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Nervensystem

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
288 Seiten
Deutsch
AKI Verlagerschienen am23.02.20231. Auflage
Sie ist Astrophysikerin und kämpft im »Land der Gegen­wart« mit ihrer Doktorarbeit. Sie kommt aus dem »Land der Vergangenheit«, einem Ort, der in ihrer Erinnerung durch persönliche und politische Tragödien belastet ist. Ihr Partner ist Gerichtsmediziner, der die Knochen von Opfern staatlicher Gewalt analysiert und sich gerade von einer Explosion auf einer Baustelle erholt, die ihn fast getötet hätte. Sie wird von einer Schreibblockade geplagt und wünscht sich, sie würde krank, um eine Entschuldi­gung für ihre mangelnden Fortschritte zu haben. Dann treten bei ihr mysteriöse Symptome auf. Während ihre Angst wächst, wird die Anziehungskraft der Vergangen­heit stärker und stärker, und ihre Familie rückt ins Blick­feld: der verwitwete Vater, die Stiefmutter, die Geschwis­ter. Jede und jeder von ihnen hat eigene Erfahrungen mit Krankheit und Gewalt gemacht, und schließlich werden die Systeme aufgedeckt, die sie zusammenhalten und zu­gleich atomisieren. Nervensystem von Lina Meruane ist die außergewöhn­liche klinische Biographie einer Familie - voller Zunei­gung und Groll, dunklem Humor und verschütteter Ge­heimnisse, in der Traumata als Krankheiten spürbar und sichtbar werden - Krankheiten, die nicht nur den Körper, sondern auch die Familien und die Geschichte der Län­der, in denen wir leben, heimsuchen können. Ein elek­trisierender Roman über Krankheit, Vertreibung und das, was uns zusammenhält.

LINA MERUANE gilt als eine der profiliertesten Stimmen der chilenischen Gegenwartsliteratur. 1970 kam sie in Santiago de Chile zur Welt, seit 2000 lebt sie in New York und unterrichtet dort Lateinamerikastudien an der NYU. Sie ist Gründerin und Direktorin des in New York ansässigen unabhängigen Verlags Brutas Editoras. Meruane debütierte 1998 mit dem Erzählband Las Infantas; inzwischen ist ihr ?uvre auf ein vielgestaltiges Werk angewachsen, das Romane ebenso umfasst wie Essays zur Palästinafrage (Volverse palestina, 2013) oder eine Anthologie über die Spuren von Aids in der lateinamerikanischen Literatur. Neben Auszeichnungen in ihrer Heimat Chile erhielt sie 2011 den Anna-Seghers-Preis für Internationale Literatur und 2017 ein Stipendium des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Nervensystem ist ihr fünfter Roman, der 2019 auf Spanisch und 2021 auf Englisch erschien und in viele Sprachen übersetzt wird.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR18,99

Produkt

KlappentextSie ist Astrophysikerin und kämpft im »Land der Gegen­wart« mit ihrer Doktorarbeit. Sie kommt aus dem »Land der Vergangenheit«, einem Ort, der in ihrer Erinnerung durch persönliche und politische Tragödien belastet ist. Ihr Partner ist Gerichtsmediziner, der die Knochen von Opfern staatlicher Gewalt analysiert und sich gerade von einer Explosion auf einer Baustelle erholt, die ihn fast getötet hätte. Sie wird von einer Schreibblockade geplagt und wünscht sich, sie würde krank, um eine Entschuldi­gung für ihre mangelnden Fortschritte zu haben. Dann treten bei ihr mysteriöse Symptome auf. Während ihre Angst wächst, wird die Anziehungskraft der Vergangen­heit stärker und stärker, und ihre Familie rückt ins Blick­feld: der verwitwete Vater, die Stiefmutter, die Geschwis­ter. Jede und jeder von ihnen hat eigene Erfahrungen mit Krankheit und Gewalt gemacht, und schließlich werden die Systeme aufgedeckt, die sie zusammenhalten und zu­gleich atomisieren. Nervensystem von Lina Meruane ist die außergewöhn­liche klinische Biographie einer Familie - voller Zunei­gung und Groll, dunklem Humor und verschütteter Ge­heimnisse, in der Traumata als Krankheiten spürbar und sichtbar werden - Krankheiten, die nicht nur den Körper, sondern auch die Familien und die Geschichte der Län­der, in denen wir leben, heimsuchen können. Ein elek­trisierender Roman über Krankheit, Vertreibung und das, was uns zusammenhält.

