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Frauen und Kinder zuerst

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
384 Seiten
Deutsch
Atlantik Verlagerschienen am02.11.2023
Ein totes Mädchen und zehn Frauen, von denen jede einzelne schuldig ist   Nashquitten: ein verschlafenes, etwas heruntergekommenes Küstenstädtchen in Massachusetts. Als Lucy, ein junges Mädchen, am Rande einer Party mit tödlichem Ausgang in einen leeren Pool stürzt, steht das Kleinstadtleben still. Auf den kurzen Moment der Ruhe folgt eine seltsame Betriebsamkeit. Denn das tragische Ereignis wirft die Frage auf, was zuvor hinter den Türen und Gardinen von Nashquitten geschehen ist. Plötzlich stehen die Menschen, die Lucy kannten, in einem neuen, grellen Licht. Und während einige trauernd versuchen, Lucys Tod zu begreifen, beginnen andere fieberhaft, ihre kleinen, dunklen Geheimnisse noch tiefer zu vergraben.mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR25,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextEin totes Mädchen und zehn Frauen, von denen jede einzelne schuldig ist   Nashquitten: ein verschlafenes, etwas heruntergekommenes Küstenstädtchen in Massachusetts. Als Lucy, ein junges Mädchen, am Rande einer Party mit tödlichem Ausgang in einen leeren Pool stürzt, steht das Kleinstadtleben still. Auf den kurzen Moment der Ruhe folgt eine seltsame Betriebsamkeit. Denn das tragische Ereignis wirft die Frage auf, was zuvor hinter den Türen und Gardinen von Nashquitten geschehen ist. Plötzlich stehen die Menschen, die Lucy kannten, in einem neuen, grellen Licht. Und während einige trauernd versuchen, Lucys Tod zu begreifen, beginnen andere fieberhaft, ihre kleinen, dunklen Geheimnisse noch tiefer zu vergraben.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783455016598
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum02.11.2023
Seiten384 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1163 Kbytes
Artikel-Nr.11413721
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
CoverVerlagslogoTitelseiteWidmungVORHERNACHHERDankBiographienImpressummehr
Leseprobe

VORHER

Jane

Am letzten Samstag im Mai ertrinke ich im Schlaf. Es passiert schnell. Ich stehe am Strand, und als ich ins Wasser schaue, streckt mein Spiegelbild eine zittrige Hand aus und zieht mich hinab. Allerdings ist es weniger ein Ziehen als vielmehr ein wütender Ruck, als wäre mein Arm ein wippender Pferdeschwanz, und plötzlich drückt mich meine eigene Hand von oben in den Sand. Ich will schreien, aber meine Worte lösen sich auf in einen Strom aus Blasen. Ich bin noch nicht so weit, will ich sagen. Aber dann wird alles schwarz.

Ich dachte, in Träumen dürfte man nicht sterben?

Als ich die Augen öffne, sehe ich, dass ich das Fenster neben meinem Bett offen gelassen habe, weil ich manchmal bescheuert bin. Der Regen strömt so heftig herein, dass meine nasse Bettwäsche wie Seetang an meiner Brust klebt, als ich mich aufsetze. Wäre ich nicht wissenschaftlich veranlagt, könnte der Traum mir zusammen mit der Dusche im Bett wie ein schlechtes Omen erscheinen. Aber ich bin eine nicht abergläubische Atheistin, deswegen stört es mich nicht.

Wenn ich das Fenster zumachen will, muss ich mit der Faust laut gegen das Glas schlagen, also schleiche ich zu Moms Zimmer am Ende des Flurs und sehe nach, ob sie noch im Bett liegt. Durch den schmalen Schlitz zwischen der Wand und der Tür sehe ich sie: Sie schläft nicht, aber sie liegt in Unterwäsche auf ihrer Decke und streicht sich mit einem nicht angezündeten Joint aus der Apotheke übers Kinn. In letzter Zeit läuft sie oft halb nackt durchs Haus, was ich nicht besonders toll finde. Sie sagt, ihr wäre heiß, sie würde verglühen, richtig brennen, aber nichts hilft - weder gefrorene Erbsen auf der Stirn noch ein Bad in Eiswasser oder die klebrige Salbe, die ich bei Walgreens gekauft habe und die nach künstlicher Minze riecht. Was ist, wenn das alles nur in meinem Kopf ist?, hat sie eines Tages gefragt, nachdem ein Arzt vorgeschlagen hat, sie soll zweimal täglich Tabletten nehmen, um die Hitzewallungen zu verhindern. Ist es nicht, sagte ich. Aber selbst wenn, dann wäre es immer noch echt.

