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Wir leben hier, seit wir geboren sind

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
176 Seiten
Deutsch
Arche Literatur Verlagerschienen am16.03.20231. Auflage
Eine atemberaubende Fabel über die Gewalt der Väter, vor allem aber über die Widerstandskraft der Töchter Gewinner des Hamburger Literaturpreises 2021, Teilnehmer am 46. Bachmann-Wettbewerb - Andreas Moster gehört zu den sprachmächtigsten Autor:innen seiner Generation. Sein Roman ?Wir leben hier, seit wir geboren sind? erzählt in traumwandlerischen und doch messerscharfen Bildern von Stillstand und Aufbruch, von den Fesseln der Tradition und der Sehnsucht nach einer anderen Zukunft. In einem abgelegenen Bergdorf taucht ein Fremder auf und dreht alle Steine um. Fünf Freundinnen, die keine Kinder mehr sind, aber auch noch keine Frauen, sitzen auf dem Dorfplatz und beobachten ihn dabei. Der Mann, Georg Musiel, soll feststellen, dass dem Kalksteinbruch, ohne den das Dorf nicht überleben kann, nichts mehr abzutrotzen ist. Als es während seiner Besichtigung des Bruchs zu einem schweren Unfall kommt und Musiel verjagt wird, halten die Mädchen als Einzige zu ihm. Doch dann verschwindet eine von ihnen, und die strenge Ordnung der archaischen Gemeinschaft gerät aus den Fugen. Die Freundinnen ahnen, dass es einen anderen Ort für sie gibt, dass Freiheit möglich ist. Um sie zu erlangen, müssen sie sich gegen ihre Väter erheben.

Andreas Moster wurde 1975 in der Pfalz geboren. Er studierte Englische Philologie, Geschichte und Kommunikationswissenschaften und arbeitet als freier Übersetzer. 2017 erschien sein Debütroman Wir leben hier, seit wir geboren sind. Sein zweiter Roman Kleine Paläste wurde 2021 als Buch des Jahres mit dem Hamburger Literaturpreis ausgezeichnet. 2022 nahm Andreas Moster am 46. Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Er lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Hamburg.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR13,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextEine atemberaubende Fabel über die Gewalt der Väter, vor allem aber über die Widerstandskraft der Töchter Gewinner des Hamburger Literaturpreises 2021, Teilnehmer am 46. Bachmann-Wettbewerb - Andreas Moster gehört zu den sprachmächtigsten Autor:innen seiner Generation. Sein Roman ?Wir leben hier, seit wir geboren sind? erzählt in traumwandlerischen und doch messerscharfen Bildern von Stillstand und Aufbruch, von den Fesseln der Tradition und der Sehnsucht nach einer anderen Zukunft. In einem abgelegenen Bergdorf taucht ein Fremder auf und dreht alle Steine um. Fünf Freundinnen, die keine Kinder mehr sind, aber auch noch keine Frauen, sitzen auf dem Dorfplatz und beobachten ihn dabei. Der Mann, Georg Musiel, soll feststellen, dass dem Kalksteinbruch, ohne den das Dorf nicht überleben kann, nichts mehr abzutrotzen ist. Als es während seiner Besichtigung des Bruchs zu einem schweren Unfall kommt und Musiel verjagt wird, halten die Mädchen als Einzige zu ihm. Doch dann verschwindet eine von ihnen, und die strenge Ordnung der archaischen Gemeinschaft gerät aus den Fugen. Die Freundinnen ahnen, dass es einen anderen Ort für sie gibt, dass Freiheit möglich ist. Um sie zu erlangen, müssen sie sich gegen ihre Väter erheben.

