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Großes Beben

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
384 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am14.12.2022
Besondere Autor*innen, besondere Geschichten: btb SELECTION - Ausgezeichnet. Ungewöhnlich. Erstklassig.
Das Letzte, woran sie sich erinnert, ist ein Doppeldeckerbus, den niemand sonst gesehen hat. Als Saga nach einem epileptischen Anfall mitten auf dem Bürgersteig wieder zu sich kommt, ist ihr dreijähriger Sohn verschwunden, und die Grenzen zwischen Realität und Vorstellung verschwimmen. In den folgenden Tagen plagen Saga immer größere Zweifel, beinahe scheint sie sich aufzulösen, ihr fehlen Erinnerungen und das Vertrauen in sich und die Welt um sie herum. Ein bewegender Roman über eine Mutter, die sich neu verorten muss in der Welt und über eine Familie, die sich und das Puzzle ihrer Vergangenheit Stück für Stück wieder zusammensetzen muss.

Audur Jónsdóttir, geboren 1973, ist eine von Islands bekanntesten jüngeren Schriftstellerinnen. Sie ist vielfach preisgekrönt und in mehrere Sprachen übersetzt. »Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt« ist ihr erstes Buch, das auf Deutsch erscheint.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextBesondere Autor*innen, besondere Geschichten: btb SELECTION - Ausgezeichnet. Ungewöhnlich. Erstklassig.
Das Letzte, woran sie sich erinnert, ist ein Doppeldeckerbus, den niemand sonst gesehen hat. Als Saga nach einem epileptischen Anfall mitten auf dem Bürgersteig wieder zu sich kommt, ist ihr dreijähriger Sohn verschwunden, und die Grenzen zwischen Realität und Vorstellung verschwimmen. In den folgenden Tagen plagen Saga immer größere Zweifel, beinahe scheint sie sich aufzulösen, ihr fehlen Erinnerungen und das Vertrauen in sich und die Welt um sie herum. Ein bewegender Roman über eine Mutter, die sich neu verorten muss in der Welt und über eine Familie, die sich und das Puzzle ihrer Vergangenheit Stück für Stück wieder zusammensetzen muss.

Audur Jónsdóttir, geboren 1973, ist eine von Islands bekanntesten jüngeren Schriftstellerinnen. Sie ist vielfach preisgekrönt und in mehrere Sprachen übersetzt. »Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt« ist ihr erstes Buch, das auf Deutsch erscheint.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641218270
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum14.12.2022
Seiten384 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1685 Kbytes
Artikel-Nr.10056305
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


DER VATER MEINES SOHNES

»Wir könnten für Ívar ein Ortungsgerät kaufen«, sagt Bergur am anderen Ende der Leitung, verdächtig überheblich. Er ist bemüht, nicht zu emotional zu klingen, als er hastig herunterleiert, es sei bestimmt möglich, speziell angefertigte GPS-Armbänder für Kinder zu bekommen oder sie in die Kleidung einnähen zu lassen.

Er würde aber ein loses Armband empfehlen, angesichts der ständigen Kleiderwechsel unseres Sohnes.

Ich schmiege mich in den Telefonsessel, unfähig, auf seinen Vorschlag einzugehen, weil ich ihn viel lieber fragen würde, warum er nicht bei mir ist.

»Ach, echt?«, stammele ich schließlich - der Vorschlag ist, gelinde gesagt, untypisch für ihn. Normalerweise wäre ich es, die ihm abwegige Sicherheitsgeräte aufschwatzen würde, und er würde etwas Geistesabwesendes murmeln. Eigentlich müsste er der Relaxte sein und ich die Gestresste. Oder etwa nicht? Vielleicht hat es mit den Anfällen zu tun, dass es mir so vorkommt, als hätten wir die Rollen getauscht.

Ich erinnere mich dunkel an dieses entrückte Gefühl, wenn ich früher epileptische Anfälle hatte, da erschien einem alles ganz weit weg und irgendwie anders, als es sein sollte. Das Gefühl ist mir noch präsent, obwohl ich mich an die eigentlichen Anfälle nicht erinnern kann. Warum liegt unser Familienfoto in Ívars Spielzeuglaster? Er muss damit gespielt haben. Ich greife nach dem Laster, rolle ihn zu mir, lehne das Foto an die Wand über dem Telefontischchen und mustere es kurz. Da schießt ein heftiger Schmerz durch meinen Körper und macht mich blind. Trotzdem bringe ich die Frage heraus: »Wo bist du?«

»Zu Hause natürlich«, sagt er.