So leise wie möglich schließe ich die Tür, aber als sie zuklickt, höre ich das Federn der Matratze. »Jane?«, fragt Mom. »Ist etwas passiert?« Da bin ich schon halb in meinem Zimmer, wo der Regen so schnell und heftig hereingeweht wird, dass meine Bettdecke quatscht, als ich mich in der Jogginghose darauf knie und mit einem festen Schlag das Fenster schließe.

Draußen riecht es nach Seetang und Krabbenschalen, was bedeutet, dass die Straße überflutet ist. Der Schneesturm im Januar hat Risse in einen Teil der Ufermauer gesprengt, aber das interessiert niemanden, weil es auf unserer Seite des Strands passiert ist, wo tatsächlich Leute leben, und nicht auf der anderen Seite mit den »Sommerhäusern«. Manchmal wate ich barfuß durch das strömende Wasser und versuche, mit unserem Küchensieb Sanddollars oder Pfeilschwanzkrebse zu fangen (wenn ich sie auf meinem Fensterbrett trockne, kann ich sie den Souvenirläden am Hafen verkaufen), und der ein oder andere Nachbar beobachtet mich von seiner Veranda aus. Dann nickt er aggressiv und sagt etwas wie: »Und das finden die so in Ordnung?«, nur sagt keiner, was er mit die oder das meint.

Es ist früh, sieben Uhr, und es ist noch niemand auf. Unter der Markise mit Fernbedienung, mit der Mom ihr Auto vor den Elementen schützt, weil wir keine richtige Garage haben, sondern nur eine Einfahrt, die wir im Sommer als Terrasse nutzen, setze ich mich auf mein Fahrrad. Ich binde Plastiktüten um den Sattel und meinen Kopf, auch wenn meine Haare blöd aussehen, egal was ich mache, weil ich von irischen Bauern mit dichten Locken abstamme, die zu viel Kohlenhydrate gegessen haben. Als ich gerade auf die Straße fahren will, höre ich, wie unsere Nachbarin die Seitentür öffnet. Sie ist vor sechs Monaten eingezogen, kurz vor dem Schneesturm. Wir haben uns nicht vorgestellt, auch keinen Kuchen vorbeigebracht oder ihr einen Zettel in den Briefkasten geworfen, was wohl heißt, dass wir unfreundlich sind. Sie ist schwanger - war sie von Anfang an -, aber ich habe drüben nie einen Mann gesehen. Heute trägt sie ein Schlafshirt in Übergröße und, soweit ich es erkennen kann, keine Hose. Ihre Beine sind sehnig und sehen aus, als hätte sie ein schmales Becken, das ein Baby nicht so einfach durchlassen wird. Ich werde nie Kinder bekommen, weil ich nicht gern unnötige Schmerzen ertrage.

Sie reibt ihren großen Bauch unter dem großen Shirt und schaut auf die Straße. »Muss was Besonderes sein«, sagt sie, und ich sehe mich tatsächlich um, wer so früh noch auf ihrer Veranda ist, weil sie doch garantiert nicht mit mir spricht.

»Was?«

»Der Junge muss was Besonderes sein, wenn du dich bei dem Unwetter aufs Fahrrad setzt.« Durch den Regen klebt das Shirt an ihrem Bauch, und ich kann ihren nach außen gestülpten Nabel als spitzen Knubbel sehen. Wir schauen einem Stück Holz nach, das die Straße hinuntertreibt, und ich wünschte, ich könnte mich daran festhalten und mich von diesem Gespräch wegziehen lassen. »Was hält deine Mom von ihm?«

»Ich fahre zur Arbeit«, erkläre ich und zupfe am Kragen meines Poloshirts von Village Market.

»Das ist doch schön.« Sie faltet die Hände unter ihrem Bauch, als könnte er ohne ihre Finger als Sicherheitsnetz abfallen. »Angeblich können wir Frauen heutzutage ja alles haben.«

Darauf fällt mir keine Antwort ein, aber das macht nichts, denn sie zieht mit ihrem großen Zeh die Tür auf und schlüpft wieder ins Haus.

 

Niemand ist auf der Straße, abgesehen von magersüchtigen Müttern auf dem Weg zum Fitnesstraining, sonnenverbrannten alten Männern, die zum Jachthafen wollen, und mir. Unsere Nachbarin hat recht damit, dass ich jemand Besonderes sehen werde, aber es ist kein Junge.

