Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Paul und die Jungs

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
408 Seiten
Deutsch
Books on Demanderschienen am21.03.20231. Auflage
Köln, Ende 1980. Andi und Heinrich sind dicke Freunde. Paul ist schlaksig, voller Tics, unsichtbar, in einer dysfunktionalen Familie. Langsam entwickelt sich eine Beziehung zwischen Heinrich und Paul. Wechselwirkungen beginnen. Paul blüht auf in der Freundschaft. Bald stellt sich heraus, dass er homosexuell ist, in Heinrich verliebt und hat Fluchtgedanken. Nur weg von Schule und Heinrich, der eine Freundin hat. Es kommt zu einer intimen Annäherung, das lässt Heinrichs Weltbild wanken. Paul beginnt jedoch sein neues Leben und Heinrich bleibt unsicher zurück. Probiert aus und muss zusehen, wie Paul sich zusehends von ihm entfernt, im Mahlstrom von tradierter Gesellschaft, Konvention, Anfeindung, Entwürdigung.

Heiko Tessmann, geboren 1964 in Pforzheim, gelernter Landwirt, freier Schriftsteller seit mehr als 35 Jahren. Lebt in Maikammer, Rheinland-Pfalz. Sie erreichen ihn bei Mastodon unter @Heinrich_Konstantin_Tessmann@det.social, über seine Website unter heikotessmann.de.
mehr
Verfügbare Formate
BuchKartoniert, Paperback
EUR17,90
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR6,99

Produkt

KlappentextKöln, Ende 1980. Andi und Heinrich sind dicke Freunde. Paul ist schlaksig, voller Tics, unsichtbar, in einer dysfunktionalen Familie. Langsam entwickelt sich eine Beziehung zwischen Heinrich und Paul. Wechselwirkungen beginnen. Paul blüht auf in der Freundschaft. Bald stellt sich heraus, dass er homosexuell ist, in Heinrich verliebt und hat Fluchtgedanken. Nur weg von Schule und Heinrich, der eine Freundin hat. Es kommt zu einer intimen Annäherung, das lässt Heinrichs Weltbild wanken. Paul beginnt jedoch sein neues Leben und Heinrich bleibt unsicher zurück. Probiert aus und muss zusehen, wie Paul sich zusehends von ihm entfernt, im Mahlstrom von tradierter Gesellschaft, Konvention, Anfeindung, Entwürdigung.

Heiko Tessmann, geboren 1964 in Pforzheim, gelernter Landwirt, freier Schriftsteller seit mehr als 35 Jahren. Lebt in Maikammer, Rheinland-Pfalz. Sie erreichen ihn bei Mastodon unter @Heinrich_Konstantin_Tessmann@det.social, über seine Website unter heikotessmann.de.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783757826260
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum21.03.2023
Auflage1. Auflage
Seiten408 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.11338489
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Kapitel 1
Schachmatt

Andis Ellenbogen stupst meine rechte Seite. Ich hebe den Kopf, folge seinem Blick über den kleinen Schulhof zu den Fahrradstellplätzen. Zwischen den beiden rechten Wellblechunterständen sitzt Paul auf einem Waschbetonkübel, beide Hände vor dem Gesicht. Unter der Kapuze seines ausgewaschenen Bundeswehr-Parkas verschwindet der kleine Kopf, die tiefschwarzen Haare; ungeschnitten oder selbst geschnitten, darüber streiten wir lediglich hinter vorgehaltener Hand. Oder machen uns darüber lustig. Seit wir ihn kennen, hat Pauls Frisur Ähnlichkeit mit einer wilden Wiese, die einmal im Jahr mit stumpfer Sense gemäht wird.

»Was ist mit ihm?«, höre ich Andis Frage und kann sie nicht beantworten. Schweige also lieber. Doch Andi stupst mich wieder. »Geh doch mal hin. Ich glaube, mit dir kommt er noch am ehesten zurecht.«

Ich schau ihn an und weiß, was er meint, habe aber keine Ahnung, was ich zu Paul sagen soll. Obwohl wir schon fünf Jahre in einer Klasse sitzen, ist er so was wie die Haare auf unser aller Hinterkopf. Wir müssen uns nicht die Mühe machen, sie sehen zu wollen. Sie sind einfach gewohntermaßen an Ort und Stelle. Alles gut.