Andreas Moster wurde 1975 in der Pfalz geboren. Er studierte Englische Philologie, Geschichte und Kommunikationswissenschaften und arbeitet als freier Übersetzer. 2017 erschien sein Debütroman Wir leben hier, seit wir geboren sind. Sein zweiter Roman Kleine Paläste wurde 2021 als Buch des Jahres mit dem Hamburger Literaturpreis ausgezeichnet. 2022 nahm Andreas Moster am 46. Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Er lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Hamburg.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783037900369
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum16.03.2023
Auflage1. Auflage
Seiten176 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.11232736
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1

Ein Mann kommt in unser Dorf und dreht die Steine um und die Köpfe der Mädchen. Die Steine liegen auf einer weißen Mauer, die das Dorf vor dem Hang schützt. Die Mädchen sitzen auf dem Dorfplatz und beobachten, wie der Mann die Steine umdreht. Der Mann schlendert an der Mauer entlang, hebt die Steine mit der rechten Hand hoch und legt sie verkehrt herum wieder zurück. Die Köpfe der Mädchen folgen den langsamen Bewegungen des Mannes, der an der Mauer entlanggeht. Er trägt einen Koffer in der linken Hand, seine schmale, hochgewachsene Gestalt ist leicht nach links geneigt, wegen der Schwere des Koffers. Die Mädchen haben gesehen, wie der Mann den Koffer aus dem Zug gehoben hat. Sie haben nichts zu tun, ihre Langeweile liegt in der schweren Luft wie ein Gewitter, ihre Hände liegen zwischen den Beinen, während sie den Mann beobachten, der an der weißen Mauer entlanggeht und die Steine umdreht. Als der Mann das Ende der Mauer erreicht, halten die Mädchen den Atem an. Der Mann dreht den letzten Stein um und stellt den Koffer ab. Es kann nun alles passieren: Der Himmel kann aufgehen, der Berg kann ins Tal stürzen, der Mann kann zu Boden gehen. Die Mädchen können ihn ausweiden, bei lebendigem Leib. Aber wir tun nichts. Sitzen nur da, die Hände zwischen unsere Beine gelegt, beobachten, wie der Mann den Koffer hochhebt und den Dorfplatz überquert, eine schmale, hochgewachsene Gestalt, die von außen in unser Dorf gekommen ist.

 

Noch in der Nacht träume ich von dem Mann. Das Gewitter ist zwischen den Bergen hängen geblieben und kann nicht fort. Immer wieder rollt es mit gesenktem Kopf gegen den Hang, donnert gegen die Felsen und taumelt wutentbrannt ins Dorf zurück, schleudert uns seine Blitze vor die Füße und spuckt uns ins Gesicht, bis es müde wird. Das sanfte Grollen treibt mich in den Schlaf. In meinem Traum öffnet der Mann seinen Koffer und nimmt eine Welt heraus, ein Messer, ein Geschwür im Unterleib, ein Kind. Der Mann legt die Dinge vor mir auf den Tisch: die Welt, das Messer, das Kind. Mit dem Messer schneidet er die Welt in zwei Hälften, ich soll mir eine aussuchen, aber die Hälften sind gleich, und ich kann mich nicht entscheiden. Das Geschwür im Unterleib brennt wie ein schwarzer, zu einer Nuss verdichteter Stern. Ich will den Mann bitten, es mit dem Messer herauszuschneiden, doch meine Stimme ist leer und hohl, und meine Bitte haucht tonlos gegen seine Wange.

»Sprich lauter, Kind.«

Ich bin kein Kind mehr. Ich kann nicht sprechen. Der Mann steckt seinen Finger in meinen Mund und prüft die Stimmbänder, indem er daran entlangfährt wie an einer Bogensaite. Ich mache ein Geräusch, und der Mann fährt mit dem Finger über meine Zunge und aus meinem Mund heraus.

»Du kannst sprechen, Kind.«

Ich bin kein Kind mehr. Ich versuche zu sprechen.

»Nimm die Nuss heraus.«

Meine Stimme ist das Krächzen eines am Boden liegenden Vogels. Der Mann hebt mich auf und nimmt mich in seine Hände. Als er mich mit dem Finger aufmacht, schreie ich und werde wach von dem Schrei.