LINA MERUANE gilt als eine der profiliertesten Stimmen der chilenischen Gegenwartsliteratur. 1970 kam sie in Santiago de Chile zur Welt, seit 2000 lebt sie in New York und unterrichtet dort Lateinamerikastudien an der NYU. Sie ist Gründerin und Direktorin des in New York ansässigen unabhängigen Verlags Brutas Editoras. Meruane debütierte 1998 mit dem Erzählband Las Infantas; inzwischen ist ihr ?uvre auf ein vielgestaltiges Werk angewachsen, das Romane ebenso umfasst wie Essays zur Palästinafrage (Volverse palestina, 2013) oder eine Anthologie über die Spuren von Aids in der lateinamerikanischen Literatur. Neben Auszeichnungen in ihrer Heimat Chile erhielt sie 2011 den Anna-Seghers-Preis für Internationale Literatur und 2017 ein Stipendium des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Nervensystem ist ihr fünfter Roman, der 2019 auf Spanisch und 2021 auf Englisch erschien und in viele Sprachen übersetzt wird.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783311703884
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum23.02.2023
Auflage1. Auflage
Seiten288 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1474 Kbytes
Artikel-Nr.11109524
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

explosion (monate vorher)

Ein paar Tage beurlaubt. Mit dem Verbot, aufzustehen und sich der geringsten Aufregung auszusetzen. Das hatte sie ihm am Abend zuvor noch einmal eingeschärft, doch er wagte es, die Tür einen Spalt zu öffnen und den Arm zum Boden zu strecken. Seine Hand umgriff die eingerollte Zeitung, von einem Gummi umklammert. Die Zeitung, die er in den Tagen seiner Genesung nicht lesen durfte. Die Tageszeitung, die er vor ihr verstecken würde.

 

Sanft schloss er die Tür, um sie nicht zu wecken, und verharrte reglos, wartete. Reglos. Mit dem Gefühl, dass sich etwas in der Luft verfangen hatte, dort draußen, irgendwo im Gebäude. Ein Säuseln. Ein Echo, wohl nicht mehr als eine auditive Halluzination. Amboss und Steigbügel vermittelten ihm bloß unmerkliche Hammerschläge in einem seiner Ohren. Er wusste, dieses Krachen existierte nur in seinem Innern. Er konnte seinem Trommelfell noch immer nicht trauen, doch er ahnte, dass es diesmal ein Laut war, der von außerhalb seines Körpers kam. Der rauschende Sonntag der Nachbarn. Ihr Schnarchen. Das Blubbern des Espressokochers in der Küche. Das war es nicht, weder Regen noch Kaffee noch eine verstopfte Nase. Es war ein energisches schwingendes dringendes Geräusch. Und er sah wieder hinaus, sein Gesicht gezeichnet von Verbrennungen, das Ohr verbunden, und wieder hörte er ein zitterndes e im Gang, ein gedehntes eeeee, das in Konsonanten überging. Ein latentes heeeeelp, anhaltend. Eine Stimme, die um Hilfe rief?

 

Sie würde nachher mit ihm schimpfen, weil er in T-Shirt und Unterhose die Schwelle überquert hatte, hinausgegangen war, auf der Suche nach einer vielleicht erfundenen Stimme hinter Mauern Ohren asymmetrischem Schorf. Weil er trotz verordneter Bettruhe allein die Treppen hinuntergegangen, einem Gang um Ecken gefolgt, wieder hochgegangen war, bis er vor der Tür der Wohnung stand, aus der dieses gedehnte Wort zu kommen schien.

***

Beschreibung eines aschgrauen Kopfs, vom Alter gebeugt. Er rührt sich kaum, als er hastige Schritte hört.

***

Das ist ein Altersheim, lautete ihr bissiger Kommentar, als er sie geweckt und ihr von dem gestürzten Alten erzählt hatte, der aus der Nase blutete. Von dem Arm, auf den Fliesen ausgestreckt, immer noch die Zeitung wie eine Fackel in der Hand. Wer weiß, wie lange er dort schon lag, im zugigen Flur hingefallen, sagte er, wollte ihren Vorwurf ersticken, dass er in seinem Zustand allein hinausgegangen war. Ein Glück, dass du ihn hast retten können, murmelte sie mit einer Grimasse, kniff die Augen zusammen, versprühte Empörung.

