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Überall Nachbarn

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
272 Seiten
Deutsch
BeBra Verlagerschienen am10.10.2022
Björn Kuhligk hat sich aufgemacht, auf dem Mauerweg das alte West-Berlin zu umrunden. Unterwegs auf der 160 Kilometer langen Strecke erinnert er sich an seine Erlebnisse in der geteilten Stadt, an Gummitwist bei Regen, an Fahrradtouren am Wannsee. In Gesprächen mit radelnden Rentnern, engagierten Schriftstellern und redseligen Currywurstverkäufern erfährt er mehr über eine Stadt, die es nicht mehr gibt, ihre Bewohner und die Grenze, die sie umgab. Eine Lektüre voller Witz und zugleich ein literarischer Begleiter für alle Berliner und Neugierigen.

Björn Kuhligk, Jahrgang 1975, ist Schriftsteller und Buchhändler. Von 2006 bis 2009 leitete er die Schreibwerkstatt »open poems« am Haus für Poesie und von 2015 bis 2017 das Lyrik-Schreibzimmer am Literaturhaus Frankfurt. Ausgezeichnet wurde er u. a. mit dem Kunstpreis Literatur der Lottostiftung Brandenburg und mit dem Arno-Reinfrank Literaturpreis. Björn Kuhligk schreibt regelmäßig Glossen und literarische Reportagen für 'zeit online', 'taz' und 'Das Magazin'. Seit 2021 studiert er an der Ostkreuzschule für Fotografie.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR17,99

Produkt

KlappentextBjörn Kuhligk hat sich aufgemacht, auf dem Mauerweg das alte West-Berlin zu umrunden. Unterwegs auf der 160 Kilometer langen Strecke erinnert er sich an seine Erlebnisse in der geteilten Stadt, an Gummitwist bei Regen, an Fahrradtouren am Wannsee. In Gesprächen mit radelnden Rentnern, engagierten Schriftstellern und redseligen Currywurstverkäufern erfährt er mehr über eine Stadt, die es nicht mehr gibt, ihre Bewohner und die Grenze, die sie umgab. Eine Lektüre voller Witz und zugleich ein literarischer Begleiter für alle Berliner und Neugierigen.

Björn Kuhligk, Jahrgang 1975, ist Schriftsteller und Buchhändler. Von 2006 bis 2009 leitete er die Schreibwerkstatt »open poems« am Haus für Poesie und von 2015 bis 2017 das Lyrik-Schreibzimmer am Literaturhaus Frankfurt. Ausgezeichnet wurde er u. a. mit dem Kunstpreis Literatur der Lottostiftung Brandenburg und mit dem Arno-Reinfrank Literaturpreis. Björn Kuhligk schreibt regelmäßig Glossen und literarische Reportagen für 'zeit online', 'taz' und 'Das Magazin'. Seit 2021 studiert er an der Ostkreuzschule für Fotografie.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783839341407
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum10.10.2022
Seiten272 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4650 Kbytes
Artikel-Nr.9951658
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Von Gropiusstadt nach Teltow

Links ist Brandenburg. Der Blick geht durch zwei Baumreihen über Felder in die Ferne und sucht den Horizont. Rechts ist Berlin, Asphalt und Beton und Stadtbäume und zu wenige Menschen, die sie gießen. Links Brandenburg, rechts Berlin, links Felder, rechts Stadt. Links steht, ein paar hundert Meter entfernt, der SkyPoint, der tatsächlich so heißt. Es ist ein mit Gras bewachsener Hügel, der aus 4,5 Millionen Tonnen West-Berliner Hausmüll besteht, der Anfang der Siebzigerjahre über einen speziellen Grenzübergang nach Großziethen gebracht wurde. Ich sehe zwei Gestalten, die den Hügel hinauflaufen, und oben angekommen auf der platten Kuppe, es scheint dort sehr windig zu sein, strecken sie, voneinander Abstand haltend, ihre Arme seitlich aus und bleiben eine Weile so stehen.

Ein halbes Jahr später werde ich auf den SkyPoint steigen, weil mich der Anblick nicht losgelassen hat. Die Sicht ist gut und der Blick geht weit über die Stadt, da ist der Fernsehturm, da ist die weiße Kuppel des Radarturms auf dem Tempelhofer Feld, weiter links müsste irgendwo der Bierpinsel sein. Ich entdecke ihn nicht, vielleicht ist er auch nicht hoch genug. Der Bierpinsel war so etwas wie das geheime Wahrzeichen West-Berlins, zumindest im Süden, mindestens in Steglitz, auf jeden Fall in der Schloßstraße. Ganz sicher ist er noch immer eines der merkwürdigsten Bauwerke der Stadt. 1976 als »Turmrestaurant Steglitz« eröffnet, was auch sicherlich kein allzu attraktiver Name war, verpasste der Volksmund diesem neuen Wesen den Berolinismus »Bierpinsel«, weil er wohl ein bisschen aussieht wie ein Rasierpinsel. Eigentlich, finde ich, und ich komme oft an ihm vorbei, sieht er aus wie ein Baum, ein mittlerweile rot angestrichener Baum. Doch ist er nur ein 47 Meter hoher Turm, auf den ein mehreckiger, vier Stockwerke hoher Bau gesetzt wurde, seitlich verläuft ein offenes Treppenhaus. In dem Turm befindet sich ein Fahrstuhl. Der Bierpinsel ist direkt an eine Brücke gebaut worden, die über die Schloßstraße, eine Einkaufsstraße, führt. Kurz nach der Fertigstellung stand das Gebäude erst mal leer, dann wechselten in fröhlicher Regelmäßigkeit die Restaurants, Bars und Diskotheken. Heute steht der Bierpinsel wieder leer. Er gehört zu den Landmarken von Steglitz. Sollten Sie sich also irgendwann mit Ihrem Luftschiff oder Ihrer Cessna verflogen haben und am Horizont etwas sehr Absurdes sehen, wissen Sie, wo Sie sind.