»Letzte Woche hatte er ein Schachbuch dabei und im Unterricht gelesen. Du spielst doch Schach ⦫ Andis Gesicht ist frei vom üblichen Dauergrinsen. Er hebt kurz beide Augenbrauen und nickt in Pauls Richtung. »Na los, geh schon. Auf mich reagiert er gar nicht. Auf dich wird er hören.«

»Wie kommst du da drauf?«

Andi zuckt mit den Schultern. »Das tun wir fast alle.« Er grinst verlegen. »Noch nicht gemerkt?«

Ohne zu antworten, lege ich den Asterix in seinen Schoß und stehe auf, ziehe die Jacke straff und schaue mich um. Noch zehn Minuten übrig von der Großen Pause. Danach Mathe. Ich seufze und gehe die wenigen Meter zu Paul. Mit jedem Schritt schält sich die schlaksige Figur mehr aus dem Halbschatten der rostigen Blechhäuschen, die dünnen Beine, knochigen Hände. Kurz davor kann ich das Zittern erkennen, das durch Pauls Körper rollt. Alle paar Sekunden, von oben nach unten, dann umgekehrt. Zwischen seinen Handrücken läuft Rotz. Paul weint. Weitere Schritte ⦠Paul schluchzt. Ich denke an Mutters zusammengefaltete Stofftaschentücher - die ich nie benutze, weil ich es hasse, nasse Klumpen in der Hosentasche zu haben - und ziehe ein sauber gebügeltes hervor, exakt gefaltet. Dann bin ich bei ihm. »Hier, Paul! Ein Taschentuch. Schenk ich dir. Ich kann es eh nicht leiden.«

Seine Unterarme senken sich in den Schoß. Ein Gespinst aus Rotz zieht Fäden zwischen Hände und Gesicht. Ich bin versucht, das Weite zu suchen, falte aber das Tuch auseinander und hebe es vor sein Gesicht. »Komm, lass uns mal in den Waschraum gehen.«

Er nickt mit gesenktem Kopf, greift nach dem Taschentuch und wischt sich notdürftig sauber. Dann springt er auf, wie nur Paul es kann. Mit seinen vielleicht knapp 45 oder 50 Kilo macht er jeder Sprungfeder Konkurrenz. Die Schwerkraft hat Mühe, ihn auf dem Planeten zu halten. Vom Sportunterricht ist er befreit, denn alles was Paul kann, ist hüpfen. Einhundert Meter hüpfen, rekordverdächtig. Hochsprung könnte seine Disziplin sein, würden nicht bei jedem Versuch alle Gliedmaßen tentakelgleich nach allen Seiten ausschlagen, sämtliche Latten in jeder Höhe reißen. Und so hält er eben nur das Klemmbrett der Sportlehrer, federt ihnen hinterher, darf Trillerpfeifen und Stoppuhren tragen. An manchen Tagen suche ich vergeblich die Hundeleine, um das Bild eines devoten Schülers zu vervollständigen.

Kaum jemand redet mit Paul. Selbstverständlich unsere Lehrer; aus beruflichen Gründen. Nein, nicht ganz. Pauls Gehirn ist ein Fotoapparat. Ab und zu laufen Wetten, wie viele Bilder er sich merken und in korrekter Reihenfolge wiedergeben kann. Meistens nehmen wir die Fotos aus Playboy oder Hustler und Paul wird rot. Aber er bringt die richtige Frau in der richtigen Position mit Seitennummer. Vierzig dieser Hochglanzseiten schafft er ohne Probleme; solange wir keine Details erfragen, etwa nach der Farbe der Brustwarzen oder ob wer große oder kleine Schamlippen hat. Er sagt dann Seite 32, hochkant, rothaarig oben und unten ⦠linkes Bein auf Stuhl, blickt von unten nach oben, rechts über ihr eine Kuckucksuhr und eine weiße Federboa um die Hüften . Wenn wir ihn fragen, ob er sich abends einen runterholt, er müsste ja nur die Fotos abrufen, dann senkt er den Kopf und beginnt an den Nägeln zu kauen. Paul ⦠seit der fünften Klasse bei uns, und doch nur eine Art Tasche, die man mitschleppt.

Im Waschraum platscht die nächste Ladung Wasser auf die elfenbeinfarbigen Fliesen.

»Paul! Sag mal, muss das sein?! Der ganze Fußboden ist nass!«

Ich schiebe ihn beiseite und zweifle an meinem Verstand, einem Fünfzehnjährigem zeigen zu wollen, dass die Handschale langsam gefüllt und zielgerichtet zum Gesicht geführt wird, man möglichst alles Wasser nutzt, nicht mit Wucht versucht, ein Stückchen Haut zu treffen. Parka, Hosenbein, Schuhe, der Papiertuchhalter, alles ist nass. Einer aus der 9a kommt herein, sieht uns, fängt an zu lachen, schiebt sich amüsiert an uns vorbei. Ich stelle mich ihm in den Weg. Schaue auf ihn herab, einen Kopf unter mir. »Was gibt es da zu lachen?«

»Nix.« Er hustet, den Blick gesenkt.

