Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
220 Seiten
Deutsch
Beck C. H.erschienen am16.03.2023
Franziska Grillmeiers Aufzeichnungen erzählen detailliertund mit großem Einfühlungsvermögen vom Alltag an Europas Grenzen und vergegenwärtigen die systematischen Rechtsbrüche, die dort tagtäglich begangen werden. Ein genauso bewegender wie erschütternder Bericht über jene, deren Ausgrenzung nach ihrer Ankunft in Europa kein Ende nimmt, und über die unmenschliche Realität an den Rändern der Europäischen Union. Die Journalistin Franziska Grillmeier ist 2018 auf die griechische Insel Lesvos gezogen, wo sich zwischenzeitlich das größte Fluchtlager Europas befand. In ihrem Buch nimmt sie auch die Momente zwischen den Schlagzeilen in den Blick, taucht tief in die Lebenswirklichkeit der geflüchteten Menschen ein und zeigt, wie sie sich nach ihrer Ankunft in Europa erneuten Traumatisierungen widersetzen müssen. Grillmeier bewegt sich in Moria, in der Hafenstadt, im Norden der Insel und reist an weitere europäische Grenzorte, an denen die Systematik der Ausgrenzung ähnlich funktioniert. Im Mittelpunkt des Buches stehen die Geflüchteten selbst, die in zahllosen Gesprächen zu Wort kommen und deren Lebenswege erzählt werden. Die Autorin zeigt, was das Lagerleben mit einem Menschen macht - und reflektiert zugleich, wie das Inselleben auf sie selbst zurückwirkt: Während Grillmeier als Beobachterin aus freien Stücken kommen und gehen kann, endet dort für die Geflüchteten die Erzählung des offenen Europas. Auch die Kriminalisierung der humanitären Hilfe, der Abbau der Pressefreiheit, die Überlastung der Inselbewohner:innen und der Zynismus der Politik in Brüssel und Athen spielen eine zentrale Rolle. So zeichnet Grillmeier durch ihre stillen, doch eindringlichen Begegnungen ein erschütterndes Bild der Menschenrechtsverletzungen an den Rändern der Europäischen Union.

Franziska Grillmeier, 1991 in München geboren, berichtet als freie Journalistin von der Insel Lesvos und anderen Grenzorten. Sie schreibt u. a. für ZEIT Online, taz, Süddeutsche Zeitung, WDR, Guardian und BBC. Ihre Reisen führten sie immer wieder auch jenseits der europäischen Ränder. Zuletzt war sie Mitglied des Recherchekollektivs zu den neuen Aufnahmelagern «Das neue Moria» für das «ZDF Magazin Royale», «Ippen Investigativ» und «FragDenStaat» und Teil des Doku-Podcasts «Memento Moria».
mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookPDF1 - PDF WatermarkE-Book
EUR17,99
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR17,99

Produkt

KlappentextFranziska Grillmeiers Aufzeichnungen erzählen detailliertund mit großem Einfühlungsvermögen vom Alltag an Europas Grenzen und vergegenwärtigen die systematischen Rechtsbrüche, die dort tagtäglich begangen werden. Ein genauso bewegender wie erschütternder Bericht über jene, deren Ausgrenzung nach ihrer Ankunft in Europa kein Ende nimmt, und über die unmenschliche Realität an den Rändern der Europäischen Union. Die Journalistin Franziska Grillmeier ist 2018 auf die griechische Insel Lesvos gezogen, wo sich zwischenzeitlich das größte Fluchtlager Europas befand. In ihrem Buch nimmt sie auch die Momente zwischen den Schlagzeilen in den Blick, taucht tief in die Lebenswirklichkeit der geflüchteten Menschen ein und zeigt, wie sie sich nach ihrer Ankunft in Europa erneuten Traumatisierungen widersetzen müssen. Grillmeier bewegt sich in Moria, in der Hafenstadt, im Norden der Insel und reist an weitere europäische Grenzorte, an denen die Systematik der Ausgrenzung ähnlich funktioniert. Im Mittelpunkt des Buches stehen die Geflüchteten selbst, die in zahllosen Gesprächen zu Wort kommen und deren Lebenswege erzählt werden. Die Autorin zeigt, was das Lagerleben mit einem Menschen macht - und reflektiert zugleich, wie das Inselleben auf sie selbst zurückwirkt: Während Grillmeier als Beobachterin aus freien Stücken kommen und gehen kann, endet dort für die Geflüchteten die Erzählung des offenen Europas. Auch die Kriminalisierung der humanitären Hilfe, der Abbau der Pressefreiheit, die Überlastung der Inselbewohner:innen und der Zynismus der Politik in Brüssel und Athen spielen eine zentrale Rolle. So zeichnet Grillmeier durch ihre stillen, doch eindringlichen Begegnungen ein erschütterndes Bild der Menschenrechtsverletzungen an den Rändern der Europäischen Union.

