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Das Pferd im Brunnen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am15.08.20231. Auflage
Alles beginnt in einer kleinen Wohnung mit Schaukelstuhl in einem russischen Kurort bei Kasan, in dem einst Stalin seine Sommer verbrachte. Hierhin kehrt Walja nach dem Tod ihrer Großmutter Nina zurück. Walja begibt sich auf Spurensuche, versucht zu verstehen, wo sie selbst herkommt. Sie erinnert sich an die Frauen, mit denen sie aufwuchs, grundverschieden, aber einig in ihrer Abscheu gegen jede Abhängigkeit: Da ist die Urgroßmutter Tanja, die Walja als Kind in einer gefährlichen Nacht-und-Nebel-Aktion taufen ließ. Und natürlich Nina mit dem zielstrebigen Gang und dem koketten Kirschmund, die notorisch log und alle um sie herum einen Kopf kleiner werden ließ. Doch sie hatte auch ganz andere Seiten. Und erst viel später erfährt Walja von Ninas hartem Schicksal, von dem sie nie sprach ... Walja, die zwischen den Welten lebt, zwischen einem norddeutschen Dorf an der B77 und der Wohnung ihrer Kindheit in Kasan, erkennt immer mehr, wie tief sie diese Leben geprägt haben. Valery Tscheplanowa ist eine starke neue Stimme. In ihrem autobiographisch inspirierten Roman findet sie ihre ganz eigene leuchtende, bildstarke Erzählweise, intensive Momentaufnahmen fügen sich zu einer großen Geschichte über vier starke Frauen im Russland des 20. und 21. Jahrhunderts.

Valery Tscheplanowa ist als Schauspielerin an den wichtigsten deutschen Bühnen zu sehen, sie tritt in Kino- und Fernsehfilmen auf und wurde als Buhlschaft im «Jedermann» der Salzburger Festspiele 2019 gefeiert. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kunstpreis Berlin und als Schauspielerin des Jahres 2017. Geboren 1980 im sowjetischen Kasan, kam sie mit acht Jahren nach Deutschland. «Das Pferd im Brunnen» ist ihr erster Roman. Valery Tscheplanowa lebt in Berlin.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextAlles beginnt in einer kleinen Wohnung mit Schaukelstuhl in einem russischen Kurort bei Kasan, in dem einst Stalin seine Sommer verbrachte. Hierhin kehrt Walja nach dem Tod ihrer Großmutter Nina zurück. Walja begibt sich auf Spurensuche, versucht zu verstehen, wo sie selbst herkommt. Sie erinnert sich an die Frauen, mit denen sie aufwuchs, grundverschieden, aber einig in ihrer Abscheu gegen jede Abhängigkeit: Da ist die Urgroßmutter Tanja, die Walja als Kind in einer gefährlichen Nacht-und-Nebel-Aktion taufen ließ. Und natürlich Nina mit dem zielstrebigen Gang und dem koketten Kirschmund, die notorisch log und alle um sie herum einen Kopf kleiner werden ließ. Doch sie hatte auch ganz andere Seiten. Und erst viel später erfährt Walja von Ninas hartem Schicksal, von dem sie nie sprach ... Walja, die zwischen den Welten lebt, zwischen einem norddeutschen Dorf an der B77 und der Wohnung ihrer Kindheit in Kasan, erkennt immer mehr, wie tief sie diese Leben geprägt haben. Valery Tscheplanowa ist eine starke neue Stimme. In ihrem autobiographisch inspirierten Roman findet sie ihre ganz eigene leuchtende, bildstarke Erzählweise, intensive Momentaufnahmen fügen sich zu einer großen Geschichte über vier starke Frauen im Russland des 20. und 21. Jahrhunderts.

