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Der Übergriff

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
192 Seiten
Deutsch
Jung und Jung Verlagerschienen am22.09.2022
Eine Frau beginnt zu reden. Dabei sind ihre Lippen schon ganz spröde, so oft ist ihr über den Mund gefahren worden. Aber wie entkommt sie dieser Einschüchterung? Indem sie den Mund nur noch öffnet, um zu essen, zu küssen und zu staunen? Andererseits: Gibt nicht gerade das Schweigen der Stimme Raum, die ihr den Mund verbietet? Zu oft ist geschwiegen worden, auch damals, als das ganze Haus hörte, wie die Nachbarmädchen geschlagen wurden. Hat man die eigene Sprache verlernt, weil alle verlernt haben hinzuhören? Wie der Reporter, der nicht mehr hinhört, wenn er vom Krieg berichtet, so fest hat er jede Verzweiflung im Griff.

geboren 1947 in Trier, seit 1974 zahlreiche Veröffentlichungen, Theaterstücke, Gedichte, Hörspiele, Romane, Essays. Für ihre Romane »Shanghai fern von wo« (2008), »Landgericht« (2012) und »Geisterbahn« (2018) wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Joseph-Breitbach-Preis, dem Deutschen Buchpreis und dem Jean-Paul-Preis. Ursula Krechel lebt in Berlin.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR21,00
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
EUR16,99

Produkt

KlappentextEine Frau beginnt zu reden. Dabei sind ihre Lippen schon ganz spröde, so oft ist ihr über den Mund gefahren worden. Aber wie entkommt sie dieser Einschüchterung? Indem sie den Mund nur noch öffnet, um zu essen, zu küssen und zu staunen? Andererseits: Gibt nicht gerade das Schweigen der Stimme Raum, die ihr den Mund verbietet? Zu oft ist geschwiegen worden, auch damals, als das ganze Haus hörte, wie die Nachbarmädchen geschlagen wurden. Hat man die eigene Sprache verlernt, weil alle verlernt haben hinzuhören? Wie der Reporter, der nicht mehr hinhört, wenn er vom Krieg berichtet, so fest hat er jede Verzweiflung im Griff.

geboren 1947 in Trier, seit 1974 zahlreiche Veröffentlichungen, Theaterstücke, Gedichte, Hörspiele, Romane, Essays. Für ihre Romane »Shanghai fern von wo« (2008), »Landgericht« (2012) und »Geisterbahn« (2018) wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Joseph-Breitbach-Preis, dem Deutschen Buchpreis und dem Jean-Paul-Preis. Ursula Krechel lebt in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783990271919
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum22.09.2022
Seiten192 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1883 Kbytes
Artikel-Nr.9897935
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

2
DIE ÜBERTRETUNG

Dies war es, was meine Schuld ausmachte: meine Willigkeit, mein Einverständnis mit allem und nichts. Meine Willigkeit, mein Mangel an Willenskraft, der bestürzende Mangel, dem kein Gewinn in einer anderen Spalte gegenüberstand. (Meine Reiselust zählte nicht mehr.) Das Einverständnis war eine große Verbeugung gewesen, es hatte den Koffer vom Band genommen, es hatte einen Gepäckträger gefunden, letztendlich doch, es hatte ein Wägelchen ergattert, das knirschende, ratternde Wägelchen war an einen Taxistand gekarrt worden, ein Taxifahrer hatte den Koffer in den Kofferraum gehievt. Einen Augenblick bitte, einen Augenblick, das kannte der Fahrer, das Wägelchen wurde rasch zurückgeschoben, angekettet an andere Gepäckwagen, eine endliche Kette der Beteuerungen, hier herrscht Ordnung, werfen Sie Geld ein, und ein Markstück ist Ihnen gewiss, ja, so war es, ein Einverständnis mit allem und nichts, mit der bestehenden Flughafenordnung, Sie verlassen den Sektor der Gültigkeit Ihres Tickets, ohnehin eine papierene Angelegenheit, Sie verlassen den Sektor des Einverständnisses mit dem schon Bestehenden. Vor allem mit dem Schmerz, dem zugefügten und dem zuzufügenden. Dem Schmerz würde ein Schmerz folgen, dem Schmerz fehlte die Scherzhaftigkeit, die jetzt überall verlangt wurde. Jemand hatte einen kleinen Kassettenrecorder auf den Vorplatz gestellt, in die Nähe des Taxistandes gestellt, aus dem bellte eine Lachsalve, eine zweite wurde darüber geschüttet, dann polterte eine dritte. Ein junger, dürrer Mann mit schütterem Haarflaum stand neben dem Kassettenrecorder und hielt eine Mütze in der Hand, in der ein paar Münzen lagerten. Jetzt wird dem fremden Lachen Tribut gezollt, und wer nicht selbst lacht, zahlt. Ich war nach Hause gefahren, hatte die Tür aufgeschlossen, ich hatte keinen Raum, in dem der Schmerz getrennt von mir aufbewahrt werden konnte. Ich dachte über den Schmerz nach, den ich augenblicklich nicht fühlte, also war das Nachdenken müßig, alles hatte seine Ordnung, das Ankommen war ein Öffnen und Schließen, das Ankommen war ein Einverständnis, dem ich vollkommen, ja bestürzend vollkommen gewachsen war. Das Ankommen brauchte mich nicht, es war da, ohne dass ich es beaufsichtigen musste, ich konnte mich wieder entfernen, ich wollte mich wieder entfernen, ohne angekommen zu sein.

