen, doch sein Kopf hängt antriebslos hinab, seine Augen starren ohne Ausdruck zu Boden. Der Animatronic, der hinter einem niedrigen Absperrgitter steht, ist nicht fröhlich heute, er ist kaputt innendrin. Ich kenne das Gefühl.

Während ich das reglose mechanische Tier noch immer ansehe, kehrt Janne schon mit unseren Fahrtfotos zurück. Alle in der Truppe stürzen sich auf ihre Abzüge. An jeder Attraktion mit Foto-Point kaufen sie die kleinformatigen Erinnerungen an Momente, in denen steile Abfahrten, enge Kurven oder besonders starke g-Kräfte ihnen die Endorphine ins Hirn getrieben haben. Auch ich bekomme eines der Bilder von uns, abwärts rasend nach dem ersten Looping der Snowplosion-Stahlachterbahn. Die meisten werfen die Hände in die Höhe. Ich bin die einzige Person auf dem Foto, die nicht einmal lächelt. Aber ich bin dem Coaster Club auch nicht beigetreten, um Spaß zu haben.

Die anderen lieben Vergnügungsparks, nichts in ihren Leben erfüllt sie mit mehr Freude. Als Hank heute zum Treffpunkt vor dem Eingang kam, trug er bereits Stempelabdrücke von drei anderen Parks auf dem Handrücken, die er am Vormittag besucht hatte. Auf Izumis Jeansjacke prangen Patches von allen Attraktionen, die solche Andenken verkaufen. Wenn die alte Meryem ihre Brieftasche öffnet, strahlt ihr nicht ihre Familie entgegen - auf den kleinen Schnappschüssen darin sehe ich VelociCoaster aus Universal´s Islands of Adventure und Steel Vengeance aus Cedar Point, Ohio. Was anderen Menschen nur ein gelegentlicher Ausflug in den Sommerferien wert ist, beschäftigt diese Truppe das ganze Jahr über. Nichts liegt näher, als einem Verein Gleichgesinnter beizutreten, mit denen man jeden freien Tag nutzen kann, um zu teilen, was man so liebt.

Nachdem wir die Fotos verstaut haben, drängen die ersten bereits zur nächsten Attraktion. Wir tragen besondere Armbänder, wie es sie in so vielen Parks gegen Aufpreis gibt. Sie erlauben es uns, die meisten Schlangen zu umgehen, also steht uns ganz Avalanche Rocks offen. Wir können gehen, wohin wir wollen.

»Worauf hast du denn Lust?«, fragt mich Izumi, und ich falte die Broschüre mit dem Lageplan des Parks auf. Einige der Fahrgeschäfte sind noch immer dieselben wie in meiner Kindheit, doch es gibt natürlich einiges Neues, das Geisterhaus Iglu des Grauens zum Beispiel, und den Top Spin Frostbite mit der sich überschlagenden Gondel. Aber solange wir einfach noch eine Weile bleiben, ist mir egal, was wir fahren. Hauptsache, die anderen wollen nicht plötzlich schon nach Hause, und wir vertreiben uns hier lange genug die Zeit, bis ich den Mut gefasst habe, meinen eigentlichen Plan in die Tat umzusetzen.

Ich sehe hinüber zu Hypothermia, wo gerade ein Zug voll schreiender Menschen durch einen der vielen Loopings rast. Die Stahlachterbahn ist die neueste Attraktion hier, ein hellblauer Koloss mit eingebauter Lichtshow. Wie alles im Park ist sie dem Thema Winter gewidmet. Eiszapfen aus transparentem Plastik hängen von den Dächern aller Imbisse. Die armen Angestellten tragen selbst im Hochsommer dicke Daunenjacken mit Pelzkragen. Und der Eisbär ist nicht das einzige mechanische Polartier, das hier für gute Laune sorgen soll.

Wir kommen an einem breit grinsenden Walross vorbei, das auf einem Podest neben einem Eisstand rhythmisch in die Flossen klatscht. Ich kenne es noch von meinem ersten Besuch. Als kleines Kind habe ich mich vor ihm gefürchtet, die hin- und herzuckenden Roboteraugen und die langen Stoßzähne waren mir nicht geheuer.

»Stell dich mal nicht so an«, habe ich noch die Worte meines Vaters im Ohr.

»So einen Schrott haben die hier?«, antwortete meine Mutter damals und wies auf die Stellen hin, an denen man das Metallskelett unter der Silikonhaut erkennen konnte.

Jetzt sehe ich dabei zu, wie lachende Kinder um das Podest laufen, während das harmlose, fröhliche Walross eines der Lieder singt, die im ganzen Park erklingen.

Wenn die Spaßlawine rollt, haut sie alle von den Socken!

Die Schneemänner tanzen! Die Schneeflocken rocken!

Eis ohne Ende und Action ohne Pause!

Wer nach Avalanche Rocks kommt, will niemals mehr nach Hause!

Wenn ich mir die anderen so ansehe, scheint das Tier recht zu haben. Begeistert machen Hank und Vicky ein Foto mit dem ewig applaudierenden Animatronic. Ein Teil der Gruppe berät, wohin es als Nächstes gehen soll. Sie sind alle lieber in Vergnügungsparks als daheim.

Ich weiß, dass Hank beim Kauf seines Hauses darauf geachtet hat, dass er das nächstgelegene Riesenrad sogar vom Garten aus sehen kann. Izumis Katzen sind nach ihren Lieblingsattraktionen benannt. Das Personal grüßt alle aus der Truppe mit Vornamen und spricht mit ihnen, als wären sie schon ewig befreundet. Ein Mitarbeiter flirtet mit Janne. Die Grenzen zwischen dem Leben außerhalb und innerhalb des Parks verschwimmen. Wenn sie hier wohnen könnten - ausnahmslos alle Mitglieder der Truppe würden es tun.