Das Gewitter liegt geschlagen am Hang. Es hat die Gestalt eines Bocks, die Hufe ragen steif in die Straße hinein, der Kopf ruht in einer Mulde, die sich langsam mit Tränen und Speichel füllt. Die Hörner zerwehen im Mondlicht. Vom Fenster aus beobachte ich die Auflösung des Bocks. Die Wolkenfetzen ziehen nach Norden ab, tiefer in die Berge hinein, zur Ruhestatt der Böcke. Am Morgen wird die Luft klar sein, von allem Schmutz gereinigt. In diesem Frühjahr sind die Gewitter zahlreich gewesen. Der Mann kommt in ein sauberes Dorf, der Schmutz klebt an den Bäuchen der Böcke, mit denen sie über das Pflaster schleifen, Nacht für Nacht.

 

Der Traum folgt mir in den Tag hinein. Beim Frühstück schneide ich das Brot in zwei Hälften, mein Vater kann sich nicht entscheiden und schaut mich misstrauisch an, vielleicht ahnt er, was der Mann in der Nacht mit mir getan hat. Er nimmt eine Brothälfte und drückt meine Hand zusammen, die das Messer hält.

»Täusch mich nicht, mein Kind.«

Ich bin kein Kind mehr. Ich versuche zu sprechen.

»Lass meine Hand los.«

Der Blick meines Vaters geht durch mich hindurch, vor seinen Augen ziehen Schleier auf und verhüllen das leuchtende Blau, in dem meine Mutter vor langer Zeit ertrunken ist. Seine Hand drückt so fest, dass ich aufschreie und nicht wach werde davon. Das Messer klirrt auf den Tisch. Mein Vater blinzelt, atmet ein, legt den Kopf schief. Die Schleier vor seinen Augen zerwehen wie die Hörner des Bocks. Er lässt meine Hand los und steht vom Tisch auf, steckt sich das Brot in den Mund und kaut es zu Brei, täusch mich nie mehr, mein Kind, es ist mein Brot, das du da isst. Als er die Küche verlässt, weicht meine Mutter vor ihm zurück wie eine Gerte, die sich im Wind biegt. Sie lauscht den Schritten meines Vaters im Flur, dann setzt sie sich zu mir und untersucht meine Hand.

»Beweg deine Finger.«

»Ich kann nicht.«

»Versuch es.«

Ich schüttele den Kopf, meine Finger sind steif und rot vom Griff meines Vaters. Meine Mutter geht mit mir zum Spülbecken und lässt Wasser ein. Das Wasser tut meiner Hand gut. Vorsichtig bewege ich die Finger. Das Spülbecken ist aus dem gleichen weißen Stein wie die Mauer, an der der Mann entlanggegangen ist und die Steine umgedreht hat. In meinen Gedanken beobachte ich, wie er den Dorfplatz überquert, seine hagere Gestalt ist ein wenig nach links geneigt, wegen der Schwere des Koffers. Wir haben nicht gesehen, wohin er gegangen ist, ob er geblieben ist oder uns, nachdem er die Steine umgedreht hat, wieder verlassen hat. Ein stechender, sehnsüchtiger Schmerz fährt in meine Hand. Ich reiße sie aus dem Spülbecken, und die Wassertropfen fliegen in einem glitzernden Bogen durch die Küche, der sich vom Spülbecken über den Tisch bis zur Tür spannt und sekundenlang in der Luft stehen bleibt, ehe die Tropfen alle zugleich herabfallen und die Küche mit einer dünnen Wasserlinie in zwei Hälften teilen. Meine Mutter sitzt auf einem Stuhl am Tisch. Auf ihrem Scheitel glitzert die Wasserlinie, auch sie wird auseinanderbrechen und zu beiden Seiten des Stuhls herabfallen. Wortlos sitzt sie da und wundert sich. Mit den Fingern fährt sie an ihrem Scheitel entlang, führt die Finger an die Nase und riecht daran, wischt die Finger an ihrem Rock ab. Die beiden Hälften meiner Mutter sind gleich, ich kann mich nicht entscheiden. Sie hebt den Kopf und schaut nach oben, aber an der Decke ist kein Wölkchen.

Ein schöner Tag liegt vor uns.

Die Straßen sind sauber.