Franziska Grillmeier, 1991 in München geboren, berichtet als freie Journalistin von der Insel Lesvos und anderen Grenzorten. Sie schreibt u. a. für ZEIT Online, taz, Süddeutsche Zeitung, WDR, Guardian und BBC. Ihre Reisen führten sie immer wieder auch jenseits der europäischen Ränder. Zuletzt war sie Mitglied des Recherchekollektivs zu den neuen Aufnahmelagern «Das neue Moria» für das «ZDF Magazin Royale», «Ippen Investigativ» und «FragDenStaat» und Teil des Doku-Podcasts «Memento Moria».
Details
Weitere ISBN/GTIN9783406799396
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum16.03.2023
Seiten220 Seiten
SpracheDeutsch
Illustrationenmit 1 Karte
Artikel-Nr.11053017
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Prolog


Den runden Holztisch in der Küche wollte ich am ersten Tag loswerden. Ein Bein war zu kurz und rutschte immer wieder von dem notdürftig daruntergeklemmten Zettel, der anschließend wie ein gepfählter Staubfänger unter den Kühlschrank schoss. Nach jedem Frühstück verfingen sich die Brotkrümel in den tiefen Rillen auf der Oberfläche, so präzise und unangenehm wie auf dem Klettverschluss einer Sofaritze. Trotz hartnäckiger Putzversuche blieb er aus unerfindlichen Gründen stets klebrig, sodass jeder, der Arme und Ellenbogen auf ihm aufstützte, ein paar Unterarmhärchen opferte.

«Macht es Ihnen was aus, wenn ich ein paar Interessierten am Nachmittag die Wohnung zeige?», fragte mich die Vermieterin nach der ersten Woche. Ich nahm meine Notizen und mein Handtuch und ging durch den Pinienwald hinunter zur Küste. Erst zum zweiten Mal war ich für eine etwas längere Recherchereise auf die Insel gekommen. Ein Vormittag voller Gespräche und Begegnungen lag hinter mir. Drei Tage später war mein Notizbuch gefüllt und die kleine Wohnung weiterhin unvermietet. Nachdem auch das vierte Paar nach der Besichtigung abgesagt hatte, blieb ich am Küchentisch sitzen. Einen Monat später gab ich in München zwei Umzugskisten auf. Ihr Ziel: die Hafenstadt Mytilini auf Lesvos.

Anfangs hatte ich noch gedacht, es würde sich nicht lohnen, für die kurze Zeit einen neuen Tisch anzuschaffen. Einen Winter würde er schon noch durchhalten. Er hielt fünf weitere Winter lang. Heute klebt der alte Holztisch noch immer an jedem Ellbogen fest. Und die kleine Wohnung, die ich im Spätsommer 2018 für zwei Wochen auf der Insel gemietet hatte, ist zu meinem temporären Zuhause geworden. Doch anders als Tausende Menschen, die in den letzten Jahren über das Meer auf die Insel flohen, hatte ich meine Heimat dafür nicht verlassen müssen. Ich hatte wählen können - und mich entschieden, auf der Insel zu bleiben.

