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Ahrer oder Der erkämpfte Traum

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
216 Seiten
Deutsch
Hollitzer Verlagerschienen am30.01.2023
Luis Stabauers Roman verknüpft die Geschichte der Arbeiterbewegung in zwei so konträren Ländern wie Österreich und Uruguay, erzählt von der Emanzipation einer Frau und von der politischen Karriere eines Mannes, der an eine demokratische Gesellschaft glaubt. 'Ich würde gerne mehr über die Voraussetzungen wissen, wie sich ein Individuum ideal entwickeln kann', sagte Maria vor dem Eintreten in die Küche. Ihre Mutter saß beim Tisch und stopfte Socken.

Luis Stabauer lebt als freier Schriftsteller in Wien und Seewalchen am Attersee. Als Autor und Welt-Reisender beschäftigt er sich hauptsächlich mit Menschen und deren gesellschaftspolitischen Bezugsrahmen in Europa und Lateinamerika. Zuletzt erschienen die Romane 'Wann reißt der Himmel auf' (2014), 'Atterwellen' (2015), 'Die Weißen' (2018), 'Brüchige Zeiten' (2020) sowie der Gedichtband 'UND' (2020).
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextLuis Stabauers Roman verknüpft die Geschichte der Arbeiterbewegung in zwei so konträren Ländern wie Österreich und Uruguay, erzählt von der Emanzipation einer Frau und von der politischen Karriere eines Mannes, der an eine demokratische Gesellschaft glaubt. 'Ich würde gerne mehr über die Voraussetzungen wissen, wie sich ein Individuum ideal entwickeln kann', sagte Maria vor dem Eintreten in die Küche. Ihre Mutter saß beim Tisch und stopfte Socken.

Luis Stabauer lebt als freier Schriftsteller in Wien und Seewalchen am Attersee. Als Autor und Welt-Reisender beschäftigt er sich hauptsächlich mit Menschen und deren gesellschaftspolitischen Bezugsrahmen in Europa und Lateinamerika. Zuletzt erschienen die Romane 'Wann reißt der Himmel auf' (2014), 'Atterwellen' (2015), 'Die Weißen' (2018), 'Brüchige Zeiten' (2020) sowie der Gedichtband 'UND' (2020).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783990940679
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum30.01.2023
Seiten216 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3406 Kbytes
Artikel-Nr.10968709
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


WIR LEBEN NOCH

An einem Sonntag im Jänner 1930 schlief Sepp etwas länger, oben in seinem Stockbett. Maria weckte ihren Bruder, indem sie ein paar Mal mit den Beinen von unten in seine Rosshaarmatratze trat. Er streckte den Kopf über den Bettrand. Blöde Kuh , entfuhr es ihm, doch gleich darauf lächelte er und erzählte ihr vom letzten Treffen der Freidenker.

Darf ich zu so einer Diskussion einmal mitkommen? Das interessiert mich , sagte Maria und schwang sich aus ihrem Bett. Einige Minuten später saßen sie am kleinen Küchentisch. Maria hatte Wasser für den Tee gekocht, vier dünne Scheiben Brot geschnitten, das Schmalz und die Zwetschkenmarmelade auf den Tisch gestellt. Ihre Mutter würde gleich von der Messe heimkommen. Der Vater drehte sich eine Zigarette und unterhielt sich mit Sepp. Der begann, nachdem die Mutter heimgekommen war und sich zu den dreien an den Tisch gesetzt hatte, wieder einmal eine Diskussion. Maria wird am neunten Februar neunzehn , leitete er ein, ich würde gerne mit ihr etwas unternehmen. Passt das? Alle drei nickten, nur Maria wusste, worauf Sepp hinauswollte. Gut , sagte er, sie möchte gerne zu einer Diskussion bei den Freidenkern mitgehen. Genau an ihrem Geburtstag wird Alfred Adler, ein Wiener Arzt, bei uns sprechen, ich habe sie eingeladen mitzukommen.

Der Vater blies den Rauch langsam aus, drehte das Gesicht zu seiner Frau und zog die Augenbrauen hoch. Sie legte los: dass da sonst keine Frauen dabei seien und Sepp nicht in der Lage wäre, ihre Sicherheit zu garantieren. Was das für ein gottloser Arzt sein müsse, wenn er zu den Freidenkern komme und ob die beiden vergessen hätten, dass sie jeden Abend mit ihnen gebetet habe. Ob er, Sepp, jetzt auch seine Schwester vom Glauben abbringen wolle und ausgerechnet heute, am Tag des Herrn, komme er mit solchen Themen. Mit euch Ungläubigen , dabei streckte sie den Zeigefinger nach vorne in Richtung Sepp, senkte den Kopf und blickte dem Finger entlang, als würde sie durch Kimme und Korn zielen, ja, mit euch würde unsere schöne Heimat in ein richtiges Chaos stürzen , sagte sie am Ende und begann wieder von vorne.