Valery Tscheplanowa ist als Schauspielerin an den wichtigsten deutschen Bühnen zu sehen, sie tritt in Kino- und Fernsehfilmen auf und wurde als Buhlschaft im «Jedermann» der Salzburger Festspiele 2019 gefeiert. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kunstpreis Berlin und als Schauspielerin des Jahres 2017. Geboren 1980 im sowjetischen Kasan, kam sie mit acht Jahren nach Deutschland. «Das Pferd im Brunnen» ist ihr erster Roman. Valery Tscheplanowa lebt in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644017085
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum15.08.2023
Auflage1. Auflage
SpracheDeutsch
Dateigrösse8394 Kbytes
Artikel-Nr.11381255
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Der Schaukelstuhl

Seit neun Jahren steht in diesem Winter für Winter beheizten Zimmer in Russland ein Schaukelstuhl, auf dem niemand mehr sitzt. Vielleicht verstaubt er, vielleicht auch nicht. Wo sollte der Staub herkommen? Die Fenster werden nicht geöffnet, niemand trägt Dreck rein, kein Luftzug geht. Ich weiß nicht, ob die weißen Gardinen vergilben. Es könnte sein, dass sich die alten Kerzen verbiegen von der hartnäckigen Zentralwärme von Oktober bis März. Von Zeit zu Zeit, alle paar Monate vielleicht, fällt so eine Kerze herunter und macht einen dumpfen Ton auf dem blumigen Teppichboden, auf dem niemand mehr geht.

Auf den Regalen des Einbauschranks stehen ihre Fotos. Das pralle, runde Gesicht mit dem schwarz-weißen roten Kirschmund in der Mitte und das glänzende, streng gewellte Haar. Als sie starb im benachbarten Krankenhaus, so hat mein Onkel es mir erzählt, bat sie um drei Dinge: einen Kamm, einen Lippenstift und einen Spiegel. Sie hat sich dann allein zurechtgemacht und ist allein gestorben.

Als ich sie kennenlernte, war ich siebzehn. Ich hatte sie oft gesehen, als Kind, aber sie war stets unterwegs vom Einkaufen zur Arbeit, von einer Warteschlange zur nächsten auf hohen Absätzen mit strammen Fesseln, die kleinen Brüste stets frech nach vorn gestreckt, laut und zornig und so charmant mit ihren kleinen, flachen Zähnchen lächelnd. Ein Glockenlachen hatte sie, fast blechern. Ich wusste nicht, ob ich sie mochte. Sie war nicht größer als eins sechzig und achtete stets darauf, dass ihre kleinen Pullover und Blusen zu ihren kleinen Röcken passten. Sie hatte keine Gelegenheit, einen eigenen Geschmack auszubilden, sie kaufte, was sie fand, in benachbarten Geschäften, und sie nähte und strickte sich das Fehlende zusammen, dennoch gelang es ihr, ein Muster mit einem anderen auf eine Art und Weise zu kombinieren, dass es beiläufig und anziehend zugleich war. Ich erinnere mich nicht daran, dass ich sie jemals um etwas bitten oder nach etwas fragen gehört hätte. Sie sagte, was sie wollte, in einem unmissverständlichen Ton.

Ich sehe sie vor mir als eine Vorbeilaufende mit kurzen, festen Schritten, sogar ihre Hausschuhe hatten einen erhöhten Keilabsatz, auf denen lief sie kilometerlange Wege auf unseren siebzig Quadratmetern zwischen Küche und Bad und den verwinkelten Zimmern. Das Fischgrätenparkett stöhnte unter ihr auf, und auch meine Mutter und mein Onkel schienen den Kopf ein wenig einzuziehen, wenn sie vorüberstürmte. Mir war, als hätte sie auf jede ungestellte Frage eine Antwort. Die Antworten schienen wie einstudiert, kein Stammeln, kein Zögern, nur ein fester, harter Schuss. Es wirkte, als würde sie ihre Kraft aus diesen Schüssen beziehen, die Augen stets auf der Suche nach der nächsten Beute. Tatsächlich schienen mir meine restlichen Verwandten in ihrer Anwesenheit wie Beute, unsicher und geduckt. Erst wenn sie gegangen war am Morgen, entspann sich die studentische Stimmung in unserer Küche, wenn meine junge Mutter den Kaffee mahlte und das Brot in den Schmand tunkte, das Radio lief und mein Onkel, kauend in eine Illustrierte vertieft, seinen Kaffee schlürfte, mich wie ein Kätzchen auf dem Schoß. Es gab einen geteilten Tag, während sie fort war und nachdem sie zurückkam. Ich wusste nicht, wohin sie ging. Kaum war sie am Abend wieder da, hörte ich Befehle klappern wie die Topfdeckel in der Küche, und wieder schienen alle ein paar Zentimeter kleiner zu werden. Das Wasser im Badezimmer wurde für mich eingelassen, und sie rief etwas aus der Küche, und meine Mutter eilte hinaus, um zu hören, was sie dieses Mal vergessen oder falsch gemacht hatte. Ich erinnere mich nicht, dass sie mich jemals gehalten oder getragen hätte, aber angesehen hat sie mich, und diesen Blick aus ihren stechenden Augen, den spüre ich noch heute.