Paul zieht zu viel Papiertücher aus dem Kasten. Die Hälfte fällt auf die nassen Fliesen.

»Meine Güte, Paul!«, rufe ich lauter als gewollt und greife nach seinem Parka-Kragen. Der Kleine vor mir lacht. Sofort ziehe ich das Knie in seinen Schritt. Er sinkt auf den Boden und japst nach Luft. Ich fühle, wie ihm schlecht wird. »Wir gehen, Paul!«

»Okay, Heinrich ⦫

»Kleiner, denk dran! Du bist ausgerutscht!«, sage ich im Rausgehen zu dem Kerl auf den nassen Fliesen und weiß, er wird es sich merken. Paul hält mir das Taschentuch vor die Nase. »Behalt es, um Gottes willen! Oder schmeiß es weg! Deine Mutter soll dir mal ein paar Taschentücher mitgeben ⦫

»So was haben wir nicht«, erwidert er und bleibt stehen. Am Eingang zur kleinen Aula, neben den Sitzgruppen. Dann sieht er mich an mit eng zusammenstehenden Augen. Tiefschwarze, kleine Pupillen in einem schmutzigen Weiß. Auf den Wangen alle Zentimeter schwarze Stoppel, die in jede Richtung sprießen. Und das seltsam eingefallene Gesicht, Hohlwangen. Er erinnert mich an Bilder aus einem der Kriege, die wir in Politik durchgenommen haben. Vietnam, vor vier Jahren zuende gegangen oder Biafra. Ein Horror, sich die Fotos anzusehen. In Pauls rechtem Augenwinkel formt sich eine Träne.

»Scheiß auf Mathe, Paul«, sage ich, drücke ihn auf einen der Stühle und setze mich daneben, betrachte seine ganze Kargheit, die dünnen Hände, blasse Haut im Parka. Er sagt nichts, aber blickt mich unentwegt an als wäre dies sein erster Tag in unserer Klasse und ich eine neue Wesenheit in seinem Leben. »Was ist los?«

»Andi hat gesagt, du spielst Schach.«

Ich bin überrascht. Dass Andi mit Paul redet, ist mir neu. Aber tatsächlich gibt es zwei oder drei der Mädchen, die sich neuerdings bei Mathe helfen lassen und Pauls Fotoapparat im Hirn nutzen.

»Ab und zu, mit ein paar Kumpels. Mehr so zum Spaß.« Mehr fällt mir dazu nicht ein.

»Ich hab mir das Buch von Bobby Fischer gekauft und schon alle Partien durchgespielt«, verkündet er stolz.

»Alle Achtung, Bobby Fischer, das ist beeindruckend ⦫

»Du kannst heute zu mir kommen und ich zeige dir das Buch. Dann können wir ein paar Partien nachstellen.«

»Ich, äh ⦫

»Bitte ⦠das würde mich freuen.«

Ich sehe zur Decke über Paul. Abgehängte Elemente mit Löchern für die Belüftung, Neonlampen und ein überraschter Ausruf unseres Erdkunde-Lehrers, der vorbeigeht.

»Haben die Herren jetzt keinen Unterricht?«

»Paul ist kotzübel, Herr Burbacher, und ich halte ihm ein bisschen die Hand«, gebe ich über die Schulter blickend zurück.

»Vorbildlich, Herr Konstantin. Soziales Engagement. Wird Ihnen gut tun.«

»Danke«, rufe ich gegen die Decke und Paul wird rot. Mit dem Parka-Ärmel wischt er endlich die Träne weg und nickt mich an. »Ich komme um drei Uhr«, sage ich.

*

Mit dem Rad benötige ich zwanzig Minuten von Bayenthal in die Mommsenstraße, lehne das Peugeot gegen eine heruntergekommene Hauswand und schaue nach oben. Hochparterre und zwei Stockwerke, graue Ado-Gardinen hinter Fenstern, deren Rahmen sicher mal weiß gewesen sind. Das jetzt farblose Holz ist fahl und rissig. Zwei Alte gehen hinter mir vorbei, reden Belangloses, einer von ihnen zieht aus bronchialen Tiefen einen Klumpen Schleim und platziert ihn neben die Laterne. Mich ekelt es und ich denke daran, den Kopf des Idioten gegen den Laternenpfahl zu schlagen, klingle aber stattdessen bei Paul....
mehr