Es sind Semesterferien, also wohne ich aktuell bei meinen Eltern. Wie immer seit dem letzten Schultag bin ich zu Beginn der vorlesungsfreien Zeit direkt hingefahren, ganz wie es von mir erwartet wird. Ich habe den Abstellraum voller Kisten bezogen, der einst mein Kinderzimmer war, und darf mir jeden Abend am Esstisch anhören, in welchen Bereichen meines Lebens ich überall versagt habe. Ich bin alt genug, dass sie es nicht mal mehr zwischen den Zeilen verstecken.

Ich berichte, dass ich online ein paar nette Leute kennengelernt habe, die öfter gemeinsam Vergnügungsparks besuchen. Mom kommentiert als Antwort mein Gewicht, meine Haare, meine Kleidung, meinen Beziehungsstatus. Dad äußert sich zu meinem Studienfach, meinen Hobbys, meinen Zukunftsplänen. Sie ergänzen einander perfekt.

Die einzigen Fakten, die im Coaster Club zählen, sind die Zahlen und Daten der Fahrgeschäfte. Als wir an einem Stand neben der Achterbahn Sub-Zero Getränke kaufen und ein Gast hinter uns seiner Begleitung erzählt, dass der Zug bis zu 100 km/h schnell wird, kann Meryem nicht anders, als sich umzudrehen und ihn zu berichtigen, dass es 102,6 sind. Sofort ergänzt sie auch die Höhe und Länge der Strecke, und die anderen stimmen mit ein. Filippo nennt das Baujahr, Kaia und Vicky diskutieren die Beschleunigung. Wer auch immer sie jenseits des Parks sein mögen, was ihre Jobs sind und ihre Sorgen und Ängste - hier sind sie ganz in ihrem Element, sie lachen und teilen ihr Nischenwissen, und alle hören interessiert zu.

Fast schleicht sich ein Lächeln auf mein Gesicht, da sehe ich ein paar fröhliche Menschen in der Schlange der Attraktion, eine traditionelle Kernfamilie aus einem Elternpaar und zwei Kindern. Sie tragen blau-weiße T-Shirts mit dem Parklogo und Mützen aus dem Souvenirshop. Sie haben Spaß und freuen sich, dass sie miteinander Zeit verbringen. Von ihnen plant niemand heimlich, sich bei voller Fahrt aus dem Sicherheitsbügel des Sitzes zu winden und Dutzende Meter hinabzustürzen.

Manche Parks haben sogenannte Thrill Seeker wie unseren Club verbannt, weil es immer wieder Mitglieder gibt, die Vorschriften ignorieren, um sich ein besonders aufregendes Fahrerlebnis zu verschaffen. Das Ziel ist, möglichst viel Airtime zu haben - Sekunden, in denen man Schwerelosigkeit oder gar negative g-Kräfte spürt, weil man kurz von seinem Sitz abhebt. Seitdem es Achterbahnen gibt, werden immer mal wieder Gäste aus den Zügen geschleudert, und jedes Mal kommt auch die Frage auf, ob sie vielleicht absichtlich aufgestanden sind. Doch meist handelt es sich um tatsächliche Unfälle.

2010 öffneten sich auf der Boomerang-Achterbahn im kanadischen La Ronde die Bügel von vier Sitzen. Die Passagiere, darunter zwei 12-jährige Jungen, überstanden die Fahrt nur unverletzt, weil die Zentrifugalkraft sie bis zum Ende der Fahrt fest gegen ihre Rückenlehnen presste. Als Entschädigung wurden ihnen VIP-Pässe für den Park angeboten.

Was für viele nach blankem Horror klingt, wäre für die Truppe, mit der ich nun seit ein paar Wochen immer wieder unterwegs bin, eine Win-win-Situation. Nur brauchen wir keine Pässe, wir haben unsere Armbänder, um dank exklusiver Eingänge manche Attraktionen ohne Wartezeit zu erleben. Nachdem alle ihre Pappbecher geleert haben, manövrieren wir uns durch die Menschenmassen bis zum Geisterhaus.

Im Iglu des Grauens nehmen wir Platz in Schneemobilen, die durch verschiedene Räume mit Horrorszenarien fahren. Ich höre die anderen vor und hinter mir kreischen. Sie erschrecken, obwohl sie die Attraktion schon zahllose Male besucht haben. Falls auch hier drin ein Foto gemacht wird, werde ich wieder als einzige Person ausdruckslos schauen.

In einem Raum werde ich von einem zottigen Yeti angesprungen, der noch die blutigen Reste eines Bergsteigers im Gebiss und den Klauen hat. Doch ist das wirklich gruseliger als sich schreiend und weinend von innen gegen eine Kinderzimmertür zu pressen, während im Türspalt immer wieder die wutverzerrte Fratze des eigenen Vaters auftaucht, der einem zeigen will, was passiert, wenn man ihm noch mal so frech widerspricht?

In einem Raum schlurfen die Skelette erfrorener Seeleute auf mich zu, die in den Tiefen des Meeres verendet sind. Graue Fleischfetzen hängen ihnen von den Knochen, doch ich habe keine Angst. Der Anblick ist nicht schauriger als die eigene Mutter, die mit glasigen Augen und Fahne nachts im Türrahmen steht und lallt, dass es bei ihr bergab ginge, seitdem man geboren wurde, und...
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