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Wo ist Süden?

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
128 Seiten
Deutsch
Baltrum Verlag Gbrerschienen am10.10.2022
Unsere Autor*innen erzählen in dieser Sammlung Geschichten rund um das Meer und die See. Geschichten zum Lesen oder Vorlesen für Kinder zwischen 6 und 10 Jahren. Geschichten voller Fantasie, Humor und auch zum Nachdenken.mehr

Produkt

KlappentextUnsere Autor*innen erzählen in dieser Sammlung Geschichten rund um das Meer und die See. Geschichten zum Lesen oder Vorlesen für Kinder zwischen 6 und 10 Jahren. Geschichten voller Fantasie, Humor und auch zum Nachdenken.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783910388130
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum10.10.2022
Seiten128 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.9952595
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Versteckspiel

Ramona Elena Herbst

 

Ohne sich umzusehen, sprintete er den Flur hinunter. Sein Atem ging flach und das Seitenstechen wurde schmerzhafter, als er die schweren Schranktüren von innen zuzog. Keuchend presste er die Hand gegen die Rippen und schwor sich im selben Atemzug, ab diesem Moment keinen Ton mehr von sich zu geben. Sein Herz pochte so laut, dass er fürchtete, es würde sein Versteck verraten. Zähl bis dreißig, ermahnte er sich selbst in Gedanken und schloss die Augen. Der Schmerz in seiner Seite pulsierte und wollte nicht schwächer werden.

Eins. Angestrengt versuchte er, seine Atmung zu verlangsamen.

Zwei. Vor seinen Augen flimmerten bunte Punkte, das Blut rauschte in seinen Ohren.

Drei. Jeder Muskel in seinen Körper schien angespannt.

Vier. Ein- und Ausatmen, erinnerte er sich gedanklich. Erst Einatmen, dann ausatmen.

Fünf. Gleichmäßig atmen. Einatmen, ausatmen.

Sechs. Sein Herzschlag klang in seinen Ohren.

Sieben. Da war ein Geräusch in der Stille, er war sich sicher. Unmittelbar hielt er den Atem an. Konzentriert lauschte er. Plötzlich waren seine Sinne geschärft. Das Zählen war vergessen. Die Finsternis des Schrankes schien ihn zu beobachten. Da war es wieder. Das Kratzen, das Schlürfen, dann das quietschende Geräusch, das er zu gut kannte. Die Schlafzimmertüre war geöffnet worden.

»Gleich hab ich dich.« Die Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Sein Herz schien still zu stehen und der Augenblick schien sich auszudehnen, fast ewig zu dauern. Die Stille war unerträglich.

Urplötzlich und mit einem Ruck flutete grelles Sonnenlicht den Kleiderschrank. Für den Bruchteil einer Sekunde war sein Körper wie festgefroren, so plötzlich kam alles.

»Wieder gefunden! Komm schon Noah, so langsam wird es doch langweilig.« Auf dem faltigen, von weißen Bartstoppeln überzogenen Gesicht ruhte ein warmes Lächeln, das die rehbraunen Augen in tiefe Lachfalten legte.

»Als ich in deinem Alter war, hätte ich den Tag liebend gern am Meer verbracht.« Über seine Pupillen zuckte ein neckisches Zwinkern. »Und nicht damit, meinen Großvater durchs Haus zu hetzen, beim Versteckspiel«, fügte er hinzu.

Trotzig presste der Junge die Lippen aufeinander.

»Am Strand ist Lukas.« Die Antwort fiel knapp aus.

»Er ist ein netter Bursche, komm schon. Versuch's mal, ihr freundet euch vielleicht an. Und wenn nicht, dann bin ich immer noch da. Ich lauf nicht weg«, er lachte und bewegte den Rollstuhl ein paar Zentimeter in Richtung des Kleiderschrankes. Doch der Schatten, der über seine Augen huschte, entging Noah nicht. Etwas Schweres breitete sich in seiner Magengrube aus. Das Gespräch war das vierte dieser Art seit gestern Abend. Er seufzte.