Sepp ließ sie einige Zeit reden, dann sah er zu Maria. Sie nickte ihm zu.

Deine Betbrüder sitzen in der Regierung. Sie sichern die Macht der Reichen, der Pfaffen, der Besitzenden und des angeblich abgeschafften Adels. Die Einfältigeren von ihnen marschieren mit aufgesteckten Hahnenfedern in der Heimwehr und schießen auf uns Arbeiter, befehligt von angeblichen Blaublütlern, wie dem Grundbesitzer Starhemberg. Mutter, wann wirst du endlich auf unserer Seite stehen? Maria kommt mit mir mit und aus! Du wirst uns nicht auseinanderbringen. Vater, warum sagst du nichts?

Ich komme mit und passe auf Maria auf , sagte der. Seine Frau schlug ein Kreuz und ging aus der Küche. Maria zog den Kopf ein. Hätte sie ihren Bruder besser nicht gefragt, ob sie mitkommen könne?

Gehen wir eine Runde , sagte Sepp nach dem Streit zu seiner Schwester. Maria wollte davor mit ihrer Mutter reden, zog sich die Schuhe an, nahm die dicke Jacke vom Haken und steckte die Wollhandschuhe hinein. Zwei Mal umrundete sie die Baracke und fragte bei der Nachbarin. Sie fand ihre Mutter nicht und stand wieder vor dem Küchenfenster. Die Armbewegungen ihres Bruders ließen auf eine intensive Diskussion mit dem Vater schließen. Maria klopfte an das Fenster. Sepp stand auf, zog seinen alten Eisenbahnermantel an und kam vor die Tür. Schweigend spazierten sie die Roseggerstraße entlang. An der Ecke zur Goethestraße blieb Maria stehen.

Das war heftig , sagte sie, wo könnte Mutter sein? Sepp zog sie weiter und blies die Luft hörbar aus: Ich hoffe, sie ist nicht zu den Koskas gegangen, leider traue ich ihr das zu.

Langsam gingen sie an den Arbeiterquartieren vorbei. Schau, diese Baracken sind noch schlimmer als unsere. So wohnen Arbeiter unter dieser Regierung. Ohne Fundament, im Winter ist es da drinnen saukalt. Sie waren als Provisorium für drei Jahre geplant. Ha! Das war vor acht Jahren. Oft leben zehn Personen in zwei kleinen Zimmern und wenn in so einer Behausung noch ein Arbeiter Nachtschicht hat, wird zusätzlich noch jemand aufgenommen, der in dessen Bett schläft. Alle leben auf engem Raum. Jeden Tag erkranken Bewohner an Tuberkulose. Victor Adler, der ja auch Arzt ist, sagt, dass die Bakterien über Tröpfchen beim Husten und Niesen weitergegeben werden. In diesen Baracken infizieren sich die Bewohner gegenseitig.

Wieso erzählte er ihr das, dachte Maria, das war ihr doch alles bekannt. Ihr Franz hatte in einer dieser Baracken gehaust. Er war ebenfalls bei den Freidenkern der Sozialdemokraten. Letzten Oktober war sie mit Sepp zu einer Demonstration nach Steyr hinuntergegangen, dabei hatte sie Franz kennengelernt. Im Herbst waren sie dann öfters die Enns entlanggewandert. Am Anfang hielten sie Abstand, bald gingen sie Hand in Hand. Zur Verabschiedung umarmten sie einander und Franz hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Erstmals in ihrem Leben durchrieselte Maria dieses Gefühl, von der Stirn über den Hals bis zum Bauch. Sie konnte es kaum erwarten ihn wiederzusehen. Beim letzten Treffen im Dezember hustete er ständig und schien dünner geworden zu sein. Er hatte sich eine Mund-Nasen-Maske gebastelt. Damit würde es mit dem ersten richtigen Kuss erst recht nichts werden, hatte sie damals gedacht. Einige Tage vor Weihnachten kam er nicht zum vereinbarten Treffpunkt. Maria wartete eine Stunde. Was konnte sie tun? Sie wusste nicht, ob er seiner Mutter etwas über ihre Freundschaft gesagt hatte. Zu Silvester hatte sie Sepp gefragt, ob er etwas von Franz wisse, er schüttelte den Kopf. Am Dreikönigstag hielt sie es nicht mehr aus, ging zu Franz nach Hause und klopfte an ein Fenster. Franz Bruder öffnete und berichtete ihr, dass Franz sechs Tage auf einen Röntgentermin im Krankenhaus warten hatte müssen und nachdem der Ausbruch bestätigt worden war, gab es kein freies Bett. Dann war es zu spät. Wenige Tage darauf war er gestorben. Seine Mutter saß neben dem Ofen, schaute sie nicht an, weinte in ihre Schürze. Die kleine Schwester spielte am Lehmboden, sie schien von alledem nicht betroffen.

