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Transitmaus

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
304 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am18.07.20231. Auflage
Eine Fluchtgeschichte: Ein Mädchen will erwachsen werden, sie will Spaß. Im düsteren, lange schon mutterlosen Elternhaus am Rande des Ruhrgebiets ist der gewiss nicht zu finden. Doch in diesem Winter 1988 tönen Sirenenklänge von einer glitzernden Insel im grauen, realsozialistischen Meer: West-Berlin. Dort glaubt sie zunächst, in einem Fotografen ihre neue Liebe gefunden zu haben. Sie stürzt sich in das Leben dieser seltsamen Metropole, deren bekanntester Club nicht von ungefähr «Dschungel» heißt. Doch der Freund entpuppt sich als Filou, und auch diverse andere Bekanntschaften taugen kaum als Ersatz für den fernen Vater, zu dem sie immer mehr den Zugang verliert. Sie weiß nicht, wie schlimm es um ihn steht, zu sehr ist sie selbst gefangen in einem Sog aus Lügen und Betrug, in dieser Stadt zwischen Mauern, gebaut wie für die Ewigkeit ...

Eva Sichelschmidt wuchs am grünen Rand des Ruhrgebiets auf. 1989 zog sie nach Berlin, wo sie als Kostümbildnerin für Film und Oper arbeitete und erst ein Maßatelier für Abendmode, dann das Geschäft «Whisky & Cigars» eröffnete. 2017 erschien ihr erster Roman, «Die Ruhe weg». Ihr zweiter, «Bis wieder einer weint», war u.a. für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2022 war sie zum Bachmann-Wettbewerb eingeladen. Eva Sichelschmidt lebt in Rom und Berlin.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR17,99

Produkt

KlappentextEine Fluchtgeschichte: Ein Mädchen will erwachsen werden, sie will Spaß. Im düsteren, lange schon mutterlosen Elternhaus am Rande des Ruhrgebiets ist der gewiss nicht zu finden. Doch in diesem Winter 1988 tönen Sirenenklänge von einer glitzernden Insel im grauen, realsozialistischen Meer: West-Berlin. Dort glaubt sie zunächst, in einem Fotografen ihre neue Liebe gefunden zu haben. Sie stürzt sich in das Leben dieser seltsamen Metropole, deren bekanntester Club nicht von ungefähr «Dschungel» heißt. Doch der Freund entpuppt sich als Filou, und auch diverse andere Bekanntschaften taugen kaum als Ersatz für den fernen Vater, zu dem sie immer mehr den Zugang verliert. Sie weiß nicht, wie schlimm es um ihn steht, zu sehr ist sie selbst gefangen in einem Sog aus Lügen und Betrug, in dieser Stadt zwischen Mauern, gebaut wie für die Ewigkeit ...

Eva Sichelschmidt wuchs am grünen Rand des Ruhrgebiets auf. 1989 zog sie nach Berlin, wo sie als Kostümbildnerin für Film und Oper arbeitete und erst ein Maßatelier für Abendmode, dann das Geschäft «Whisky & Cigars» eröffnete. 2017 erschien ihr erster Roman, «Die Ruhe weg». Ihr zweiter, «Bis wieder einer weint», war u.a. für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2022 war sie zum Bachmann-Wettbewerb eingeladen. Eva Sichelschmidt lebt in Rom und Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644013841
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum18.07.2023
Auflage1. Auflage
Seiten304 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse7944 Kbytes
Artikel-Nr.9996081
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Mein Vater trug ein Paar unterschiedliche Schuhe. Am linken Fuß einen Slipper aus braunem Veloursleder, mit kleinen Troddeln über dem Spann, am rechten eine Art Budapester, einen festen Schnürschuh mit gestanztem Lochmuster in Bordeauxrot. Verschiedener konnten Herrenschuhe kaum sein. Ich berührte ihn leicht am Ellenbogen, und er zuckte zusammen. Auf der Empore erhob sich, mit den Gesangbüchern raschelnd, der gemischte Chor. Tochter Zion, freuheuheuheue dich.

«Hey», flüsterte ich. «Deine Schuhe!»

Mein Vater schaute auf seine Füße, wippte erst mit den Zehen in dem Slipper und scharrte dann mit dem Schnürschuh auf dem Boden. Sein Blick schweifte unsicher von links nach rechts und wieder zurück, als würde er die zwei dazu passenden Exemplare irgendwo unter der Kirchenbank vermuten.

Der Pastor stieg ein letztes Mal auf die Kanzel und gab der Gemeinde ein Zeichen, sich für den Segen zu erheben. Mein Vater wuchtete sich neben mir aus der Bank. Der Pastor gedachte noch einmal der Toten des Flugzeugunglücks in Schottland und bat darum, für deren Angehörige zu beten - amen. Die Brüder und Schwestern schmetterten inbrünstig das Abschlusslied. «O du fröhliche».

Mein Vater sang nicht, er starrte weiter ungläubig auf seine Füße.

«Na, so was, ich war wohl in Gedanken. In der Garderobe funktioniert das Licht nicht, da müsste man mal die Glühbirne wechseln.» Er tippte sich an die Stirn und lachte. «Vielleicht sollte meine Birne auch mal gewechselt werden.»