»Im Leben geht's um Chancen. Also gib ihm ne Chance. Ich stell deine Stoppuhr. Zwei Stunden, was denkst du?«

»Zwei Stunden?«, trotzig lehnte der Junge den Kopf gegen die Schrankwand, noch immer kauerte er hinter den herabhängenden Hemden seines Großvaters.

»Eine?« Das Verhandeln hatte Noah von seinem Vater gelernt und dieser wahrscheinlich wiederum von seinem eigenen. Der alte Mann schmunzelte. »Einigen wir uns auf anderthalb?« Widerwillig überlegte Noah, doch Verhandeln hieß auch, einen Kompromiss zu finden.

Keine Antwort war wohl Antwort genug. »Komm her, ich stell dir deine Armbanduhr. Wenn sie klingelt, bist du erlöst«.

»Aber keine Sekunde länger«, überprüfend schaute Noah zu.

90 Minuten. Noah seufzte leise. Das war eine lange Zeit. Doch er wollte nicht, dass sein Großvater ihn für stur oder eigensinnig hielt, deshalb ließ er zu, dass er ihn hinaus auf die Terrasse scheuchte.

Die Sonne blendete und trieb ihm kurz die Tränen in die Augen. Sie stand senkrecht am Himmel und der klare, wolkenlose Himmel zog sich hell und endlos dahin. Fast lauernd glitt sein Blick zu seinem linken Handgelenk.

88 Minuten. Mürrisch knirschte er mit den Zähnen.

Der Garten war von Büschen und Sträuchern gesäumt, doch ein schmaler Weg führte in Richtung Strand. Er kannte ihn gut und seine Schritte gingen wie von allein. Nur kurz hielt er inne, um über die Schulter zurück zum Haus zu blicken. Sein Großvater nickte und lächelte bestärkend, dann verschwand er hinter den Vorhängen, die die Terrassentüre säumten.

87 Minuten. Noah wollte am liebsten allein in Richtung Meer, den Sand zwischen den Zehen spüren und den Wind in den Haaren. Er wollte, wenn er schon nicht im Haus sein konnte, von der Ferne träumen, Muscheln und Steine suchen, die ihm ihre Geschichten erzählten. Er seufzte. Doch zur Abmachung gehörte Lukas.

Lukas, Sohn seines Onkels und damit sein Cousin, elf Jahre alt, also ein Jahr jünger als er selbst und ein reicher Schnösel. Seine Eltern besaßen eine Bibliothek und alles, was Noah sich wünschte, besaß Lukas.

Noah biss die Zähne aufeinander und starrte auf die eingebaute Stoppuhr in der Armbanduhr.

86 Minuten. Na toll!

Für Umwege war Noah zu ehrlich und so folgte er dem Pfad, der schon bald in einen Strandweg überging, das Holz des Steges polterte unter seinen Schritten und schon sprang der Labradorwelpe auf ihn zu. Schwanzwedelnd begrüßte er den missmutigen Gast und so sehr Noah auch dagegen ankämpfte, ein kleiner Teil seiner schlechten Laune fiel von ihm ab. Keiner konnte Balu widerstehen, wenn er den Kopf schief legte und die feuchtnasse Hundeschnauze sanft, aber bestimmt gegen die Schienbeine drückte. Komm spielen, wollte er wohl sagen. Seine braunen Knopfaugen glänzten besänftigend.

In Noah regte sich ein Funke Freude, doch trotzig versuchte er ihn sofort im Keim zu ersticken. Balu gehörte Lukas. Und Lukas mochte er nicht.

85 Minuten. Lustlos kaute er auf seiner Lippe und näherte sich zögerlich. Er wollte nicht schon wieder seufzen, tat es aber trotzdem.

Lukas lag bäuchlings auf einer gemusterten Picknickdecke aus Wollfasern, die blonden Locken kräuselten sich unter einer Schildmütze mit Markenlogo. Das war typisch. Noah rollte die Augen. Doch sein kleiner Cousin war viel zu abgelenkt, um es zu bemerken. Aufmerksam studierte er ein Stück Papier, das vor ihm auf der Decke lag. Balu streckte sich im Sand aus, während sich in Noahs Kopf einfach keine Worte finden konnten. Was sollte er sagen?

