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Mehr als nur ein Fremder

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
192 Seiten
Deutsch
Hanser, Carl GmbH + Co.erschienen am17.04.20231. Auflage
Norbert Gstrein, dieser 'elegante und anspruchsvolle Stilist' (Carsten Otte, SWR2), über die Lektüren seines Lebens, sein Schreiben und sein Werk
Zum ersten Mal gibt Norbert Gstrein Auskunft über sein Schreiben und sein Werk. Er spürt Empfindungen wie Scham, Schuld und Angst nach, und er erzählt von den Lektüren seines Lebens. 'Jetzt kommen sie und holen Jakob' lautet der erste Satz seines ersten Buches, erschienen 1988. Von diesem Satz ausgehend spannt der Autor einen Bogen bis in die Gegenwart und leuchtet die Echoräume seines Erzählens aus. Wer ist das 'Ich' in seinen Romanen? In welcher Verbindung stehen Schreiben und Moral? Was haben Gauß und die Mathematik mit allem zu tun? Und kann man ein amerikanischer Schriftsteller sein, obwohl man in Tirol aufgewachsen ist?

Norbert Gstrein, 1961 in Tirol geboren, lebt in Hamburg. Er erhielt u. a. den Alfred-Döblin-Preis, den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, den Uwe-Johnson-Preis, den Österreichischen Buchpreis 2019, den Düsseldorfer Literaturpreis und den Thomas-Mann-Preis. Bei Hanser erschienen Die Winter im Süden (Roman, 2008), Die englischen Jahre (Roman, Neuausgabe 2008), Das Handwerk des Tötens (Roman, Neuausgabe 2010), Die ganze Wahrheit (Roman, 2010), In der Luft (Erzählungen, Neuausgabe 2011), Eine Ahnung vom Anfang (Roman, 2013), In der freien Welt (Roman, 2016), Die kommenden Jahre (Roman, 2018), Als ich jung war (Roman, 2019), Der zweite Jakob (Roman, 2021), mit dem er für den Deutschen Buchpreis nominiert war, sowie zuletzt Vier Tage, drei Nächte (Roman, 2022) und Mehr als nur ein Fremder (2023).
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR17,99

Produkt

KlappentextNorbert Gstrein, dieser 'elegante und anspruchsvolle Stilist' (Carsten Otte, SWR2), über die Lektüren seines Lebens, sein Schreiben und sein Werk
Zum ersten Mal gibt Norbert Gstrein Auskunft über sein Schreiben und sein Werk. Er spürt Empfindungen wie Scham, Schuld und Angst nach, und er erzählt von den Lektüren seines Lebens. 'Jetzt kommen sie und holen Jakob' lautet der erste Satz seines ersten Buches, erschienen 1988. Von diesem Satz ausgehend spannt der Autor einen Bogen bis in die Gegenwart und leuchtet die Echoräume seines Erzählens aus. Wer ist das 'Ich' in seinen Romanen? In welcher Verbindung stehen Schreiben und Moral? Was haben Gauß und die Mathematik mit allem zu tun? Und kann man ein amerikanischer Schriftsteller sein, obwohl man in Tirol aufgewachsen ist?

Norbert Gstrein, 1961 in Tirol geboren, lebt in Hamburg. Er erhielt u. a. den Alfred-Döblin-Preis, den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, den Uwe-Johnson-Preis, den Österreichischen Buchpreis 2019, den Düsseldorfer Literaturpreis und den Thomas-Mann-Preis. Bei Hanser erschienen Die Winter im Süden (Roman, 2008), Die englischen Jahre (Roman, Neuausgabe 2008), Das Handwerk des Tötens (Roman, Neuausgabe 2010), Die ganze Wahrheit (Roman, 2010), In der Luft (Erzählungen, Neuausgabe 2011), Eine Ahnung vom Anfang (Roman, 2013), In der freien Welt (Roman, 2016), Die kommenden Jahre (Roman, 2018), Als ich jung war (Roman, 2019), Der zweite Jakob (Roman, 2021), mit dem er für den Deutschen Buchpreis nominiert war, sowie zuletzt Vier Tage, drei Nächte (Roman, 2022) und Mehr als nur ein Fremder (2023).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783446278233
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum17.04.2023
Auflage1. Auflage
Seiten192 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.10454564
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe




Schmule



I had a good life.

Pepi Stiegler


Eine Zeitlang habe ich jetzt allen Leuten erzählt, ich sei im vergangenen Dezember nach Wyoming gefahren auf der Suche nach meiner Kindheit und auf der Suche nach Schnee, als wäre das eine nicht ohne das andere zu haben. Und ja, es stimmte, und doch war es auch ein Satz, der vom vielen Erzählen zu schön und zu glatt klang und mehr und mehr seinen harten Wahrheitskern verlor. Denn den gab es, einen wahren Kern, und tatsächlich hatte ich schon auf der Fahrt von Denver nach Jackson, wie der Ort in Wyoming hieß, immer mehr feststellen müssen, wie mir auf dem leeren Highway in der Prärie die Zeit abhanden kam, oder vielmehr, wie durchlässig die Zeit wurde, weil in der Weite der Landschaft alles nur mehr Raum war.