Meine rechte Hand pocht wie ein Krebs, der in der Sonne liegen geblieben ist und nicht ins Wasser zurückfindet. Ich versuche, die Bücher zu halten, aber es geht nicht. Sie fallen einzeln herunter und bleiben aufgeschlagen liegen, Lineare Funktionen und Gleichungen, Sprachbetrachtung, Zur Entstehung der afrikanischen Arten. Mit der linken Hand hebe ich die Bücher auf, es ist ungewohnt, meine rechte Hand hängt beschäftigungslos herab. Auf dem Weg zur Schule lässt das Pochen nach. Erst als ich ankomme, ist es verschwunden.

 

In der Schule machen wir eine Zeichnung von dem Mann, bevor wir zur Mauer gehen. Ada zeichnet die Beine und gibt das Blatt weiter, Cass zeichnet den Rumpf und gibt das Blatt weiter, Lilianne zeichnet den Schwanz und gibt das Blatt weiter, Séraphine zeichnet die Arme und gibt das Blatt weiter, ich zeichne den Kopf und gebe das Blatt an Ada zurück. Ada spuckt auf den Schwanz des Mannes und gibt das Blatt weiter, Cass verreibt die Spucke auf dem Schwanz des Mannes und gibt das Blatt weiter, Lilianne küsst den Schwanz des Mannes und gibt das Blatt weiter, Séraphine gibt das Blatt weiter, und ich zeichne dem Mann Hörner an den Kopf und die Augen des Bocks. Der Mann ist mager. Sein Brustkorb ist eingefallen, die Rippen zeichnen sich deutlich ab. Seine Arme sind lang und schlank und gerade, ebenso seine Beine und sein Schwanz, aus dem Adas Spucke läuft. Adas Spucke ist dick und warm. Der Hals des Mannes ist dünn und lang und hebt seinen Kopf hoch über den Körper. Der Kopf eines afrikanischen Steppentiers.

Ein afrikanischer Bock.

Die Hörner schrauben sich in schwarzen Windungen gegen den Himmel, der Kopf ist in den Nacken gelegt, die Lippen sind zu einem blutlosen Strich zusammengepresst. In den Äuglein glimmt ein tiefes, kerzenflackerndes Licht. Der Körper des Mannes ist vollkommen weiß. Ich traue mich nicht, ihn anzufassen. Seine Schönheit ist makellos wie die eines wilden Tiers, mit dem Finger fahre ich an den Konturen entlang, den Beinen, den Armen, umrunde den Körper einmal ganz, bis er in einer unsichtbaren Hülle gefangen ist und wahnsinnig wird davon. Die Beine treten nach hinten aus, die Arme schlagen nach allen Seiten, die Hörner bohren sich in die Hülle und reißen sie in Stücke. Die Sehnen im Hals des Bocks sind zum Zerreißen gespannt, die gehetzten Augen nehmen mich in den Blick. Die Hilflosigkeit des Tiers rührt mich an, und ich erlöse es, indem ich das Blatt zusammenfalte und zwischen die Seiten eines Buchs schiebe. Ada sieht mich an, Cass, Lilianne. Séraphine streicht sich die Haare aus der Stirn, wie sie es immer tut, mit beiden Händen vom Scheitel hinab zum Kinn. Die Schulglocke läutet, und wir rennen nach draußen, vor allen anderen. In den Schatten der Straßen ist es noch kühl, erst als wir auf den Dorfplatz kommen, schlägt uns die Hitze entgegen, und wir bleiben kurz stehen, geblendet vom Sonnenlicht auf dem weißen Pflaster.

Es ist unser Dorf, wir haben kein anderes.

Und so treten wir nacheinander an die Mauer heran und drehen in einer feierlichen Zeremonie die Steine wieder zurück, die der Bock...
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Autor

Andreas Moster wurde 1975 in der Pfalz geboren. Er studierte Englische Philologie, Geschichte und Kommunikationswissenschaften und arbeitet als freier Übersetzer. 2017 erschien sein Debütroman Wir leben hier, seit wir geboren sind. Sein zweiter Roman Kleine Paläste wurde 2021 als Buch des Jahres mit dem Hamburger Literaturpreis ausgezeichnet. 2022 nahm Andreas Moster am 46. Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Er lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Hamburg.