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Grand Tour oder die Nacht der Großen Complication

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
784 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am15.08.20231. Auflage
Leo Pardell, gescheiterter Student, sollte eigentlich auf Sprachreise in Buenos Aires sein. Mutter und Freundin spielt er den Südamerika-Aufenthalt per Telefon vor, heuert aber in Wahrheit als Schlafwagenschaffner an und reist kreuz und quer durch Europa. Dabei trifft er nicht nur französische Schmuggler, bulgarische Verführungsspezialisten, korrupte Kontrolleure, kluge Buchhändlerinnen und Brüsseler Bürokraten, sondern auch einen exzentrischen Uhrensammler auf der Suche nach einem legendären Stück. In dessen Jagd wird er unversehens tiefer hineingezogen, als er dachte ...

Steffen Kopetzky, geboren 1971, ist Autor von Romanen, Erzählungen, Hörspielen und Theaterstücken. Sein Roman «Monschau» (2021) stand monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste, ebenso wie «Risiko» (2015, Longlist Deutscher Buchpreis). «Propaganda» (2019) war für den Bayerischen Buchpreis nominiert, zuletzt erschien «Damenopfer» (2023). Von 2002 bis 2008 war Kopetzky künstlerischer Leiter der Theater-Biennale Bonn. Er lebt mit seiner Familie in seiner Heimatstadt Pfaffenhofen an der Ilm.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR15,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR12,99

Produkt

KlappentextLeo Pardell, gescheiterter Student, sollte eigentlich auf Sprachreise in Buenos Aires sein. Mutter und Freundin spielt er den Südamerika-Aufenthalt per Telefon vor, heuert aber in Wahrheit als Schlafwagenschaffner an und reist kreuz und quer durch Europa. Dabei trifft er nicht nur französische Schmuggler, bulgarische Verführungsspezialisten, korrupte Kontrolleure, kluge Buchhändlerinnen und Brüsseler Bürokraten, sondern auch einen exzentrischen Uhrensammler auf der Suche nach einem legendären Stück. In dessen Jagd wird er unversehens tiefer hineingezogen, als er dachte ...

Steffen Kopetzky, geboren 1971, ist Autor von Romanen, Erzählungen, Hörspielen und Theaterstücken. Sein Roman «Monschau» (2021) stand monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste, ebenso wie «Risiko» (2015, Longlist Deutscher Buchpreis). «Propaganda» (2019) war für den Bayerischen Buchpreis nominiert, zuletzt erschien «Damenopfer» (2023). Von 2002 bis 2008 war Kopetzky künstlerischer Leiter der Theater-Biennale Bonn. Er lebt mit seiner Familie in seiner Heimatstadt Pfaffenhofen an der Ilm.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644013537
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum15.08.2023
Auflage1. Auflage
Seiten784 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse8329 Kbytes
Artikel-Nr.11381330
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

München, Passageâ7.4.1999, 20:51

Trotz seiner Unruhe blickte Friedrich Baron von Reichhausen dem Taxi, das die Pienzenauerstraße hinunterfuhr, nach, bis die Nacht die Spiegelungen der Rücklichter von der regennassen Oberfläche der Straße gesaugt hatte. Dann schloss er die Gartentür auf, vermied es, den Blick auf die seit einiger Zeit nicht geöffnete Garage zu werfen, in der ein praktisch ungefahrener rubinroter Daimler stand, und ging durch den feuchten Garten, um den sich sein Gärtner offensichtlich gerade gekümmert hatte. Der Rasen war frisch geschnitten, die Beete geharkt, an manchen Stellen gab es frisch gepflanzte Blumen. Den Gärtner hatte er übernommen, als er vor zwanzig Jahren das Haus gekauft hatte. Der Gärtner war mittlerweile Mitte achtzig und arbeitete seinerseits nur noch für Reichhausen, weil er fürchtete, der Garten könne ansonsten verwildern - denn die Gespräche zwischen ihm und Reichhausen, der ihn oft eingeladen hatte, etwas mit ihm zu trinken, hatten ihm gezeigt, dass der Hausherr nicht das geringste Verständnis für Gartenarbeit hatte.

Der Gärtner trank selten, und wenn, dann mäßig. Er hasste diese Einladungen, die damit begannen, dass der Baron «Hallo! Kommen Sie rein! Es muss unbedingt mehr getrunken werden!» in den Garten hinausrief. Dann saß er unbehaglich auf einem Stuhl, sein Weinglas auf den Knien, und weigerte sich beharrlich, auch nur einen mehr als den ersten Höflichkeitsschluck zu sich zu nehmen, während der Baron Flaschen leerte.