Deinen Franz hat es auch erwischt. Ich will nicht, dass wir alle vor die Hunde gehen , riss Sepp Maria aus ihren Gedanken. Sie gingen langsam weiter. Der Franz ist ein weiteres Opfer der Armut, der Wohnverhältnisse und der Unfähigkeit dieser Regierung, ein Gesundheitssystem für alle zu schaffen. Wir müssen etwas tun! Es wird täglich schlimmer, die Christlich-Sozialen versuchen, unsere Krankenkassen zu zerschlagen. Franz könnte noch leben. Maria spürte, wie Tränen in ihre Augen stiegen.

Leider können wir daheim nicht offen darüber reden , setzte Sepp fort, du hast vorhin gehört, wo unsere Mutter steht. Vater kann sich gegen sie nicht durchsetzen. Nach dem heutigen Streit habe ich versucht, ihn zu überzeugen, Mutter endlich die Augen zu öffnen. Er hat mit den Schultern gezuckt und mir stattdessen ein Geheimnis anvertraut. Er ist einverstanden, dass ich mit dir darüber rede. Magst du davor einiges zu unsrer Geschichte hören? , fragte er rhetorisch und legte gleich los:

Sepp erzählte ihr, wie alles angefangen hatte und wie sich die Lebensverhältnisse der Arbeiter seit 1925 weiter verschlechtert hatten. Nachdem die Lebensmittel sprunghaft teurer wurden, waren zwar Anfang dieses Jahres die Löhne etwas angehoben worden, aber der tägliche Bedarf einer Familie war damit nicht zu decken. Im Herbst 1925 kam es zu neuen Lohnforderungen der Arbeiter und Angestellten.

Du weißt , sagte er ganz langsam, auch unseren Vater haben sie ausgesperrt und für mich hatten sie nach der Lehre keine Arbeit mehr. Uns allen verweigern sie jede Unterstützung, obwohl wir in unsere Versicherungen selbst eingezahlt haben.

Was wollen die Christlich-Sozialen damit erreichen?

Sie versuchen, seit Beginn der Republik zu verhindern, dass Sozialisten an die Macht kommen. Sie haben alles unternommen, damit die Aktivitäten der Wiener Genossen im Wohnbau sowie in der Schul- und Sozialpolitik nicht in den Bundesländern ankommen würden. Otto Glöckels Ideen einer Gesamtschule, ohne klerikalen Einfluss, fürchten sie besonders. Wir seien eine Seuche, sagen sie.

Maria hing an seinen Lippen. Sie nickte immer wieder, während er weitererzählte.

Vater ist nur mehr traurig und denkt an Flucht. Er plant, mit uns aus Steyr wegzuziehen. Ernsthaft.

Sepp schaute Maria an, ließ ihr etwas Zeit, wartete auf ihre Reaktion. Sie sagte nichts.

1926 haben sie dann für uns die Bettel-Freitage mit den Zwei-Groschen-Töpfen eingeführt. Es reicht ihnen nicht, uns die Löhne zu nehmen, sie wollen uns erniedrigt und rechtlos sehen, wollen uns die Ehre rauben. Wir müssen etwas tun , wiederholte er. Hast du gehört, was Werksdirektor Herbst über uns Arbeiter sagt?

Ja, dieser Herbst ist ein Arschloch. Aber was heißt das für unsere Familie? Ich weiß, Vater schweigt fast immer, wenn Mutter die Christlich-Sozialen verteidigt. Es ist auch schwer, gegen sie anzukommen. Aber dass er deswegen wegziehen will? , unterbrach Maria ihren Bruder. Er schloss kurz die Augen und zog Ober- und Unterlippe in den Mund hinein. Sein Zeichen stumm zu bleiben. Maria sah warum. Der Koska Karl kam ihnen mit seiner Freundin entgegen. Sepp hatte manchmal von seinem Verdacht gesprochen, dass die Koskas von der Heimwehr als Spitzel ins Werk eingeschleust worden wären. Sie wohnten in ihrer Baracke, in einer Nachbarwohnung. Schweigend nahm Maria mit dem Paar Augenkontakt auf. Karls Lebensgefährtin grüßte freundlich, daraufhin hob auch er seinen Hut ein wenig und grinste.

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Luis Stabauer lebt als freier Schriftsteller in Wien und Seewalchen am Attersee. Als Autor und Welt-Reisender beschäftigt er sich hauptsächlich mit Menschen und deren gesellschaftspolitischen Bezugsrahmen in Europa und Lateinamerika. Zuletzt erschienen die Romane "Wann reißt der Himmel auf" (2014), "Atterwellen" (2015), "Die Weißen" (2018), "Brüchige Zeiten" (2020) sowie der Gedichtband "UND" (2020).