Einer der alten Männer fährt sein Fenster herunter, um sich zu unterhalten, als wir an einer Ampel neben den Salzwiesen stehen. Verwilderte Rohrkolben ragen schwer vom Regen in unsere Fahrbahn, und ich muss die Augen zusammenkneifen, damit kein Wasser hineintropft. »Was für ein Junge überlässt denn seine Freundin sich selbst bei diesem Wetter?«, fragt er. Seine Lippen, auf denen kleine Stückchen Kautabak zittern, bewegen sich weiter, als er schon nicht mehr spricht.

Ich versuche, mich an den Ton zu erinnern, den ich früher bei den Angelfreunden meines Vaters angeschlagen habe. »Die Art Junge, die nicht mithalten kann.«

Er lacht sehr darüber und schlägt mit seinen Wurstfingern aufs Lenkrad. Männer lieben es, wenn man sich über andere Männer lustig macht. Sie finden, es sorge dafür, dass »sie nicht übermütig werden«, was sie offenbar nicht allein schaffen.

»Bleib so pfiffig, junge Dame«, sagt er, bevor die Ampel umspringt und er losfährt. Mit kleinen, geröteten Augen beobachtet er mich in seinem Seitenspiegel, und ich strample extra schnell, um ihn zu überholen, einfach, weil ich es kann. Der Wind treibt mir den Regen scharf gegen die Wangen, meine durchnässten Socken klatschen wie tote Fische gegen meine Knöchel, und mir fällt wieder ein, wie sehr ich es früher geliebt habe, schnell zu sein. Wenn ich etwas will, verdränge ich jeden Gedanken daran, dass es unmöglich sein könnte. Dadurch habe ich so viele Rennen gewonnen. Die anderen Mädchen sind auf etwas Dummes wie Hoffnung zugelaufen. Ich lief auf das Unvermeidliche zu.

Die Straße wird zu einer Brücke, die gewölbt über die Bucht führt und dann zum glatten Asphalt der Main Street abfällt, der Straße zwischen den Anlegestellen und den bonbonfarbenen Markisen der Läden. Ich rase im niedrigsten Gang durch den Hafen, über mir kreischen die Möwen, die Läden neben mir verschwimmen, und unter mir spritzt das Wasser aus den Pfützen. Weil ich keine Regenjacke trage, rinnt mir das Wasser unters Shirt und macht meinen BH nass, was sich anfühlt, als hätte ich einen Eisbeutel um die Rippen geschnallt. Warum mache ich das eigentlich?, denke ich, als wüsste ich es nicht längst.

Es regnet noch heftiger, und ich halte den Kopf gesenkt, bis ich die Route 5A erreiche, den einzigen Highway, der durch die Stadt führt. Aus Gründen, die meine Mutter »eindeutig irre« nennt, steht an der Kreuzung mit der Main Street nur ein Stoppschild statt einer Ampel. In der Schule nennen alle sie die Mörderauffahrt, was die Eltern gern erwähnen, wenn wieder einmal jemand stirbt und sie einen Kommentar an den Mariner schicken. Ihre Artikel sind alle gleich: Das Problem mit den Kindern heutzutage, denn wenn man auf der 5A stirbt, war man wahrscheinlich betrunken oder wurde von einem Betrunkenen angefahren, was die Autoren immer wieder zum gleichen Schluss kommen lässt, entweder liegt es an schlechter Erziehung oder an nicht genug Kirche. Ich weiß nicht, warum sie nicht mal einen von uns fragen. Die Antwort ist einfach: Die Welt fühlt sich groß und grenzenlos an, wenn man betrunken in einem schnellen Auto sitzt, und klein und erstickend überall da, wo sie einen im Blick haben.

Am Straßenrand stehen so viele weiße Fähnchen, dass sie von Weitem wie Wildblumen auf einem Feld aussehen. Früher wurde mir immer schlecht, wenn ich an ihnen vorbeifuhr, einmal musste ich mich tatsächlich übergeben - ich bin nicht mal abgestiegen, ich habe nur schneller gestrampelt, den Kopf zur Seite gedreht und den Mund aufgemacht. Aber letztes Jahr gab es irgendeinen Jahrestag zum ersten Fähnchen, und plötzlich fingen die Leute an, sich mit ihnen zu fotografieren. Meistens Kinder aus der Schule, aber auch ein paar Fremde. Es waren so...

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