Seiner Ansicht nach trank der Baron zu viel, viel zu viel. Im Übrigen wusste er nur, dass Reichhausen eine Kanzlei für Erbschaftsangelegenheiten und Vermögensverwaltungen führte und darin wohl als die Koryphäe in München galt. Er wusste, dass ein Vorfahr des Barons ein berühmter Marineflieger des Ersten Weltkriegs gewesen war, der von den nostalgischen Zeitschriften des Militärwesens der Rote Baron der Meere genannt wurde. Das Letzte, was er wusste oder ahnte, war, dass der Baron sehr reich war. Nicht nur, weil seine Villa in München-Bogenhausen nur einem reichen Mann gehören konnte, sondern auch, weil sie mit kostbaren Dingen angefüllt war. Wenn er mit dem Baron zusammen im Wohnzimmer sitzen musste, das Weinglas auf den Knien, dann wanderte sein Blick staunend über eine unüberschaubar große Sammlung mechanischer Uhren.

Die einschlägigen Zeitschriften widmeten Reichhausens Sammlung regelmäßig Beiträge. Niemand, außer Reichhausen selbst, wusste genau, wie groß sie war. So wurde sie in der Regel zu den fünf wichtigsten Sammlungen in Europa gerechnet. Reichhausens Anwesenheit auf Auktionen und Ausstellungen wurde stets interessiert zur Kenntnis genommen.

Wenn der Baron genügend getrunken hatte, dann stand er gelegentlich auf, holte eine Uhr aus einer der alarmgesicherten Glasvitrinen, zeigte sie dem Gärtner, bestand manchmal darauf, dass dieser sie anlegte, und erzählte ihm, was es mit ihr auf sich hatte. Wer sie getragen; wer sie gebaut habe. Und wo. Der Gärtner wollte mit dem Luxus und der Trunksucht nichts zu tun haben. Er blieb nur wegen des Gartens, den er seit vierzig Jahren pflegte.

 

Heute Abend versuchte Reichhausen nicht, ihn einzuladen. Der Gärtner beobachtete, verborgen hinter den Zweigen einer Konifere, wie Reichhausen das Haus betrat. Wie die Lichter im Wohnzimmer angingen. Dort sah er den unheimlichen Baron, wie er seinen Trenchcoat über einen Sessel legte, sich ein Glas holte und eine Flasche französischen Cognac, wie er sich einschenkte und mit dem Glas in der Hand im Wohnzimmer auf und ab ging. Wie er sich immer wieder mit der linken Hand über seine hochrote, glänzende Glatze strich. Der Gärtner beschloss, die Gelegenheit zu nutzen und zu verschwinden, bevor Reichhausen es sich doch noch anders überlegte. Er brachte seine Geräte in den Schuppen hinter dem Haus, nahm sein Fahrrad und radelte, so schnell es ging, nach Hause.

Reichhausen sah ihn über den Rasen laufen. Er hatte ihn auch schon hinter der Konifere gesehen. Er wusste, dass der Gärtner ihn fürchtete. Umso besser, dachte er, dann würde er nie von ihm enttäuscht werden. Er lächelte. Es war etwas absolut Unmögliches geschehen. Reichhausen hatte gestern die Spur eines Gegenstandes entdeckt, nach dem er lange gesucht hatte. Von dem er sehr lange geträumt hatte.

Es handelte sich um die Ziffer à Grande Complication 1924. Seit er als kleiner Junge von dieser Uhr gehört hatte, war sie ein Traumgegenstand. Die Schönheit der aus 637 einzeln angefertigten Teilen bestehenden Mechanik stand als unerreichbares Ideal hinter seiner Sammlung. Die Ziffer à Grande Complication galt als verschollen. Doch letzte Woche hatte Reichhausens Assistent sie in den weit gestreuten Beständen einer großen Erbschaft entdeckt - nein, weniger als entdeckt, er hatte nur ihre Spur gefunden. Sie war zwar in gewissen Unterlagen vermerkt und genau bezeichnet, aber sie fehlte.

 

Die großen Uhren teilen mit allen übrigen denselben Stoff: die Zeit. Und die Zeit wird andererseits buchstäblich von ihnen geteilt. Je genauer sie das tun, desto einzigartiger werden sie. Desto geheimnisvoller ihre Mechaniken, die abgeschlossen im Dunkel ihrer Gehäuse ruhen. Ihre Mechaniken sind die Gesamtheit der Wege, auf denen die Kräfte ihrer Federn verteilt werden: Sie bestehen aus der Hemmung, Unruh und Anker, aus den Spiralen und schließlich den Kraftmechaniken der ineinanderspielenden Zahnräder selbst.

Die wirklich großen Uhren sind zahlreich. Aber es sind nicht unzählige. Eine sehr große ist die Ziffer à Grande Complication 1924.