Mein Blick geht weiter über die Stadt, da sind die Antennenkuppeln auf dem Teufelsberg, und je länger ich hier oben stehe, desto großartiger erscheint mir dieser Ort. Ich bin nun seit meiner Entdeckung dieses Hügels einige Male hier gewesen, auch bei Regen, auch bei Wind, habe die Kinder hochgescheucht, habe in die Sonne geschaut, habe den Hügel umrundet, bin an ihm mit dem Fahrrad vorbeigefahren, weiter Richtung Süden. Ich sah die weidenden Rinder und den Raps zwischen dem Hügel und Gropiusstadt wachsen, den Raps irgendwann blühen und die Rinder nicht. 1987 entstand zur 750-Jahr-Feier Berlins ein Lied, durch das ich Gropiusstadt kennenlernte, zumindest vom Namen her. Die Musiker U.W.A. Heyder und Rainer Konstantin sampelten Originaltöne von John F. Kennedy, Willy Brandt, Ernst Reuter und Walter Ulbricht zu einem eingängigen Beat mit eingängiger Melodie. Den Refrain

 

Berlin Berlin, hey

Dein Herz kennt keine Mauern!

Berlin Berlin, hey

Du bist kein Tabu!

 

Berlin Berlin, hey

Es gibt nichts zu bedauern!

Berlin Berlin, hey

Bei einem Rendezvous!

 

sang der Kinderchor »Die Gropiuslerchen«. Das »Hey« am Ende jeder zweiten Zeile wurde nicht gesungen, es wurde gerufen, geschmettert. Hey, Berlin, da biste und wir auch, gar nicht schlecht, hey, kann man nicht meckern, hey, alles irgendwie gut hier, hey. Jeder in West-Berlin kannte dieses Lied, es lief im Radio hoch und runter. Die Gropiuslerchen, natürlich, kamen aus Gropiusstadt. Beim Anblick dieser Häuser, die steil hinaufragen, kann ich mir nur allzu gut vorstellen, dass jemand, der dort wohnt, schon aus Notwehr eine schöne Stimme haben muss. Die Gebäude, und mit ihnen die gesamte Großraumsiedlung, sehen grob aus, brutal, Plattenbau, alles eng an eng wie aus der sozialen Klischeekiste. Es ließe sich das Bonmot des Dramatikers Heiner Müller anwenden: »Fickzellen mit Fernheizung«. Außerdem kenne ich die Gropiusstadt aus dem Buch »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« als Wohnort von Christiane F. Da in West-Berlin der Wohnraum knapp war, beauftragte der Berliner Senat Walter Gropius 1959 mit der Planung und Entwicklung einer Satellitenstadt. 16â400 Wohnungen in höchstens fünfstöckigen Gebäuden, weiträumige Erholungs- und Grünflächen und Platz für den Einzelhandel waren zwischen den Gebäuden geplant. Als 1961 die Mauer erbaut wurde, spitzte sich die Wohnraumnot in West-Berlin weiter zu und so entschied sich der Senat für eine raumdeckende Bebauung des Stadtteils. Ausführender war der deutsche Architekt Wils Ebert, auf dessen Entscheidungen Gropius, der in den USA lebte, nur noch wenig Einfluss nehmen konnte. Nunmehr wurden 19â000 Wohnungen gebaut. Der höchste Gebäudekomplex, das sogenannte »Ideal-Haus«, wurde dreißig Etagen hoch statt der von Gropius geplanten fünf Stockwerke. Es ist mit knappen neunzig Metern noch immer eines der höchsten Wohnhäuser Deutschlands. Es muss äußerst merkwürdig gewesen sein, bis 1989 in einer dieser Wohnungen gewohnt zu haben, mit dem stetigen Blick auf den Todesstreifen. Kurz nach dem Aufstehen, noch vor dem ersten Kaffee oder zwischen zwei Brötchen, explodiert auf dem Todesstreifen ein Kaninchen, das eine der zahlreichen Tretmienen berührt hat.