»Eine Schatzkarte«, nahm sein Cousin ihm die Begrüßung ab.

»Was?« Das heißt 'wie bitte', eine freundliche Begrüßung bricht das Eis, Höflichkeiten sind wichtig - alles, was seine Eltern ihm beigebracht hatten, schien vergessen.

»Eine Schatzkarte. Zu 'ner Schatzinsel«, wiederholte der blonde Junge, dessen Blick gefangen schien. Er hatte nicht einmal aufgesehen, seit Noah zu ihm getreten war. Dieser ließ sich ungebeten auf die Picknickdecke fallen. »Zeig her«, mitten in der Bewegung bemerkte er die Unhöflichkeit und vollführte nur ein zaghaftes Ziehen an der Schatzkarte, sodass sie etwas zu ihm hin ausrichtete, jedoch sonst nichts weiter bewirkte. Tatsächlich! Eine Schatzkarte!

Lukas nahm ihm seinen Eifer nicht übel. Zum Glück.

»Hab sie in 'nem alten Buch gefunden, bei Großvater im Arbeitszimmer« Er meinte es sicher gut, doch dafür kassierte er einen scharfen Seitenblick. Das Wort Großvater aus seinem Munde zu hören, ließ eine Welle des Zornes in Noah aufsteigen, schließlich war er der Einzige, der regelmäßig vorbeikam. Er und seine Eltern waren im Krankenhaus gewesen, hatten nach der Operation alles organisiert, alles rollstuhlgerecht gemacht. Welches Recht hatte Lukas, ihn so zu nennen?

»Um zur Insel zu kommen, gibt es hier die erste Etappe. Finde M. Wer oder was könnte M. sein?« Der Strandabschnitt war auf altes Papier skizziert, eine dunkle Linie zog sich am Sandstrand entlang, bog dann am schnörkeligen Schriftzug Finde M. in Richtung Meer ab, verlief mitten in den Ozean, ein Kreuzchen lag auf einer Insel, deren Umriss bröckelig und verschlissen eingezeichnet war, und am Ende der Linie stand: Finde die Initialen. Finde den Schatz.

Noah stutzte. Das Papier lag hart unter seien Fingerspitzen, doch es schien brüchig, fast ein bisschen modrig.

»Den Strand runter, Richtung Städtchen?«, er wusste keine bessere Antwort. Wer oder was auch immer M. war, es gab keine nähere Beschreibung, keine Erklärung, keinen Hinweis.

Lukas stand auf und im selben Moment sprang Balu auf, in seinen Augen lag ein freudiger Glanz, er schien das Abenteuer zu wittern. Kommt spielen, wollte er wohl sagen.

Doch für ein bloßes Spiel war die Karte zu alt und zu geheimnisvoll. Während Lukas die Decke ausschüttelte und sie sich über die Schultern hängte, nahm Noah das Papier unter die Lupe. Die Erklärung seines Cousins, dass die Decke mitkäme, denn um sie zurückzubringen, fehle die Zeit, bekam er nur auf einem Ohr mit. Das andere war taub für die Welt um ihn, so sehr versank er in den filigranen Linien auf dem alten Papier. Gegen das Sonnenlicht gehalten, war es fast durchscheinend, die Schrift fein in die Fasern gedrückt, fast kunstvoll, fast vergessen lag sie ausgeblichen und in unterschiedlicher Intensität in seinen Händen.

Etwas Feuchtes berührte sein nacktes Schienbein, augenblicklich zuckte Noah zurück, braune Knopfaugen blickten ihm erwartungsvoll entgegen. Na los, komm schon, wollten sie wohl sagen.

Und so zogen sie los, ein ungleiches Trio, schweigend und jeder in eigene Gedanken versunken. Ihre Schritte sanken sanft ein, doch Noah mochte den Sand. Die Jungen hatten ihre Schuhe ausgezogen, näherten...
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