Es ist die Zeit, in der draußen plötzlich ein Knirschen und Reißen zu hören ist. Eine trockene Ernüchterung, die ich am Anfang dieser Zeit nicht verstand. Ganz anders als das Ohrfeigengeräusch, das ich noch manchmal hörte. Doch das trockene Knirschen und Reißen hatte es überlagert. Ich sah dann halbstundenlang aus dem Fenster, an Zeit mangelte es nicht, ich sah auf die handgroßen Blätter des Baumes mit ihren kräftigen Rippen, die Blätter bewegten sich gegeneinander, zitternd schoben sie sich übereinander. Flecken von Licht zwischen den Schichtungen des Grüns. Ich hatte viel Zeit, dieses viele Grün vor dem Fenster zu betrachten. Oder besser: ich nahm mir aus einer unbegrenzten Menge Zeit, dem leisen Rauschen der Blätter zuzuhören, bis ich glaubte, auch das Knirschen und Reißen zu verstehen. Ich sah hinaus und sehe immer noch, wie die dünne, trockene Rinde am Stamm einer Platane in armlangen, gebogenen Streifen abspringt, darunter eine hellgrüne, frische Baumhaut, ein frühes Grün im späten Sommer. Wenn der Wind gleichzeitig die Blätter rauschen läßt, klingt das Abspringen der Rinde wie ein mürbes Gelächter, wie eine unstatthafte Anwesenheit, jemand macht ein Geräusch, ein knirschendes Naturgeräusch, und entzieht sich allen Weiterungen. Der Hof ist schon übersät mit den Abschilferungen der Platane. Es ist doch erst Ende August, und nur die Sommertrockenheit hat die Rinde zum Platzen gebracht. Ich gehe dann hinter das Haus und wate in dünnen, trockenen Platanenrinden wie im Herbstlaub, tatsächlich, ich wate, es ist alles wahr, was ich schreibe, es wird alles wahr, nur die Zeit verschiebt sich. In keinem anderen Sommer habe ich dieses Geräusch gehört, vielleicht habe ich auch in keinem anderen Sommer in so großer innerer und äußerer Nähe zu einer Platane gewohnt. Vielleicht habe ich überhaupt nicht gewohnt, sondern nur gelebt. Ich schreibe dies auf einem lodengrünen Diwan in einem kleinen, ruhigen Zimmer, ich blicke einerseits auf meinen nicht übermäßig großen Notizblock, den ich mit meiner auch für mich schwer leserlichen Schrift fülle. Wenn ich aufblicke, sehe ich links im Fensterausschnitt die große Platane, rechts vom Fenster einen blau gestrichenen Schrank, in den ich ein paar Gegenstände aus meinem Koffer geräumt habe. Ich bin im Haus des Visitenkartenbesitzers, ich habe mich mit ihm getroffen, und ich bin zu ihm gekommen, als er mich darum bat. (Am Ende einer kleinen Schamfrist natürlich. Nicht dass die Schamfrist aus Scham bestand, eher aus Konvention.)