Mit siebzehn lernte ich sie also kennen, in welcher Beziehung sie zu mir stand, das konnte ich nicht ausmachen. Sie hatte meine Mutter geboren, das wusste ich, und wir wurden Freunde, später dann. Zwei, die Sauerkraut mit gebratenen Kartoffeln aßen, fast jeden Tag. Ich besuchte sie damals, weil ich herausfinden wollte, woher ich kam. Ich glaube, ich hatte das in einem Roman gelesen, und da Romane meine Erziehung ersetzten, tat ich, was dort stand. Sie war einverstanden und fragte nicht viel. Wir saßen in der Küche an einem rechteckigen Tisch mit einem blau-weiß karierten Plastiktischtuch, und ich fragte sie, wie das war, damals im Krieg.

Fünf oder sechs muss sie gewesen sein, da wurde sie von ihrer Mutter ins Lazarett mitgenommen. Zwischen den eisernen Liegen mit den vielen verbundenen Armen und Beinen lief sie dann hin und her und bezauberte die verwundeten Soldaten. Das war nicht schwer, ein Lächeln genügte, die schwarzen, fest geflochtenen Zöpfe baumelten rechts und links, und sie hatte auch schon das eine oder andere Lied auswendig gelernt, das sang sie an die Gitterbetten gelehnt. Dafür bekam sie einen Bonbon, und dann ging es weiter in den nächsten Saal, bis sie müde wurde und einfach irgendwo zusammengerollt liegen blieb. Wenn ihre Mutter dann später nach ihr suchte, hieß es: Nina, ja Nina ist da und da, sie schläft.

Kaum war sie sieben, begann die Plackerei, Fußböden waschen, die dunklen, breiten Bretter schrubben auf den Knien. Viele hatten Mitleid, und wer noch Arme zum Schrubben hatte, der half dem kleinen Gör. Dieser Geruch nach Watte, Medikamenten und Reinigungsmitteln, diese spitzen Gegenstände, die zu Boden fallen, das sollte sie ihr Leben lang begleiten. Sie wurde Krankenschwester, und viel später werde ich in den Schränken ihrer Wohnung Watte und Desinfektionsmittel für eine ganze Station finden und in einem Nachtkästchen ein vollständiges Zahnarztbesteck.

Gute Schuhe hatte sie nicht, erst recht nicht im Winter, und so kam es, dass sie schon bald krank wurde und krank blieb. Fast ein ganzes Jahr war sie bettlägerig, dann lange auf Krücken, und später im Studium hatte sie einen Stock, an dem ging sie die langen Flure der Berufsschule entlang und machte aus ihren wackeligen Schritten den festen Schritt, den ich an ihr geliebt habe.