»Bei dir zu Hause, ja, klar«, erwidere ich langsam, blinzele und spüre, wie meine Brust schwer wird, ich habe ihn richtig verstanden, er wohnt nicht mehr bei mir. Hatte ich gehofft, ich hätte es mir nur eingebildet? Die Tatsachen springen im Stakkato. Ich stelle mir vor, wie er mich anlächelt: sein unverwechselbar gutmütiger Gesichtsausdruck, wenn er mir zuzwinkert. Die Diashow in meinem Kopf läuft so schnell ab, dass ich die Bilder gerade noch erkennen kann. Aber sie flackern unscharf, weshalb ich ihnen nicht richtig traue.

Ich verharre bei den undeutlichen Konturen dessen, was einmal war: Die Wohnung hier war anders, lag da nicht ein persischer Läufer auf dem Boden neben dem Telefonsessel? Aber die Erinnerung ist schmerzhaft. Tränen pressen gegen meine Augäpfel, sie werden sich einen Weg nach draußen bahnen, ich darf nicht daran denken, der Schmerz steigt sofort in meinen Kopf, und ich merke, dass ich bockig werde. Wie kann Bergur einfach so reden, als wäre alles ganz normal? Was dachte ich eigentlich, wo er wäre? Ich habe aus Versehen auf seinem Handy angerufen, die einzige Kurzwahl im Festnetztelefon, damit er schnell erreichbar ist, falls ich einen epileptischen Anfall bekomme; jemand muss im Notfall benachrichtigt werden, und er ist der Wichtigste.

Aber war da nicht noch etwas anderes? Ich darf auf keinen Fall allein sein, Mama wollte ganz sicher zurückkommen, ich darf nicht weinen.

»Saga, hörst du mir zu?«, fragt Bergur. »Sollen wir so ein Gerät kaufen?«

»Wäre das nicht ...«, ich atme tief ein, bevor ich den Satz beende, »... eine trügerische Sicherheit?« Ich muss mich anstrengen, um die richtigen Worte zu finden, habe immer noch Schwierigkeiten, einige von ihnen laut auszusprechen, als hätte ich die Kontrolle über alle heikleren Gedanken verloren.

»Nein, wir lassen ihn ja trotzdem nicht aus den Augen«, widerspricht er hoffnungsfroh. »Ich kann kurz losgehen und eins kaufen.«

Ich will gerade zustimmen, als eine schwere Lethargie sich in meinem Kopf breitmacht. Ich kauere mich auf dem Sessel zusammen, versteife mich aus Angst vor einem weiteren epileptischen Anfall. Bergur seufzt resigniert und fragt, ob ich immer über alles bestimmen müsse.

»Wie meinst du das?«, hauche ich, erleichtert, als der Druck in meinem Kopf genauso schnell nachlässt, wie er gekommen ist.

»Du machst dir immer so große Sorgen um ihn, deshalb verstehe ich einfach nicht, was du gegen ein Sicherheitsgerät hast. Wir dürfen nicht riskieren, dass er noch einmal verloren geht«, sagt er bedeutungsschwer.

Ich möchte ihm sagen, dass ich gar nichts gegen die Idee habe, aber sein vorwurfsvoller Ton bringt mich aus dem Konzept: »Vertraust du mir nicht?«, frage ich stattdessen genervt, weil ich meine zittrige Stimme nicht im Griff habe. Es strengt mich an, die Worte zu formen, denn meine Zunge tut weh, ist geschwollen und schmeckt nach altem Blut.

Er schweigt.

»Bergur?«

»Ich vertraue dir ja«, antwortet er zögernd. »Aber deinem Körper vertraue ich nicht.«

Die Stille ist ohrenbetäubend. Bergur fühlt sich genauso unwohl wie ich, trotzdem kann ich es nicht lassen: »Bis jetzt hat er Ívar und dir aber gut gedient«, blaffe ich, schnell genug, dass die Worte von allein kommen, und schmatze mit meiner eklig schmeckenden Zunge.

»Wer? Dein Körper?«, fragt er verwirrt.

»Ja.«

»Findest du es angebracht, mich auf eine Stufe mit unserem Sohn zu stellen? In diesem Zusammenhang?«

»Warum nicht?«, fauche ich so biestig, dass es mich selbst überrascht, aber er könnte ja auch ein bisschen netter zu mir sein. Außerdem drückt er sich so affig aus: ... mich auf eine Stufe mit unserem Sohn zu stellen ... Der gute alte Bergur hätte mich verstanden und mit einem kleinen Witz die Situation entschärft. Er zögert, und ich koste den Moment aus. Wir klingen fast wie große Schwester und kleiner Bruder; so sehen wir auf dem Bild auf dem Telefontischchen auch aus. Ausdruckslos betrachte ich mein glückliches Ich auf dem Foto.