Ich war nach Jackson gefahren, weil der Ort, ohne dass ich damals seinen Namen gekannt hätte, mit einer meiner allerersten Erinnerungen zu tun hatte. Es war eine Auswanderergeschichte, die mir mein Vater als Vier- oder Fünfjährigem erzählt hatte, die Geschichte eines österreichischen Skirennläufers, der in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach Amerika gegangen war und dort eine Skischule gegründet hatte. Für meinen Vater, selbst Inhaber einer Skischule, war auszuwandern und an einem anderen Ende der Welt in seinem eigenen Metier gleich wieder Fuß zu fassen offensichtlich das Schönste und Größte gewesen, was man überhaupt tun konnte, und jetzt, fünfzig Jahre später, saß ich in den Rocky Mountains einem über achtzigjährigen Mann in seiner Küche gegenüber und bemühte mich, ihm zu erklären, was mich zu ihm geführt hatte.

Davor hatte ich ihn von Hamburg aus vergeblich zu kontaktieren versucht und war schließlich einfach nach Denver geflogen, hatte ein Auto gemietet, war stundenlang durch die sanft schneebestäubte Vorwinterlandschaft gefahren und hatte an seiner Tür geklopft. Nach einem Unfall geschwächt, hatte er eine Betreuerin zur Seite, und wir sprachen ihretwegen hauptsächlich englisch, aber zwischendurch gab es immer wieder Einsprengsel in dem Tiroler Dialekt, seinem Dialekt, der für mich so vertraut war, weil er sich in vielem wie der Dialekt meiner Kindheit anhörte. Er war als junger Mann Olympiasieger im Slalom gewesen, hatte mit mehr als sechzig Jahren noch ein Literaturstudium begonnen und auch abgeschlossen, und er hatte eine Cessna besessen, zeigte mir ein Foto von den Bergen, das er aus dem Flugzeug aufgenommen hatte, und sagte: »I had a good life.« Die Betreuerin versicherte mir, einem Besucher aus Europa, der aber gar nicht mit diesen Vorurteilen ins Haus gekommen war, er habe bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr nicht den Falschen gewählt, in dem Städtchen, das angeblich das höchste oder jedenfalls eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen in den USA hatte, nicht gerade die Norm. Dazu sagte sie: »Pepi has always been a nice and decent man.«

Später kam seine Tochter herein, sie unterhielten sich eine Weile, er forderte sie auf, mit mir deutsch zu sprechen, aber sie weigerte sich, und sie verabschiedete sich mit einem »I love you, Papa« von ihm. Natürlich kann man sagen, das sei die amerikanische Art, kann es auch amerikanische Oberflächlichkeit nennen, aber ich dachte im selben Augenblick, in Tirol, in dem Dialekt, in dem ich aufgewachsen bin und der dem Dialekt so ähnlich war, in dem er aufgewachsen ist und seine Tochter aufgewachsen wäre, wenn er sich nicht zum Weggehen entschlossen hätte, wäre ein solcher Satz nicht möglich gewesen, weil keine Wendung dafür vorgesehen war. Vielleicht hatte es allein schon deshalb mit dem Weggehen seine Richtigkeit gehabt, vielleicht auch hatte sich allein schon deshalb meine Reise in den amerikanischen Westen gelohnt.

Geschneit hat es nicht in den paar Tagen, die ich in Jackson verbracht habe, und es lag auch kaum Schnee dort, aber als ich von meinem Besuch ins Freie trat, waren auf der Piste am Rand des Städtchens die Schneekanonen in Betrieb. Ich hatte mich von dem alten Mann verabschiedet, zuerst auf englisch, aber dann sagte er »Pfiat di« zu mir, wie er es in Tirol getan hätte, und auch ich sagte »Pfiat di« zu ihm. Danach stand ich draußen in der Kälte, und es waren knapp minus zwanzig Grad, wenn ich die Fahrenheit richtig in Celsius umrechnete, zwei halbe Kontinente und ein Meer von zu Hause oder dem, was man so nannte, entfernt.