 

Doch er hatte ihren stillschweigenden Vorwurf bereits umschifft, ihn hatte das Bild das Alten verstört, den er auf einen Stuhl gehievt hatte, mit einem Glas Wasser. Er konnte nicht vergessen, dass er einen Notarzt für ihn hatte rufen wollen, doch der Alte darauf bestand, dass er das unterließ. Gehen Sie bitte, flehte er. Und er war gegangen, hatte jedoch in seinem Innern den Alten mitgenommen.

 

Dabei hatte er ihn gar nicht nach seinem Namen gefragt oder es nicht gewagt. Was nicht benannt wurde, lief Gefahr, zu verschwinden.

***

Einen gereizten Muskel oder Nerv, ein Zucken zwischen Auge und Wange sah sie in seinem Gesicht, als seine Chefin ihn bat, die Tage seiner Krankschreibung zu verkürzen und die Forschungen vor Ort zu übernehmen, obwohl sie wusste, dass er sich der Ausgrabungsstätte nicht nähern sollte, die ihn geradewegs in die Klinik geschickt hatte, die anderen auf den Friedhof. Der Psychiater hatte ihm verordnet, sich von diesem Graben fernzuhalten, von allen Gräben, für eine gewisse Zeit. Aber die Direktorin konnte sich nicht darum kümmern, und ihr Stellvertreter war er.

 

Ich muss ein paar Tage fort, wegen streng persönlicher Angelegenheiten. So begann die Mitteilung der Direktorin an ihr Team. Nur ihm gegenüber hatte sie auf diesen Euphemismus verzichtet und ihm anvertraut, dass sie morgens beim Aufwachen ihren Mann mit allzu offenen, flehenden Augen vorgefunden hatte. Weder schlafend noch wach.

 

Und springst du ein?, fragte sie laut. What would you do?, entgegnete er, zuckte mit den Schultern und ließ sein schallendes Türknallen folgen.

***

Sie begriffen, dass der Alte aus dem fünften Stock gestorben war, als unten am Eingang eine Anzeige seine Wohnung zum Verkauf anbot. Mit dick geäderten Händen öffnete ihnen die Maklerin die Tür, die Haut in ihrem Ausschnitt schlaff, aber nicht im kürzlich gelifteten Gesicht, das strahlte vor Creme und angemessenen Krediten. Sie wollte ihnen verheimlichen, was sie im Grunde bereits wussten, gab jedoch resigniert zu, dass manche in Hospizen warteten, sitzend gefallen ohnmächtig japsend, bis es sie erwischte, und andere ihr Leben lieber im Krankenhaus beendeten, von Unbekannten gepflegt. Nicht dieser alte Mann, der sich dafür entschieden hatte, allein in der eigenen Wohnung zu sterben. Zu dem Zweck hatte er die 45 Quadratmeter gekauft, die die Maklerin ihnen jetzt zeigte. Ebendiese Frau mit der faltigen, frisch gestärkten Haut hatte sie dem Verstorbenen verkauft, vor wenigen Monaten erst, sie könne ihnen einen Rabatt anbieten. Ob sie interessiert seien?

***

Er träumte, dass er den greisen Mann öffnete, seine Haut aufriss wie ein Tuch, mit beiden Händen, bevor er ihm das Brustbein brach und sich selbst dort drinnen fand, versengt. Andere Male fand er nur Bürsten Nadeln Seilzüge im Innern des Alten. Ein Schnurtelefon voll Kupfer. Ein Ohr. Ein blutiges Skalpell. Manchmal trug der Alte die Arbeitskleidung der toten Grabungshelfer. Manchmal war er selbst einer der Arbeiter oder eines der Gerippe im Graben, bevor die Explosion es zu Staub werden ließ.

 

Manchmal stöhnte er im Schlaf oder murmelte Wörter in einer Sprache, die sie nicht entschlüsseln konnte. Sie rüttelte ihn. Er wachte schwitzend auf, mit einem Stechen in der Brust, glaubte, er bekomme einen Herzinfarkt.

 

Das Herz war ein Muskel, der erschlaffen konnte.

 

Er warf ihr vor, ihm chirurgische Albträume in den Kopf gepflanzt zu haben. Du und deine Familie, Körper-Junkies, hörte sie ihn sagen, während er die Laken von sich warf und mit der Faust so hart gegen die Wand schlug, dass es sie schüttelte. Als würdest du nicht mit schlimmeren Körpern arbeiten, geknebelt gebrochen in Säure aufgelöst explosiv. Die verminten des letzten Grabens musste sie ihm nicht in Erinnerung rufen. Die Splitter jener Knochen, in sein Gesicht gegraben, das verstümmelte Ohr, das geplatzte Trommelfell, das Gesicht bespritzt von dem Blut der Arbeiter, die ihm als Schild gedient hatten. Ein Wunder, dass du lebst, schimpfte sie, die sich nur harmlosen verstorbenen Sternen widmete.