Darauf wirke ich ein klein wenig größer als er, trage Schuhe mit Absatz, auf denen ich gerade noch laufen kann. An den meisten Tagen ist er etwas größer als ich, aber an diesem Tag trug ich neben den hochhackigen Schuhen auch eine ungewöhnlich aufwendige Frisur, hatte meine rotblonden Locken mit Föhn und Haarspray zu schwungvollen Wellen aufgebauscht, die sich wie Feuerzungen umeinander ringelten. Er schlank, wie üblich, aber auch muskulös, in einem gut geschnittenen Anzug, die dunkelbraunen Löckchen zurückgegelt und den Bart getrimmt, den er sich extra für diesen Anlass hatte wachsen lassen. Seine dunklen Augen leuchten genau wie Ívars, wenn er überglücklich ist.

Das Foto ist von dem Tag, an dem er getauft wurde: Ívar Bergsson. Wir halten ihn zwischen uns, und der Kleine lächelt sabbernd, winzig klein in einem weißen Taufkleid, das Bergur gekauft hatte, als er nach Hamburg zum Literaturfestival gefahren war. Das weiß ich noch alles haargenau! Es war ein sonniger Tag, erinnere ich mich, ja, ich erinnere mich, und ich höre mein eigenes Blut rauschen bei dem Gedanken, schon allein die Erinnerung verschafft mir ein wohliges Gefühl. Und ich bin erleichtert, ich sehe den Moment kristallklar vor mir; die Erinnerung ist noch da, auch wenn mein Gedächtnis nach den Anfällen löchrig geworden ist.

»Sex und Geburt«, durchbricht Bergur die Stille, immer noch mit meiner zickigen Bemerkung beschäftigt.

»Sind das nicht zwei Seiten derselben Medaille?«, frage ich müde, aber nicht ohne Spaß an meiner absurden Erwiderung, zufrieden, dass ich es geschafft habe, sie ohne Stocken vorzubringen.

»Wovon reden wir hier eigentlich, Saga?«

»Steuererleichterung«, schnappe ich.

»Musst du immer witzig sein?«

»Nein, schon gut«, lenke ich ein und wundere mich darüber, dass er so dumm fragt. Mir wird schummrig. Ich muss das Gespräch beenden und ihn bitten, zu mir zu kommen, aber erst muss mir wieder einfallen, warum er weg ist. Warum bin ich so unfreundlich zu ihm?

Bergur seufzt. »Ich verstehe ja, dass es schwierig für dich ist, mit mir zu reden, in der momentanen Situation, aber diese ganze Zankerei nützt niemandem etwas, am allerwenigsten Ívar«, sagt er. »Meinst du nicht, du solltest dich noch mal hinlegen?«

»Nein«, stöhne ich, zu erschöpft für ausufernde Wortwechsel. Ich komme mir vor wie eine Hündin, die sich auf den Rücken dreht und als Zeichen der Unterwerfung vor der ganzen Welt ihren Bauch entblößt, als ich frage, wer mich im Krankenhaus abgeholt hat.

»Heute Morgen!?«

»Ja.«

»Weißt du das nicht mehr?«, fragt er verblüfft.

»So kurz nach einem Anfall ist man ziemlich durcheinander. Man hat Gedächtnislücken.«

Bergur senkt die Stimme: »Bist du dir sicher, dass das normal ist? Du redest auch irgendwie so komisch.«

»Ja, ich war in den letzten Tagen unter ärztlicher Beobachtung. Aber wer hat mich denn nun abgeholt?«

»Na, deine Mutter natürlich.«

Er hat den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da fällt mir Mamas Frisur ein. Dieser merkwürdige Haarturm! Sie steckt ihre Haare sonst nie hoch, es sei denn, sie ist krank. War das, weil ich krank war? Ich wiege mich vor und zurück und suche nach Antworten. Ich bin okay, es ist ganz normal, dass man ein bisschen durch den Wind ist.

Jetzt fällt mir wieder ein, wie sie die Autotür aufgemacht, mich angeschnallt und dabei gelächelt hat, obwohl ihr nicht nach Lächeln zumute war, das konnte ich ihr ansehen, und ich konnte ihr auch ansehen, dass sie wollte, dass ich dachte, es ginge ihr gut. Sie hat über Ívar geredet. Was hat sie noch mal gesagt? Wo ist Ívar jetzt?

»Ívar ist doch bei dir, oder?«, frage ich, bemüht, stabil zu klingen.

»Nein, nicht direkt, er ist im Kindergarten«, antwortet Bergur. »Er war die ganze Zeit bei mir,...

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Autor

Audur Jónsdóttir, geboren 1973, ist eine von Islands bekanntesten jüngeren Schriftstellerinnen. Sie ist vielfach preisgekrönt und in mehrere Sprachen übersetzt. »Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt« ist ihr erstes Buch, das auf Deutsch erscheint.