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Die Wokeness-Illusion

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
128 Seiten
Deutsch
Herder Verlag GmbHerschienen am13.02.2023
Wokeness ist ein Kampfbegriff geworden. Das gilt sowohl für die Befürworter wie die Gegner einer Einstellung, die sich selbst als »wach« oder »aufmerksam« bezeichnet. Es gibt wenig sachlich begründete Auseinandersetzungen, dafür umso mehr Empörung. In diesem Buch werden zentrale Elemente von Wokeness kritisch geprüft: der Vorwurf der kulturellen Aneignung, die Forderung nach geschlechtergerechter Sprache, die Rede von strukturellem Rassismus, das Instrument der Cancel Culture und die Einführung einer geschlechtlichen Diversität. Die Autoren dieses Buches sind sich einig, dass die so kritisierte Wokeness nicht zur Abschaffung oder Einebnung von Unterschieden beiträgt, sondern im Gegenteil diese untermauert.

Alexander Marguier ist Chefredakteur des politischen Monatsmagazins Cicero. Der studierte Volkswirt war zuvor mehrere Jahre lang Ressortleiter bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und Politikredakteur bei der Welt am Sonntag. Er kam 1969 in Horb am Neckar zur Welt. Ben Krischke, geb. 1986, ist Journalist, Kolumnist und Autor. Er hat Journalistik an der Hochschule Macromedia studiert und beim Magazin Focus in München und Berlin sowie an der Burda-Journalistenschule in Offenburg volontiert. Texte von ihm sind in verschiedenen Magazinen und Zeitungen gedruckt sowie online erschienen. Darunter Münchner Merkur, Focus und Meedia. Seit Oktober 2021 ist er Redakteur bei Cicero mit den Schwerpunkten Gesellschaft, Politik und Medien. Der gebürtige Memminger lebt in München.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR16,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextWokeness ist ein Kampfbegriff geworden. Das gilt sowohl für die Befürworter wie die Gegner einer Einstellung, die sich selbst als »wach« oder »aufmerksam« bezeichnet. Es gibt wenig sachlich begründete Auseinandersetzungen, dafür umso mehr Empörung. In diesem Buch werden zentrale Elemente von Wokeness kritisch geprüft: der Vorwurf der kulturellen Aneignung, die Forderung nach geschlechtergerechter Sprache, die Rede von strukturellem Rassismus, das Instrument der Cancel Culture und die Einführung einer geschlechtlichen Diversität. Die Autoren dieses Buches sind sich einig, dass die so kritisierte Wokeness nicht zur Abschaffung oder Einebnung von Unterschieden beiträgt, sondern im Gegenteil diese untermauert.

Alexander Marguier ist Chefredakteur des politischen Monatsmagazins Cicero. Der studierte Volkswirt war zuvor mehrere Jahre lang Ressortleiter bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und Politikredakteur bei der Welt am Sonntag. Er kam 1969 in Horb am Neckar zur Welt. Ben Krischke, geb. 1986, ist Journalist, Kolumnist und Autor. Er hat Journalistik an der Hochschule Macromedia studiert und beim Magazin Focus in München und Berlin sowie an der Burda-Journalistenschule in Offenburg volontiert. Texte von ihm sind in verschiedenen Magazinen und Zeitungen gedruckt sowie online erschienen. Darunter Münchner Merkur, Focus und Meedia. Seit Oktober 2021 ist er Redakteur bei Cicero mit den Schwerpunkten Gesellschaft, Politik und Medien. Der gebürtige Memminger lebt in München.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783451829994
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum13.02.2023
Seiten128 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse197 Kbytes
Artikel-Nr.10361252
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Ich so, du so
Die Anfänge der Identitätspolitik und die Erfindung des Selbst
Von Ralf Hanselle

Die Geburtsstunde linker Identitätspolitik?

Der Tag, an dem das abendländische Denken einen Salto mortale hinlegte, war ein Donnerstag. An den Fensterfronten der Buchhandlungen von Paris drückten sich die Studenten der École normale supérieure ihre hochgetragenen Nasen platt. Es war der 20. Februar 1975, drei Tage nach Ende der Pariser Winterferien. In den Auslagen befand sich ein druckfrisches Taschenbuch aus dem Verlag Gallimard. In den philosophischen Fakultäten sollte es wie eine Bombe einschlagen: Hinter einem schlichten weißen Cover mit geschwungenem Schriftzug in Rot und Braun verbarg es, so zumindest ein damals immer lauter werdendes Gerücht, eine revolutionäre Theorie über Macht und Identität. Ihr Titel: Surveiller et punir , zu Deutsch Überwachen und Strafen . Autor der über 350 Seiten umfassenden Analyse war ein gewisser Michel Foucault, Psychologe, Philosoph und als engagierter Intellektueller in der französischen Öffentlichkeit kein Unbekannter. Mit Büchern wie Wahnsinn und Gesellschaft oder Die Ordnung der Dinge waren dem linken Professor, Lehrstuhlinhaber für die Geschichte der Denksysteme am renommierten Collège de France, einige Bestseller gelungen. Sein politischer Protest für die Rechte von Homosexuellen oder für die Insassen in den Gefängnissen von Toul oder Nancy hatten dem Dandy mit dem weißen Rollkragenpulli zudem einiges an medialer Aufmerksamkeit beschert.