Nach Liederbach also! Wie kommt man nach Liederbach? Man muss einen krähenden Sopran haben, einen Sopran, der die Dunstglocke nicht scheut, immer höher hinauf, immer luftiger, immer luftschnappender. Am besten entfaltet sich die schöne Stimme im Verein mit anderen Stimmen. Man nimmt die Vorortbahn, begibt sich auf den letzten, der Flussseite abgewandten Bahnsteig. Schüler, Rentnerinnen und zwei alte Leute mit Koffern und Taschen und verschnürten Plastikbündeln, die Frau mit einem Kopftuch, der Mann mit einem winzigen, speckigen Hut, der nur einen Bruchteil seiner Kahlheit bedeckt, warten auf dem Bahnsteig. Dass das Wort Mütterchen jeder Zärtlichkeit entkleidet ist. Nicht einmal ein alter speckiger Männerhut wärmte es. Der Mann, an dem das Wort Väterchen abprallt wie an einer Holzschindelwand, hat einen Zettel mit dem fettgedruckten Wort Caritas in der Hand, es ist die rettende Adresse in der Fremdheit. Er hält den Zettel so, dass er ihn sogleich dem Schaffner oder einem routinierten Fahrgast zeigen kann. Ja, das ist die richtige Richtung. Nur drei Stationen. Genau betrachtet, denn die wenigen Fahrgäste hätten genügend Zeit, einander zu betrachten, die anderen genau in Augenschein zu nehmen. Aber lieber starren sie Luftlöcher ins Abteil. Genau betrachtet ist die Hand mit dem Zettel eher eine abgearbeitete Faust. Die alten Leute sprechen untereinander ein rollendes, krächzendes Deutsch, holzgeschnitzte Raben aus einer aussiedelnden Welt, die Türen hinter sich verrammelt, nach ihnen wird nichts kommen. Nichts, aber nicht niemand. Und hier sollen sie sich ansiedeln zu einem frühen Winterquartier.

Da kommt eine rotsilbern gestreifte Bahn, sie ist einem alten Triebwagen nachgebildet, Türen gleiten silbervogelhaft beiseite, das Türengleiten ist ein Werbefilm, ungeschnitten, ein wenig zu lang, die Sitze sind unbenutzt, unzerschlitzt, unbeschmiert, aus lilafarbenem Plüsch. Es dauert seine Zeit, bis die beiden alten Leute ihre Koffer und Taschen und Plastikbündel in das Abteil gehievt haben. Das Bähnchen ist alphabetisiert, es trägt im Gegensatz zu den S-Bahnen, die alle eine Nummer haben, den Buchstaben K auf seiner glatten Stirnfront. Die schmalen Flanken sind gewölbt, geriffelt wie Wellblech, stromlinienförmig schmiegt es sich an den Fuß des Gebirges, steigt den Hügel hinauf, steigert und steigert sich, aber es ist nicht weit nach Liederbach. Das Lied will nicht auf die Lippen, bleibt im Kopf eingesperrt. Das Bähnchen ruckelt zuerst ein paar Villenstraßen hinauf, in denen höchste Direktoren wohnen, leckt an den Gartenzäunen. Laub fällt, Damen, die beiläufig eine Schürze umgebunden haben, zeigen, dass sie wegen ihrer angestammten Feinheit das Schürzentragen nicht eigentlich beherrschen, eine Flüchtigkeit ist ihnen anzumerken, nur nachlässig ist der Knoten im Rücken geknüpft, wo schlichtere Frauen eine adrette Schleife binden. Sie tüpfeln mit einem Reisigbesen über Treppenstufen. Die Lindenblüten aufkehren - so kann man diese Tätigkeit nicht nennen. Eher: ihren Besitz zeigen, zu dem auch ein paar Bäume gehören, Laubbäume, keine Nadelbäume. Die Nadel gehört ins Haus, weihnachtet oder längt sich an langen Abenden zur maschenhebenden Stricknadel. Hölzchen und abgefallene Blätter, die ein wenig zur Ordnung gerufen werden müssen, Blätterhäufchen, Kompostbeilagen, die in einer großen Kiste ihrer Verwandlung durch Modern entgegensehen, Kunstwerke der Maden.

Die alten Leute schauen ihre neue Heimat nicht an. (Ich schaue probehalber für sie.) Sie zählen die Gepäckstücke, alles ist noch beisammen. Sie müssen ihre Gedanken beisammenhalten. Hinter den Villenstraßen wird es öde. Bauerwartungswiesen, ein wenig Kleinindustrie. Alles sieht so aus, als wäre es erst in den letzten zehn Jahren gebaut worden. Alles sieht so aus, als könnte es in zehn Jahren wieder abgerissen werden für wieder schönere, zeitgemäßere, buntere...
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Autor

Ursula Krechel, geboren 1947 in Trier, veröffentlicht seit 1974 Gedichte, Romane, Essays, Theaterstücke, Hörspiele. Für ihre Romane Shanghai fern von wo (2008), Landgericht (2012) und Geisterbahn (2018) wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Joseph-Breitbach-Preis, dem Deutschen Buchpreis und dem Jean-Paul-Preis. Sie lebt in Berlin.