Es war eine Zeit, in der die internationalen Medien von den ankommenden Menschen kaum noch Notiz nahmen. Moria war zu einem Baustein der europäischen Abschreckungsarchitektur geworden. Die EU-Türkei-Erklärung vom März 2016 hatte Lesvos zu einer Pufferzone vor Europa werden lassen, in der Menschen fortan festgehalten wurden, bis ihre Asylanträge wieder in den Schleifen der Bürokratie auftauchten. Das konnte Jahre dauern.

Die eigens auferlegte Rechtsstaatlichkeit und die völkerrechtliche Idee der Schutzverantwortung wurden in Moria auf die brutalste Weise ausgehebelt. Der humanitäre Ausnahmezustand, der nach 2015 zunehmend zu einer orchestrierten Unterkunftskrise wurde, diente immer mehr dazu, möglichst viele Menschen von der Flucht nach Europa abzuschrecken.

*

Das erste Mal kam ich im Herbst 2017 auf die Insel, um meine Freundin Armita zu besuchen. Sie hatte ihren Job in einem fensterlosen Büro in London hingeschmissen und war aus unserer WG ausgezogen, um in Moria als Übersetzerin und Sozialarbeiterin zu arbeiten. Im Camp lebten damals etwa 6000 Menschen auf einem ehemaligen Militärgelände, das 2013 als Abschiebegefängnis und ein Jahr später als Erstaufnahmezentrum für Flüchtende fungierte.

Ursprünglich war Moria als Registrierungslager für 2800 Menschen ausgelegt gewesen. Die Geflüchteten sollten hier nur gemeldet und nach spätestens 30 Tagen weitergeschickt werden: in Richtung Athen oder Thessaloniki, um von dort über den Balkan nach Deutschland, Frankreich oder Schweden weiterzureisen. Nach dem Inkrafttreten der EU-Türkei-Erklärung im März 2016 nahm die Zahl der ankommenden Menschen zwar schlagartig ab, doch alle Geflüchteten, die fortan auf Lesvos ankamen und in Griechenland einen Asylantrag stellten, mussten ihr komplettes Verfahren erstmal in Moria durchlaufen, bevor sie die Insel wieder verlassen durften. Die Erklärung sah unter anderem vor, dass jede Person, deren Asylantrag als unzulässig gewertet wurde, auf Kosten der EU in die Türkei zurückgebracht wurde. Anträge über Anträge stapelten sich daraufhin auf den Schreibtischen der überlasteten griechischen Behörden; die Unterstützung des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) half da kaum weiter. Bereits im Mai 2016 waren die Hotspot-Lager in Lesvos, Chios und Samos überfüllt. Auf Lesvos etwa saßen die Menschen in den Olivenbaumfeldern rings um Moria buchstäblich in Sommerzelten fest. Niemand hatte die nötige Infrastruktur auf den Inseln geschaffen, damit sie unter würdevollen Bedingungen auf ihren Asylantrag warten konnten.

Da die Zahl der ankommenden Menschen auf den Inseln stark zurückging, kehrten Brüssel, Berlin und die anderen europäischen Regierungen dem Lager in Moria den Rücken zu. Binnen weniger Wochen wurde Moria zum größten Fluchtlager Europas - und damit zu einem Ort, der Tausende Menschen auf der Flucht einer erneuten Traumatisierung aussetzte. Daran konnten in den Folgejahren weder die Zeug:innenberichte der Menschen vor Ort, noch die Mahnungen des Anti-Folter-Komitees des Europarats, der Besuch von Angelina Jolie, unzählige Presseberichte oder eine Rede des Papstes etwas ändern.

Armita hatte mir die Lage vor Ort bereits an einem Januarmorgen 2017, noch lange vor meinem ersten Besuch ein paar Monate später im Herbst, in einem Videotelefonat beispielhaft illustriert. Sie versuchte gerade, einen Jungen aus Afghanistan zu finden, dem sie bei der Vorbereitung für sein Asylinterview unterstützen sollte. «Es ist ja nicht so, dass es hier eine Klingel an den Zelten gibt», sagte sie. «Wenn es überhaupt noch Zelte gibt.»