Überwachen und Strafen aber sollte noch einmal alles in den Schatten stellen, was man selbst in der Fünften Republik von einem Vertreter der Federhalterzunft gewohnt war. Denn diese Geschichte der Gegenwart , wie der Autor sein eigenes Buch nannte, stellte die Philosophie Platons von den Füßen auf den Kopf. Der antike Starphilosoph hatte einst behauptet, dass der Körper das Gefängnis unserer Seele sei, und mit dieser These einen scheinbar unverrückbaren Glaubenssatz im sogenannten Leib-Seele-Dualismus geprägt. Doch mit sophistischem Foulspiel drehte ihn Foucault einfach um: Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers , lautet einer der zentralsten Sätze in Überwachen und Strafen , einem Buch, das an vielen Stellen vor irrationaler Poesie nur so strotzt, das sich aber vielleicht gerade deshalb auch jenseits der Grenzen des Quartier Latin so gut verkauft hat. Wie wir uns fühlen, was uns ausmacht, wer wir sind, das ist für Foucault nicht mehr durch unsere Körperlichkeit, durch biologische Grundkonstanten definiert, sondern wird durch die Beschränkung bzw. Zurichtung des Denkens bestimmt - und dessen Überwindung. Der oft gezogene Umkehrschluss: Was und wer wir sind, können wir per Willensentscheidung festlegen. Und jedes äußere Herantragen von Definitionskriterien an uns ist ein Gewaltakt.

Allein in Deutschland ist Überwachen und Strafen mittlerweile in der 22. Auflage erhältlich. Und im angloamerikanischen Raum avancierte es, obwohl vom Katheder lange als typischer Frog Fog belächelt, zur Matrix der poststrukturalistischen Wende, wie sie später von Jacques Derrida, Judith Butler oder Chantal Mouffe weiterbetrieben worden ist. Mochte man in den Seminarräumen also die großen Klassiker rezipieren, unter der Bettdecke verfielen die Studierenden immer öfter den erotisierenden, zuweilen gar sadomasochistischen Grenzgängen der neuen französischen Kulturtheorie. Bereits 20 Jahre später war Foucault zum meistzitierten Autor der Gegenwart aufgestiegen.

Dass ein Text über Identitätspolitik in Paris im Jahr 1975 beginnt, mag verwundern. Er könnte an vielen Orten und zu ganz unterschiedlichen Zeiten einsetzen: im englischen Bristol etwa, wo Aktivisten der Black-Lives-Matter-Bewegung im Juni 2020 ein Denkmal des einstigen Sklavenhalters Edward Colston vom Sockel geholt haben, oder an der Berliner Alice Salomon Hochschule: Hier hatte sich der Asta über ein angeblich sexistisches Fassadengedicht des Schweizer Lyrikers Eugen Gomringer echauffiert - und das derart energisch und lautstark, dass das konkrete Poem 2018 übermalt wurde. Er könnte auch in Manchester beginnen, wo 2018 ein Nymphenbild des Fin-de-Siècle-Künstlers John William Waterhouse vorübergehend abgehängt wurde, in Frankfurt, wo 2019 eine Gruppe namens Frankfurter Hauptschule gegen eine angebliche Vergewaltigungsszene in einem Goethe-Gedicht protestierte, ja vielleicht sogar vor der Küste Libyens, wo 2017 Mitglieder der rechten Identitären Bewegung ein Boot gechartert hatten, um mit einer menschenverachtenden Aktion unter dem Titel Defend Europe Flüchtlinge an der Überfahrt über das Mittelmeer zu hindern. Immer wieder ist in den zurückliegenden Monaten und Jahren der Begriff Identitätspolitik in den Debatten über die Phänomene unserer Gegenwart aufgetaucht. Meistens ging es um skurrile Symbolhandlungen an der Schwelle zwischen Kunst und Politik, die zuweilen tief in die Kunst- oder Meinungsfreiheit eingegriffen haben.