Ich war erleichtert. Wenn er lachte, war die Welt in Ordnung.

Wie immer an Heiligabend war die Kirche überfüllt. Die Luft roch nach Haarspray und Mottenpapier, die Menschenmassen hatten den Saal in den zwei Stunden aufgeheizt, rosig glühten die Gesichter der Gemeindemitglieder, die während der letzten Orgelklänge zum Ausgang drängten, eine Schafherde in Festtagskleidung.

Ob jemand das ungleiche Paar Schuhe bemerkt hatte? Hinter uns trug eine Frau im himmelblauen Umstandskleid mit beseeltem Lächeln ihre kleinen Kinder links und rechts auf der Hüfte. Neben uns ging eine Dame mit Schildpattkamm im donaugewellten Haar, schwerer Silberschmuck überdehnte ihre Ohrläppchen. Hinter uns schlurfte mit gebeugten Knien ein ergrauter Herr, sein Wanderstock klackerte über den Kirchenboden. Mein Vater kannte hier alle beim Namen. Die Älteren unter ihnen sprach er, selbst über sechzig, immer noch mit Tante und Onkel an. Früher waren wir jeden Sonntag zur Andacht erschienen, doch seit einigen Jahren ließen wir uns nur noch selten blicken, an den üblichen kirchlichen Feiertagen. Dennoch war es ihm immer noch wichtig, dass die Leute keinen Anlass bekamen, über uns zu reden. Mir hatte er an Sonntagen das Tragen von Make-up und Netzstrümpfen verboten, der Lederminirock hätte für seinen Geschmack ohnehin in den Müll wandern können.

«Was sollen denn die Leute denken?»

Verkehrte Welt, inzwischen war ich es, die sich Sorgen machte. Sollten die Gemeindemitglieder doch von mir halten, was sie wollten, das war mir egal, aber ein Recht, über ihn zu tuscheln, hatte hier keiner. Und es war nicht zu übersehen gewesen, wie die alten Weiber bei unserem Eintritt in die Kirche die weiß gelockten Köpfe zusammengesteckt hatten.

«Mein Gott, hat der Rautenberg abgebaut. Und in so kurzer Zeit ...»

Der Erfolg hatte meinen Vater sein Leben lang gegen Tratsch und schlechte Nachrede imprägniert und sein Charme gegen den Neid. Doch nach dem Bankrott der Firma im vergangenen Sommer war alles anders geworden. Jetzt überwachte ein Schrittmacher seine Herzschläge. Ein diffuses Kribbeln in den Händen und Füßen machte ihm zu schaffen, dazu kamen Diabetes und Bluthochdruck - längst ersetzte der Tablettenschieber den Wochenplaner des Firmenchefs. Sogar das geliebte Reiten hatte er aufgeben müssen. Inzwischen fraßen die Pferde ihr Gnadenbrot auf der Weide.

Nein, niemandem war das Schuhproblem aufgefallen. Alle hatten nur Augen für den Pfarrer, der auf einmal am Ausgang stand, wie beim Wettlauf von Hase und Igel, und an der Kirchenpforte allen die weiche Hand hinstreckte. Höchstpersönlich wünschte er jedem ein friedliches neues Jahr, ein glückliches 1989 und ein gesegnetes Fest.

Auf Weihnachten hätte mein Vater verzichten können. Den Gottesdienst hatte er über sich ergehen lassen, weil das von ihm erwartet wurde und weil es sich so gehörte. Aber drei stille Tage hintereinander, und dann war auch noch die Gastwirtschaft zu - wofür sollte das gut sein?

Im Schritttempo chauffierte er mich durch die hügelige Landschaft nach Hause. Seltsam tief zurückgelehnt lag er im Sitz, wie ein Kurgast auf der Sonnenliege. In dieser Position konnte er kaum übers Lenkrad blicken. Hatte er nicht längst eine Brille nötig? Der Mercedes war schon ziemlich zerbeult, weiße Kratzer überzogen den dunkelblauen Lack. In letzter Zeit waren meinem Vater eine Menge Hindernisse auf seiner Stammstrecke zwischen unserem Zuhause und der Dorfkneipe in die Quere gekommen.

Auf dem Hof leuchtete eine einzelne kleine Laterne, das Haus und die Reithalle lagen im Dunkeln. Wie stets zu Weihnachten regnete es.

Frau Schmidt, die Haushälterin, hatte in der Küche die kalten Platten angerichtet und war danach zu ihrer eigenen Familie, den alten Eltern, aufgebrochen. Tristan hatte am Morgen die Pferde versorgt, dann war er von seiner Schwägerin abgeholt worden. Er wohnte in einer kleinen Einliegerwohnung in der Reithalle, in der es noch mehr nach Pferd roch als im ganzen Stall. Tristan machte nie Ferien und schlief nur eine einzige Nacht im Jahr nicht in seinem schmalen Bett unter dem Heuboden, am Heiligabend.