Es macht mir immer Mühe, die eigene Geschichte zu erzählen, ohne sofort auf den Gedanken zu verfallen, es könnte genausogut die Geschichte von jemand anderem sein und ich arbeitete statt einer Festschreibung einer Auslöschung zu. Wenn ich über meine Kindheit nachdenke, kann ich »ich« sagen oder »er«. Sooft ich »ich« sage, fällt mir als erstes ein, wie gut ich sein wollte, früh imprägniert mit Moral, vielleicht aus der Bibel, vielleicht aus einem kindlichen Wünschen und Glauben, mit dem wir Menschen, jedenfalls mit der Anlage dazu, womöglich schon auf die Welt kommen, und zudem ein langes Sündenregister, was ich alles angestellt hatte oder was mir vielleicht auch nur als Verfehlung angekreidet wurde und was ich am Ende zu allem Überfluss auch noch erfand, damit ich in der Beichte etwas vorzuweisen hatte. Wenn ich »er« sage, halte ich es fast nicht aus und denke: »Dieses Kind warst du«, »Dieses Kind sollst du gewesen sein«, und möchte noch heute meine schützende Hand über den Sechs-, Sieben- oder Achtjährigen halten in seiner Heimat- und Antiheimat-Gemengelage mit ihren Schrecknissen, aber auch Schönheiten und hänge gleichzeitig an der Nichtaustauschbarkeit meiner Kindheit, als würde ich, hätte ich die Wahl, paradoxerweise nicht einmal die Schrecknisse daraus verbannt haben wollen.

Die Welt, in der ich aufgewachsen bin, gerade fünfhundert Meter von der Kirche am Dorfeingang bis zum letzten Haus, dem Haus hinter dem Hotel meiner Eltern, am Dorfende, wo die Straße nicht mehr weiterführte, war auch eine biblische Welt. In den Romanen von Willa Cather, die eine Präriekindheit in Nebraska hatte, gibt es Figuren, die in der Bibel lesen, als wären die darin geschilderten Ereignisse noch nicht so lange her, eine Empfindung, die ich nur zu gut kannte. Mehr noch als die Zeit aber betraf es den Ort, und das wiederum hatte ich später bei Lydia Davis gefunden, die in einer Erzählung nach den Erinnerungen eines Vorfahren eine Dorfwelt an der amerikanischen Ostküste beschreibt, eine jüdische Welt, neunzehntes Jahrhundert, die der Beschreibung nach genausogut meine katholische Kindheitswelt hundert Jahre später hätte sein können.

Zusammengefasst war das in ihren Worten eine Welt, in der Ägypten in einem nahe gelegenen Wäldchen lag, in der auch der Nil irgendwo in der Nähe vorbeifloss, in der das Rote Meer, nur gerade außer Sichtweite, irgendwo im Nordosten sein musste und der Palast des Pharaos nicht weit entfernt auf einer Anhöhe. Die Patriarchen lebten in den Feldern des Großvaters, und als Abraham in das Land kam, war es in der nordwestlichen Ecke einer Wiese, die jetzt dem Bruder gehörte. Jakob floh vor Esau und wurde in ebendieser Wiese von der Nacht eingeholt, in der Nähe eines Kirschbaums, und da sah er die Engel auf ihrer Leiter aus den Wolken herabsteigen und wieder in ihnen verschwinden.

Der Himmelsausschnitt, den man im Dorf meiner Kindheit zwischen den steil ansteigenden Hängen sehen konnte, war klein, aber der Himmel, den man nicht sah, war groß. Nach einer offiziellen Zählung lebten dort vier Jahre vor meiner Geburt, in dem Jahr, in dem mein Großvater starb, exakt hundert Leute, ob er da noch mitgerechnet worden war oder nicht. Dann schwankte die Zahl lange zwischen hundertzwanzig und hundertfünfzig, bis ich zuerst ins Internat und danach endgültig wegging, und mehr sind es auch seither nicht geworden.

Ich sitze im Hotel meines Großvaters, während ich dies schreibe, gegenüber steht das Hotel meiner Eltern, in dem ich aufgewachsen bin, Sommerbeginn, vor der offenen Balkontür das unaufhörliche Rauschen des Gebirgsbachs, das ich in meiner Kindheit nie richtig wahrgenommen habe, und ich habe gerade mit meinem Onkel Jakob gesprochen. Er hat mich, ...


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Autor

Norbert Gstrein, 1961 in Tirol geboren, lebt in Hamburg. Er erhielt u. a. den Alfred-Döblin-Preis, den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, den Uwe-Johnson-Preis, den Österreichischen Buchpreis 2019, den Düsseldorfer Literaturpreis und den Thomas-Mann-Preis. Bei Hanser erschienen Die Winter im Süden (Roman, 2008), Die englischen Jahre (Roman, Neuausgabe 2008), Das Handwerk des Tötens (Roman, Neuausgabe 2010), Die ganze Wahrheit (Roman, 2010), In der Luft (Erzählungen, Neuausgabe 2011), Eine Ahnung vom Anfang (Roman, 2013), In der freien Welt (Roman, 2016), Die kommenden Jahre (Roman, 2018), Als ich jung war (Roman, 2019), Der zweite Jakob (Roman, 2021), mit dem er für den Deutschen Buchpreis nominiert war, sowie zuletzt Vier Tage, drei Nächte (Roman, 2022).