Durch ihre Kamera waren Dutzende Partywurfzelte zu sehen, die seitlich von Menschenarmen und -beinen ausgebeult und entlang einer kleinen Betonstraße aufgereiht waren. In den umliegenden Olivenbaumfeldern ragten einige Zeltstangen kreuz und quer in die Landschaft, dazwischen lag ein eingebrochenes Zelttuch, das der Schnee unter sich begraben hatte. Einige Bewohner:innen waren unter den Vorstand des Camp-Eingangs gezogen, um hier mit nassen Schuhen und Decken die Nacht zu verbringen. Es schneite nicht oft auf der Insel, doch im Winter liefen die Zelte bei jedem Regenschauer wie Spülwannen voll. Auch gegen die Kälte hatte das Camp-Management drei Winter in Folge nichts unternommen. Mit fatalen Folgen: Erst eine Woche vor unserem Telefonat waren drei Männer an drei unterschiedlichen Tagen in ihren Zelten nicht mehr aufgewacht. Die griechischen Behörden gingen davon aus, dass sie an einer Kohlenstoffmonoxid-Vergiftung gestorben waren, nachdem sie versucht hatten, ihre Klamotten im Zelt mit Feuerkohle zu trocknen. Für ihren Tod wurde auch zehn Monate später niemand zur Rechenschaft gezogen, ihre Todesursache wurde nie ganz aufgeklärt.

«Wie kann das sein?», fragte Armita. «In jeder anderen europäischen Stadt bringt man Menschen bei einem Sturm innerhalb von einer Stunde in einer warmen Turnhalle unter. Hier schafft es die EU seit drei Wintern nicht.»

*

Als ich mir ein halbes Jahr später selbst ein Bild von der Lage vor Ort machen wollte, klopfte mir Armita nach meiner Ankunft auf der kurzen Taxifahrt vom Flughafen aufgeregt aufs Knie. Endlich saßen wir wieder jenseits des Telefon-Displays nebeneinander, und wir hatten uns viel zu erzählen. Noch vom dunklen Flugzeugfenster aus hatte ich die feinen Umrisse der Insel erkannt, die wie ein grünes Platanenblatt aussah und sich mit runden Fingern ins Meer zu krallen schien. Der Flughafen war einer der schönsten, die ich seit langem gesehen hatte. Er war sehr ruhig und lag direkt an der Küste; neben einer kleinen, weißen Kapelle beugten sich die Trauerweiden ins Wasser.

Nach nur wenigen Minuten im Taxi tauchte vor der Ampel ein Hunderudel neben unseren Autofenstern auf. Bei jeder neuen Anfahrt versuchten sie, in die Autoreifen zu beißen. Armita klopfte ans Fenster. «Das machen sie normalerweise nicht», sagte sie entschuldigend, als hätte sie die Kontrolle über ihre eigenen Haustiere verloren. Wir stemmten uns etwas angespannt in die Sitze, weil wir jederzeit damit rechneten, gleich Zeuginnen eines oder mehrerer eingequetschter Hundebeine unter dem Auto zu werden. Neben unserem Taxi zwängten sich zwei Motorräder durch den Verkehr, dann bog auch noch ein Bus auf unsere Spur ab. Die Ruhe des Anflugs war verflogen.

An einer Ampel am Sappho-Platz, dem Hauptplatz von Mytilini, drehten die Hunde endlich ab, weil sie von einem anderen Rudel abgelenkt wurden, und Armita und ich ließen uns erleichtert auf die Rückbank sinken. «Willkommen», sagte sie. Doch auch in den folgenden Tagen, als ich zusammen mit Vincent Haiges, einem befreundeten Fotografen, zu Recherchezwecken mit dem Bus zum Lager fuhr oder auf dem Rücksitz eines Mopeds saß, hörte ich...
mehr