 

Als Samuel Moses Ziffer die Grande Complication baute und sie der Genfer Uhrmacherzunft als sein Meisterstück vorlegte, empfanden und spürten seine Zeitgenossen die geniale Provokation dieses Werks unmittelbar - was konnte eine im Jahre 1924 fertiggestellte Uhr, die eine Jahrtausendanzeige besaß, eine erhebliche, bei einer Armbanduhr noch niemals ausgeführte mechanische Komplikation, anderes bedeuten, als dass ihr Schöpfer davon ausging, sein Werk werde zumindest sechsundsiebzig Jahre und einen Tag laufen?

Es bedeutete, dass ihr Schöpfer den zukünftigen Besitzer dieser Uhr, seinen Enkel, ja wahrscheinlich eher seinen Urenkel, in die Lage versetzen wollte, am 31. Dezember 1999 um Mitternacht die verborgene Tätigkeit eines alleine dafür gebauten und konstruierten Schalters beobachten zu können, der 1,3 Millimeter nach oben rückte und eine Mechanik ins Werk setzte, die anstelle der Ziffern 1999 vier andere, nämlich 2000 , einrasten lassen würde?

Das war eine Ungeheuerlichkeit, die auf einem solch offensichtlichen Ausmaß von Spekulation und Selbstvertrauen beruhte, das dasjenige bei Weitem überstieg, zu dem ein zünftiger Schweizer Uhrmacher berufen sein sollte.

Die Ziffer à Grande Complication blieb die einzige originale Uhr des großen Mechanikers. Der Meistertitel wurde ihm verweigert, es kam zu Denunziationen, und es gab wohl eine Intrige mit erotischem Hintergrund. Man duldete ihn nicht länger in Genf.

Er trat danach in verschiedene Werkstätten in Italien, Deutschland, Belgien ein, kam wieder nach Deutschland, ging dann nach Frankreich und hinterließ seine spärlichen Spuren im Elsass, in Rouen und in Paris. Soweit man weiß, war er zuletzt in der Werkstätte von Léon Leroy tätig. Leroy hatte zwei Jahre vor Samuel Ziffer als einer der Ersten eine Kleinserie von sieben Automatikuhren mit Kalender angefertigt. Er dürfte Ziffer technisch beeinflusst haben, obwohl der auf Leroys spitzovale Pendelmasse, die fast das ganze Gehäuse ausfüllte, verzichtet hatte. Leroy hatte ihn der Pariser Zunft als Geselle gemeldet. Seinen Meisterbrief hatte Samuel Ziffer ja nie erhalten. Seine Spuren verlieren sich 1942 in Südfrankreich. Vielleicht war der verkannte Meister der Großen Complication nach Spanien entkommen. Vielleicht nicht.

Die Uhr, die seinen Namen trug, ging andere Wege. Bevor er Genf verließ, hatte sie ein Händler zu einem lächerlichen Preis erworben und zwei Monate später für einen bereits erstaunlichen Betrag einem einheimischen Banker verkauft, der sie seinem Schwiegersohn zur Hochzeit schenkte. Die Ehe war nicht von Dauer. Danach wechselten die Besitzer häufiger, und auch die Zahl ihrer Liebhaber wuchs. Einer ihrer berühmtesten war der Reichsjagdmeister des Großdeutschen Reichs, und für knappe zwei Jahre gab es zumindest einen Mann, der in Görings Auftrag darauf angesetzt war, die mythische erste Uhr mit Jahrtausendanzeige zu finden. Ob es ihm gelang, ist nicht gesichert. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie einfach verschwunden. Ihre Jahrtausendanzeige zeigte die Ziffern 1 - 9 - 4 - 2 , als der letzte Experte sie gesehen haben wollte.

 

Reichhausen wusste von der Existenz der Ziffer seit dem Frühsommer 1946. Jeder ihrer wahren Jäger hatte eine eigene Geschichte mit dieser Uhr, konnte genau erzählen, wie er zum ersten Mal von ihr erfahren und wann und warum er angefangen hatte, von ihr zu träumen.

Diese Jäger, eine kleine, untereinander aber tödlich zerstrittene Meute von Sammlern, teilten neben ihrer Leidenschaft für die Ziffer noch zwei Dinge: Sie waren wirkliche Kenner mit bedeutenden und komplexen Sammlungen mechanischer Armbanduhren. Und alle waren dementsprechend reich.

Miteinander sprachen sie selten, sie mieden sich, und allenfalls nach großen Messen und...
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Autor

Steffen Kopetzky, geboren 1971, ist Autor von Romanen, Erzählungen, Hörspielen und Theaterstücken. Sein Roman «Monschau» (2021) stand monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste, ebenso wie «Risiko» (2015, Longlist Deutscher Buchpreis). «Propaganda» (2019) war für den Bayerischen Buchpreis nominiert, zuletzt erschien «Damenopfer» (2023). Von 2002 bis 2008 war Kopetzky künstlerischer Leiter der Theater-Biennale Bonn. Er lebt mit seiner Familie in seiner Heimatstadt Pfaffenhofen an der Ilm.
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Kopetzky, Steffen