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Simone

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
304 Seiten
Deutsch
Aufbau Verlage GmbHerschienen am15.08.20231. Auflage
»Einen Tag vor ihrem Tod rief mich Simone an. Das weiß ich genau, denn ich hatte keine Zeit.«

Berlin, Mitte der achtziger Jahre. Zwei junge Frauen feiern, tanzen, reisen, verlieben sich - und werden im Osten der Stadt erwachsen. Dann fällt die Mauer, und das Leben der Freundinnen verändert sich in rasender Geschwindigkeit. Simone wird zur Weltenbummlerin, Anja gründet eine Familie und arbeitet als Journalistin. Sie treiben auseinander und verlieren sich doch nicht. Bis zu dem Tag, an dem Simone für immer geht und Anja zurückbleibt. Wer war Simone? Und warum hat sie sich das Leben genommen?

Auf der Suche nach Antworten unternimmt die Autorin eine Reise zurück in das Leben der Freundin und in ihr eigenes. Sie spricht mit Angehörigen, Freunden und Experten, liest Briefe, Tagebücher und Dokumente - und macht daraus bewegende Literatur.



Anja Reich, geboren in Berlin, ist Autorin und Journalistin. Seit 1996 arbeitet sie für die »Berliner Zeitung« und berichtete ab 2001 als Korrespondentin aus New York und von 2018 bis 2020 aus Tel Aviv. Für ihre Reportagen erhielt sie den Deutschen Reporterpreis und den Theodor-Wolff-Preis. Im Aufbau Verlag erschien zuletzt von ihr »Getauschte Heimat. Ein Jahr zwischen Berlin und Tel Aviv« (zusammen mit Yael Nachshon Levin). Sie lebt in Berlin.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR23,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR16,99

Produkt

Klappentext»Einen Tag vor ihrem Tod rief mich Simone an. Das weiß ich genau, denn ich hatte keine Zeit.«

Berlin, Mitte der achtziger Jahre. Zwei junge Frauen feiern, tanzen, reisen, verlieben sich - und werden im Osten der Stadt erwachsen. Dann fällt die Mauer, und das Leben der Freundinnen verändert sich in rasender Geschwindigkeit. Simone wird zur Weltenbummlerin, Anja gründet eine Familie und arbeitet als Journalistin. Sie treiben auseinander und verlieren sich doch nicht. Bis zu dem Tag, an dem Simone für immer geht und Anja zurückbleibt. Wer war Simone? Und warum hat sie sich das Leben genommen?

Auf der Suche nach Antworten unternimmt die Autorin eine Reise zurück in das Leben der Freundin und in ihr eigenes. Sie spricht mit Angehörigen, Freunden und Experten, liest Briefe, Tagebücher und Dokumente - und macht daraus bewegende Literatur.



Anja Reich, geboren in Berlin, ist Autorin und Journalistin. Seit 1996 arbeitet sie für die »Berliner Zeitung« und berichtete ab 2001 als Korrespondentin aus New York und von 2018 bis 2020 aus Tel Aviv. Für ihre Reportagen erhielt sie den Deutschen Reporterpreis und den Theodor-Wolff-Preis. Im Aufbau Verlag erschien zuletzt von ihr »Getauschte Heimat. Ein Jahr zwischen Berlin und Tel Aviv« (zusammen mit Yael Nachshon Levin). Sie lebt in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783841233332
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum15.08.2023
Auflage1. Auflage
Seiten304 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse801 Kbytes
Artikel-Nr.11542897
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



1


Einen Tag vor ihrem Tod rief Simone mich noch einmal an. Das weiß ich genau, denn ich hatte keine Zeit.

Ich stand im Flur unserer Wohnung, das Telefon in der Hand. Mein Sohn rutschte mit seiner Feuerwehr über den Boden, meine Schwester lief mit Getränken an mir vorbei, meine Mutter unterhielt sich mit meinem Vater. Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln.

Es war im Oktober 1996, der vierte Geburtstag meines Sohnes und der achtundfünfzigste meines Vaters. Sie hatten am gleichen Tag Geburtstag, aber noch nie zusammen gefeiert. Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich sechs war. Nach der Scheidung durfte ich meinen Vater kaum sehen. Lange wusste ich nicht einmal, wann er Geburtstag hat. Ich wusste vieles nicht über meine Familie. Es gab Dinge, über die man sprach, und Dinge, über die man nicht sprach. Über die Dinge, die mich interessierten, sprach man nicht.

Als mein Sohn geboren wurde, sagte meine Schwester zu mir: Unser Vater hat heute ja auch Geburtstag. Er kam ins Krankenhaus, noch am selben Tag, zum ersten Mal nach der Scheidung sah ich meine Eltern wieder zusammen. Sie standen an dem kleinen gläsernen Bett, in dem mein Sohn lag, und schauten ihn an. Ich dachte, dass es ein Zeichen war, Zeit, die Familie wieder zusammenzuführen.