***

Immer war er jähzornig gewesen, aber die Explosion hatte ihn noch bitterer werden lassen.

***

Der Vater schätzte diesen Beruf gering, der weder diagnostizierte noch heilte, ja nicht einmal die Absicht hatte. Er war der Meinung, dieser junge Gerichtsmediziner greife nur ein, wenn es bereits zu spät sei, und nur, um Todesdaten mithilfe von C14 festzustellen. Anstatt ihn beim Namen zu nennen, fragte der Vater immer nach dem jungen Mann oder dem Historiker, dem mit den Knochen. Erst als er in die Notaufnahme kam, verdiente er sich den väterlichen Respekt. Der Vater fragte nach jeder einzelnen seiner Quetschungen und war überrascht, dass er sich nicht einen Knochen gebrochen hatte. Bestimmt dachte er, dass derselbe Vorfall seinen Erstgeborenen zu Staub zermahlen hätte.

 

Sie, die im Krankenhaus die leuchtende Projektion seines Skeletts bewundert hatte, konnte bestätigen, dass er übermäßig strahlte, aber ganz war.

***

Seine einzige Schwester lag im Sterben, wie alle, von Kindheit an, und wurde Jahr um Jahr älter, wie so viele, jeden April.

 

Während er krankgeschrieben war, rief sie ihn Tag für Tag an. Die Nummer seiner alleinstehenden Schwester flimmerte auf dem Display, das Telefon durchbohrte die Stille, doch da er das Klingeln selten hörte, nahm meist sie ab. Er warf seiner Schwester einen lautstarken Gruß zu, der das weite Land durchqueren sollte, das sie trennte. Hob die Stimme so sehr, dass sie die Druckwellen des Gesprächs spürte, sogar hinter geschlossener Tür.

 

Wie mochten sie sich bloß verstehen, dachte sie, wenn ihre Sätze sich nicht abwechselten, sondern überlagerten, indem sie die Dezibel erhöhten.

 

Du machst mich noch taub, sagte sie verärgert, den offenen Computer unter dem Arm.

 

Keine gute Idee, ihm gegenüber von Taubheit zu reden. Das Gehör hatte er verloren.

***

Der Heizkörper, der Dampf ansammelt und leise zischt, das ferne Pfeifen der Züge, die den nächtlichen Horizont der Gegenwart durchschneiden. Die Krankenwagen, das Gehupe, die trommelnden Motoren in der Nachbarschaft. Er wachte auf und wusste genau, wie spät es war, irrte sich höchstens um ein paar Minuten.

 

Er schlief so wenig. So kannst du nicht weitermachen, sagte sie, die sich von Kindheit an auf den Balkon gelegt und Sterne gezählt hatte, wenn sie nicht einschlafen konnte. Nimm etwas.

 

Er nahm nichts, denn selbst diese Entscheidung strengte zu sehr an.

***

Wirst du die Grabung übernehmen?, fragte sie. Du würdest das Gleiche tun, sagte er und kratzte an dem...
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LINA MERUANE gilt als eine der profiliertesten Stimmen der chilenischen Gegenwartsliteratur. 1970 kam sie in Santiago de Chile zur Welt, seit 2000 lebt sie in New York und unterrichtet dort Lateinamerikastudien an der NYU. Sie ist Gründerin und Direktorin des in New York ansässigen unabhängigen Verlags Brutas Editoras. Meruane debütierte 1998 mit dem Erzählband Las Infantas; inzwischen ist ihr OEuvre auf ein vielgestaltiges Werk angewachsen, das Romane ebenso umfasst wie Essays zur Palästinafrage (Volverse palestina, 2013) oder eine Anthologie über die Spuren von Aids in der lateinamerikanischen Literatur. Neben Auszeichnungen in ihrer Heimat Chile erhielt sie 2011 den Anna-Seghers-Preis für Internationale Literatur und 2017 ein Stipendium des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Nervensystem ist ihr fünfter Roman, der 2019 auf Spanisch und 2021 auf Englisch erschien und in viele Sprachen übersetzt wird.