Cancel Culture heißt mittlerweile das Schlagwort, mit dem sich solcherlei Identitätspolitik verbrüdert hat. Doch will man diese Kette der kaum noch zählbaren Einzelfälle wirklich verstehen, so muss man hinter die Phänomene schauen. Und am Ende wird man dann vielleicht wirklich hier landen: im Pariser Winter von 1975, an jenem milden Februartag, als Foucaults Bestseller Überwachen und Strafen und somit das gesamte poststrukturalistische Lehrgebäude seinen unaufhaltbaren Siegeszug durch das westliche Denken antrat.

Für den Duisburger Soziologen Robert Seyfert hat diese Erfolgsgeschichte viel damit zu tun, dass Foucaults Buch bis heute zahlreiche Anknüpfungspunkte zu Problemen unserer Gegenwart bietet: Foucault hat eigentlich eine Geschichte der Formen der Subjektivierung geschrieben, er hat sich also mit der Frage beschäftigt, wie man als Mensch zum Subjekt gemacht wird. Das passt sehr gut zu den Problemstellungen des Feminismus oder der Gender Studies, also etwa zu der Frage, wie man in der Gesellschaft zur Frau gemacht wird.

Die Antworten, die Foucault dazu geliefert hat, mögen überraschen: Indem er sich zunächst nämlich mit der Geschichte der Gefängnisse sowie mit den Methoden von Disziplinierung und Überwachung auseinandergesetzt hat, kommt er zu dem Schluss, dass der Mensch in sich das Resultat einer Unterwerfung sei, die viel tiefer ginge als er selbst. Eine Seele wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selbst ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt.

Fast fünf Jahre lang hatte sich Foucault zuvor Gedanken über die oft gnadenlosen Zustände in den französischen Gefängnissen gemacht. Er hatte mit Häftlingen gesprochen, Archive durchforstet, historische Abhandlungen gewälzt. Fazit: Der Gefängnisinsasse gehorcht nicht, weil er körperlich unterdrückt würde, er habe sich seine Seele und seine Persönlichkeit vielmehr selbst in einer komplexen Prozedur aus Bestrafung, Überwachung, Züchtigung und Zwang erschaffen. Identität, das ist für den engagierten Professor am Ende nur noch die Verinnerlichung von Vorgaben aus Amtsstuben und Behörden. Wir haben die Technologien der Macht verinnerlicht; aus dem engen Bereich der Gefängnisse sind sie innerhalb der letzten Jahrhunderte in die Kasernen, die Schulen, die Fabriken eingedrungen und haben dort den Bewohner der Moderne hervorgebracht; jenen eigenartigen Typus Mensch, der keine fest umrissene Identität mehr mitbringt, sondern dessen Persönlichkeit in den Ordnungen und Strukturen der herrschenden Diskurse erst zugerichtet wird.

Es sind Sätze, wie sie seiner eigenen Autobiografie hätten entnommen sein können. Denn Michel Foucault blieb sich zeitlebens wohl selbst ein Fremder. Hinter seiner mönchischen Erscheinung verbarg sich nicht selten neurotische Einsamkeit. Getrieben von einem herrschsüchtigen Vater, unternahm er mit 22 Jahren einen ersten Selbstmordversuch, durchlief Therapien und Aufenthalte in psychiatrischen Anstalten. Doch die Identitätsfrage blieb die Sollbruchstelle seines Lebens: Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben.

Auf dem zu kurzen Weg bis zu seinem frühen Aids-Tod hat er seine Identitätszuschreibungen permanent gewechselt. Mal bezeichnete er sich als nietzscheanischen Kommunisten , dann wieder als linken Anarchisten , mal war er Maoist, mal Sprengmeister der abendländischen Kultur . Kurz: Michel Foucault war alles und nichts; vielleicht am ehesten ein Kunstwerk, wie er es in einem späten Interview einmal gesagt hat. Doch gerade dieser ständige Purzelbaum der Identitäten, die Leugnung eines tieferen Wesens zugunsten eines Spieles mit den Machtdiskursen, die uns als Mensch angeblich erst hervorgebracht hätten, hat den französischen Philosophen zu dem Vordenker moderner Identitätspolitik werden lassen - und das zunehmend bei Linken wie Rechten, in der Hoch- wie in der Subkultur.

Sein Einfluss auf die Politik und Geistesgeschichte der letzten Jahrzehnte jedenfalls kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Robert Seyfert recherchierte den Etablierungsprozess. Waren es in Deutschland anfangs versprengte akademische Hochburgen wie Göttingen oder Freiburg, in denen man sich für Foucault interessierte, erschienen ab den 1980er-Jahren immer mehr Übersetzungen, Sammelbände, Monografien, Dissertationen und Kritiken zu seinem Denken. Die anfängliche Skepsis, die in Deutschland besonders von dem Philosophen Jürgen Habermas kam, wich mehr und mehr der Begeisterung. Der endgültige Sieg wurde nach Meinung...
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