Linkerhand, zwischen den Ausläufern von Gropiusstadt, durch die ich nun fahre, befindet sich eine baumlose, nach dem Mauerfall aus dem Boden gestampfte Siedlung. So wie in Leo Tolstois Roman »Anna Karenina« alle glücklichen Familien einander gleichen, gleicht hier ein glückliches Haus dem anderen. Jede Familie blickt auf von Gras überwachsene 4,5 Millionen Tonnen West-Berliner Hausmüll. Die Siedlung sieht künstlich aus, umgeben von Karst, wie eine vom Himmel gefallene Ferienanlage, irgendwo im Süden, an irgendeiner Riviera, ein Aufenthalt für eine Woche, gewonnen im Internet, Verpflegung 500 Euro extra, außerhalb der Anlage ist alles feindlich, die Sprache anders, der Bus fährt ein Mal am Tag, drei Getränke-Bons gratis. Ein Stück weiter weht auf einem Eckgrundstück an der Ringslebenstraße eine Deutschlandfahne, deren Farben ausgeblichen sind und die nunmehr das Gegenteil von dem mitteilt, was sie wohl eigentlich mitteilen soll. Wieder entdecke ich einen Hertha-BSC-Aufkleber an einem Laternenmast, wieder ein Stromkasten mit »HBSC«. Noch nie habe ich so viel Fußballbegeisterung gesehen. Oder ist die ganze Stadt damit voll und ich merke es nur nicht, und hier, wo ich mich nun bemühe, mit allen Sinnen wahrzunehmen, offen zu sein, durchlässig, alles an mich heranzulassen, und in diesem Fall auch Hertha BSC, vielleicht bemerke ich es erst jetzt? Als Werder Bremen-Fan ist das gar nicht so einfach. Hier, im Süden Berlins, wo der Landkreis Dahme-Spreewald beginnt, unweit der Türme der Gropiusstadt, braucht man eben Hertha BSC, man braucht griechisch anmutende Hauseingänge oder Haciendas, oder was man dafür hält, in Kleinformat. Dann wieder eine Deutschlandfahne, diesmal in klaren Farben. Rechts, nachdem ich den Buckower Damm gekreuzt habe, ein Feld. Am Rand des Mauerwegs liegen von Kindern bemalte Steine über eine Strecke von dreißig Metern, auf einem steht »Bleibt gesund!« Ein am Ende der Strecke errichtetes Schild bittet darum, die Steine liegen zu lassen, und wer will - auch Erwachsene dürfen -, kann einen Stein bemalen und ihn dazulegen.

 


In Rudow, kurz vor Gropiusstadt


 

Mir kommen Jogger in Sportmontur entgegen. Eigentlich müsste es genügen, sich Schuhe und Kleidung anzuziehen und loszulaufen, doch diese Männer hier haben sich Gurte angelegt, die auf einem Abstand von zehn Metern wie Patronengurte aussehen, in denen Fitnessriegel und kleine Flaschen stecken. Sie bewegen sich in einem Tempo, in dem man auch spazieren gehen könnte, und in ihren Gesichtern und an ihren Körpern zeichnet sich ab, womit sie sonst ihr Leben verbringen, und dazu gehört nur selten eine solche Tätigkeit. Es ist absurd, das kleine bisschen Sport mit der großen Ironman-Ausrüstung zu wollen. Als stünde ein Kassierer in einem Smoking hinter der Kasse. Aber ich bin ebenso ein Stümper, einer, der in Jeans und Turnschuhen bei über 30 Grad Celsius eine Tagesfahrradtour in der Sonne macht. Ich fahre über eine Sand- und Schotterpiste und hinterlasse eine Wolke aus Staub, die sich nur langsam legt. Rechterhand öffnet sich eine große Wiese, mitten auf dieser Wiese steht ein nackter Mann und macht eine Yoga-Übung. Ich muss an den Elternabend denken, bei dem jemand vorschlug, mit den Kindern im Sportunterricht Yoga zu machen. Die Klassenlehrerin stellte die Idee zur Diskussion. Ein Vater meldete sich zu Wort und sagte nur den Satz: »Mein Kind macht kein Yoga«, und das Thema war beendet.

Weiter nach Süden, den Töpchiner Weg entlang. Da ist die Kammbergstraße und da ist die Bushaltestelle, die Kammbergstraße heißt. Eine Gruppe Mädchen kommt mir entgegen, eine von ihnen trägt ein T-Shirt, auf dem...
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Autor

Björn Kuhligk, Jahrgang 1975, ist Schriftsteller und Buchhändler. Von 2006 bis 2009 leitete er die Schreibwerkstatt »open poems« am Haus für Poesie und von 2015 bis 2017 das Lyrik-Schreibzimmer am Literaturhaus Frankfurt. Ausgezeichnet wurde er u. a. mit dem Kunstpreis Literatur der Lottostiftung Brandenburg und mit dem Arno-Reinfrank Literaturpreis. Björn Kuhligk schreibt regelmäßig Glossen und literarische Reportagen für "zeit online", "taz" und "Das Magazin". Seit 2021 studiert er an der Ostkreuzschule für Fotografie.