Mit einem Beutel voll schrumpeliger Äpfel und alter Brötchen überquerte ich den Hof, dabei ploppten mir die Regentropfen wie kleine Murmeln auf den Kopf. Als ich das Licht im Stall anknipste, standen die beiden Pferde schon an ihren Futterluken. Die alte Stute blinzelte mir erwartungsvoll entgegen, als wären wir verabredet gewesen. Milchglasaugen in Aspik. Der Wallach rieb seinen großen Kopf an den Eisenstangen, aus seinen Nüstern dampfte es. Ich streichelte die dunkle Stelle neben seinem Maul, diesen kleinen Fleck, weich wie Samt, an dem kaum Fell wuchs. Auf der flachen Hand hielt ich ihm ein Brötchen hin, und seine Sandpapierzunge kitzelte über meine Handfläche. Das Tier verströmte die Wärme eines riesigen Heizkörpers. Am liebsten hätte ich mich in dieser stillen Nacht zu ihm ins Stroh gelegt.

Vor dem Stall blieb ich kurz stehen und schmiss der dicken Rottweilerhündin, die die Reitanlage bewachte, ein rohes Kotelett über den Zaun, zur Feier des Tages. «Gute Nacht!»

ACHTUNG SPORTPFERDE stand in großen Lettern auf dem Pferdetransporter. Der würde nie wieder vom Hof rollen. Vaters Karriere als Dressurreiter war beendet. Auf dem letzten Seniorenturnier war er, der einmal den dritten Platz bei der Deutschen Meisterschaft belegt hatte, beinahe vom Pferd gerutscht. Seine Preise, die Zinnpokale und silbernen Platten mit den eingravierten Rangplätzen, verstaubten im Wohnzimmerregal.

Im strömenden Regen lief ich zum Haus zurück. Die ungarischen Hütehunde warfen sich, auf den Hinterläufen stehend, mit gefletschten Zähnen gegen das Zwingergitter, wie tollwütige Eisbären. Was wohl passieren würde, wenn sich plötzlich das Gatter öffnete? Wie lange würde es dauern, bis die Viecher mich zerfleischt hätten? Uwe, der junge Hausfreund meines Vaters, hatte die namenlosen Hunde im letzten Herbst angeschleppt, als Geburtstagsgeschenk.

In der Küche stand mein Vater auf Zehenspitzen. Er suchte etwas, ganz hinten in einem der braunen Hängeschränke. Er trug nun Pantoffeln und hatte den dunklen Anzug mit Hemd und Schlips gegen eine sandfarbene Freizeithose und ein bunt gemustertes Poloshirt getauscht, in dem er aussah wie Richard Burton in einer späten Rolle als kalifornischer Pensionär.

«Weißt du, wo die Schmidt ihre Pflaster versteckt?» Dabei lutschte er am Ballen seiner rechten Hand. Als ich mit dem Verbandskasten aus der Garage ins Haus zurückkehrte, schmetterte der Prominentenchor im Wohnzimmer Do They Know it's Christmas.

«Versuch du doch mal, diese beknackten Dinger aufzubekommen», brummte er, während ich ihm einen strammen Mullverband anlegte.

Eigentlich lag ihm Hausmannskost mehr, doch für Austern ließ er alles liegen. Die Schalen, das wusste ich, durften erst kurz vor dem Verzehr geöffnet werfen. Wenn man einen Spritzer Zitronensaft auf das freigelegte Tier gab, sollte es zucken. Er wartete immer gespannt auf diesen spastischen Reflex. Ich machte mir nichts aus Austern, schlürfte ihm zuliebe aber immer zwei, drei der kalten Schleimbatzen schnell weg.

Für das Weihnachtsessen hatte er extra einen Austerntisch im Heizungskeller aufstellen lassen. An der Kopfseite der Tischplatte war eine chromblitzende Apparatur mit einem Dorn angebracht. Auf dem Tisch lag die große Holzkiste mit den geschlossenen Austern, daneben eine Platte mit einigen von ihm bereits geöffneten Exemplaren und ein Kettenhandschuh. Ich zog den Handschuh über, nahm eine Auster in die Hand und suchte nach der Naht im Saum, die man mit der Spitze des Öffners aufbrechen musste. Mir gefielen die schrundigen Schalen, die aussahen wie Bergmassive im Handschmeichlerformat. Mit diesem komischen Ritterhandschuh bekam ich sie aber nicht richtig zu fassen, immer wieder rutschte ich an dem Öffner ab. Ich zog den Handschuh aus und probierte es mit bloßen Händen. Als ich das bläulich schillernde Innenleben der geöffneten Dinger auf der Platte genauer betrachtete, sah ich feine Blutstropfen, winzige rote Perlen, die in der...
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Autor

Eva Sichelschmidt wuchs am grünen Rand des Ruhrgebiets auf. 1989 zog sie nach Berlin, wo sie als Kostümbildnerin für Film und Oper arbeitete und erst ein Maßatelier für Abendmode, dann das Geschäft «Whisky & Cigars» eröffnete. 2017 erschien ihr erster Roman, «Die Ruhe weg». Ihr zweiter, «Bis wieder einer weint», war u.a. für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2022 war sie zum Bachmann-Wettbewerb eingeladen. Eva Sichelschmidt lebt in Rom und Berlin.