Wenn ich nach Hause kam von meinen Streifzügen durch die Stadt oder von der Uni, wo ich versuchte, meine verloren gegangene russische Sprache wiederzufinden, saß sie in der Küche an der weiß-blau gemusterten Plastiktischdecke, der Kanarienvogel flatterte im Käfig, und der Raum war stickig vom Sonnenblumenöl, das in der Pfanne die Kartoffeln goldbraun färbte. Sie stand am Herd und wendete umsichtig die Kartoffeln, und dann setzten wir uns zusammen an den Tisch, um einander zu erzählen, wie wir lebten in unserer in Stücke geschlagenen Familie, verstreut auf Europa und Russland. Eine Reihe von ungeschriebenen Geschichten, nur gut genug, um sie einander zu erzählen, wie sie oft sagte. Sie hatte ein schnippisches Lächeln im Gesicht, manchmal eine Häme. Sie setzte sich nicht gern hin, nur eben zum Essen, ansonsten verbrachte sie ihre Tage in stetiger Tätigkeit. In der Küche wurde geklappert und repariert, mit ihrem Werkzeug und ihren groben, großen Händen war sie in der Lage, so gut wie jeden Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens notdürftig zusammenzukleben oder zu reparieren, ohne jemanden um Hilfe zu bitten. Denn das war das Entscheidende für sie, niemanden brauchen. Diese verbissene Kampfansage, das ist ihr hässliches Geschenk, das Gift, das sie an uns alle, die ihr folgen, weitergegeben hat: niemanden brauchen.

Sie hatte diese kleinen, geblähten Nasenflügel, die unter äußerster Spannung auf das Gegenüber gerichtet waren, sie wirkte auf mich wie ein Tier kurz vor dem Zuschnappen, immer bereit für eine Ausrede oder irgendeine Verzweiflungstat, um dem Menschen davonzukommen, der versuchte, sie einzukreisen. Jedes Gespräch mit ihr verlief, wenn man nicht achtgab, auf die gleiche Art und Weise, ein schnelles und hektisches Hindernisrennen, das sie immer gewann, da sie die Hindernisse selbst erfand. So wurde das Lügen für sie zum Lieblingsspiel. Alles, was in ihrem Leben nicht so stattgefunden hatte, wie sie es sich vorstellte, wurde in eine Lüge gekleidet in einem passenden Augenblick wie ein Taschentuch achtlos fallengelassen, damit das Gegenüber es aufhob und es ihr hinterhertrug. Sie log sich ihre ungenutzten Möglichkeiten weg, ihre verpassten und erträumten Auswege herbei. Ihre Lügen waren eine eigenständige, weit ausgebaute Gedankenstadt, in der nur sie die Gesetze bestimmte und die sie über die Jahre selbst nicht mehr überblickte, sodass sie begann, ihre eigenen Geschichten zu glauben. Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, wenn jemand versuchte, sie zu entlarven, dafür hatte sie ein Gegenmittel gefunden - mit so etwas kannte sie sich als Krankenschwester aus -, das wie eine rechtzeitig verabreichte Medizin immer wirkte: den blanken Zorn. Sie hatte unzählige Varianten von Zornesausbrüchen, leise im Hintergrund grollende Gewitter, nicht enden wollende langatmige Konzerte aus monotonen Beschimpfungen oder blitzartige Angriffe wie die Bisse einer giftigen Spinne. Das alles gewürzt mit dem hämisch-charmanten Lächeln ihrer kleinen Zähne, das mich immer wieder in seinen Bann zog. Schon als Kind konnte ich nicht glauben, was sie sagte, es war ja auch zu offensichtlich, die an den Haaren herbeigezogenen, versponnenen Geschichten, Professoren, die sie in die Familie aufnahm, Möglichkeiten, die sie ausgeschlagen hatte, Verwandtschaften mit hochgestellten Persönlichkeiten, Familienschmuck, den sie in Wahrheit ihren Freundinnen stibitzt hatte, um sich dann rechtzeitig vor dem Entdecken der Elstertat mit einem gezielt inszenierten Streit aus dem Schussfeld zu bringen. All das waren die schillernden Folgen von Hunger, Not und...
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Valery Tscheplanowa ist als Schauspielerin an den wichtigsten deutschen Bühnen zu sehen, sie tritt in Kino- und Fernsehfilmen auf und wurde als Buhlschaft im «Jedermann» der Salzburger Festspiele 2019 gefeiert. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kunstpreis Berlin und als Schauspielerin des Jahres 2017. Geboren 1980 im sowjetischen Kasan, kam sie mit acht Jahren nach Deutschland. «Das Pferd im Brunnen» ist ihr erster Roman. Valery Tscheplanowa lebt in Berlin.