An jenem Oktobertag sollte es so weit sein. Ich verließ die Redaktion früher als sonst, holte meinen Sohn aus der Kita ab. Um fünf klingelte es an der Tür. Mein Vater. Ich umarmte ihn. Seine Barthaare kratzten. Er roch nach Pfeifentabak.

»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte ich.

Er strich mir über die Wange.

»Wie geht es dir?«

»Gut, viel zu tun«, sagte ich und hätte es am liebsten sofort wieder zurückgenommen, weil mir einfiel, wie gerne er viel zu tun gehabt hätte. Sein Institut war vor Kurzem abgewickelt worden, mein Vater, ein leidenschaftlicher Chemiker, hatte seine Arbeit verloren und holte, um sich die Zeit zu vertreiben, meinen Sohn einmal in der Woche von der Kita ab, machte Ausflüge ins Naturkundemuseum mit ihm, wie früher mit meiner Schwester und mir.

»Opa, Opa!« Mein Sohn kam angerannt, mein Vater übergab ihm sein Geschenk. Es war eine Videokassette, die mein Sohn schon hatte. Er warf sich auf den Boden und schrie. Meine Schwester sagte, die Kassette könne man doch umtauschen. Meine Mutter nahm meinem Vater die Jacke ab. Ich hätte auch gerne geschrien.

»Alles in Ordnung?«, fragte mein Mann.

Das alles hat natürlich überhaupt nichts mit Simone zu tun. Ich erzähle es nur, weil ich nach Erklärungen suche, warum ich nichts bemerkte, warum mir nichts auffiel, als sie mich anrief. Ich war mit mir selbst beschäftigt, ich hing in der Vergangenheit fest und sah nicht, was in der Gegenwart passierte.

Das Telefon klingelte, kurz bevor wir mit dem Abendessen beginnen wollten, es war eines dieser alten Festnetztelefone, die durch eine Kordel mit dem Hörer verbunden waren. Ich ließ es klingeln, in der Hoffnung, der Anrufer gebe von allein auf. Es klingelte weiter.

Mein Mann verlor als Erster die Nerven. Er nahm den Hörer ab. Ich sah ihn reden und lachen. Er schien es zu genießen, die Pause vom Kindergeburtstag, von meinem Familienexperiment. Ich wollte mich gerade zu den Gästen setzen, da hörte ich ihn sagen: »Warte, ich hol sie schnell.« Er gab mir ein Zeichen. »Simone«, flüsterte er.

Simone!

Wir kannten uns seit unserer Jugend in Berlin-Lichtenberg. Ich war mal mit ihrem Bruder zusammen. Als mit ihm Schluss war, blieben seine Schwester und ich Freundinnen. Das war vor allem Simone zu verdanken. Sie schrieb mir Karten, kaufte mir Geschenke, besuchte mich, manchmal ohne Ankündigung. Stand einfach vor der Tür: groß, schlank, dunkle Haare, mandelförmige Augen, Brauen, die sich über der Nase fast berührten. Wie eine Statue. Ihre Mutter war Tschechin, Simone wurde oft für eine Spanierin oder Südamerikanerin gehalten, sie sprach fließend Spanisch, Russisch, Französisch, tanzte Tango und Salsa, ging zum Schaufrisieren, spielte Gitarre, fuhr mit ihren Eltern nach Ungarn in den Urlaub.

Ich kannte niemanden, dem es in der DDR so gut ging wie Simone. Sie war ein Mädchen, das ihre Talente ausleben konnte, dem es an nichts fehlte. Ein Ostberliner High-Society-Girl, für das die Mauer genau zum richtigen Zeitpunkt fiel. Simone war zwanzig und startete in ihr neues Leben, als habe sie auf nichts anderes gewartet. Wechselte von einer Ostberliner Hochschule an die Westberliner Freie Universität, reiste in den Semesterferien durch die Welt, am liebsten nach Lateinamerika, jobbte als Kellnerin in Cafés und Hotels, lernte ständig neue Leute kennen. Ihr bester Freund war Thomas, der Betreiber der Assel in der Oranienburger Straße, einer berühmten Szenekneipe in Ostberlin.

Simone war nur ein Jahr jünger als ich, aber unsere Leben hätten unterschiedlicher nicht sein können. Sie war immer noch Studentin, immer noch Single. Ich arbeitete als Journalistin, hatte einen Mann, einen Sohn, eine Festanstellung, ein Au-Pair-Mädchen und seit Neuestem auch einen Kater, der meinem Sohn und dem Au-Pair-Mädchen Gesellschaft leisten sollte, wenn ich spät von der Arbeit kam.

Simone führte das Leben, von dem wir immer geträumt hatten, ich das, was mir vernünftig erschien. Sie war jung, ich war erwachsen. So kam es mir vor. Ich beneidete sie um ihre Schönheit, ihren Mut, ihre Unabhängigkeit. Und merkte nicht, wie ich sie verlor.

Als wir uns das letzte Mal gesehen hatten, vor vier, fünf Wochen, verkündete sie, nach Tschechien zu ziehen. Zu ihrem Bruder. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Vielleicht wollte sie meinem Sohn gratulieren, dachte ich, während ich zum Telefon lief. Vor einem Jahr war sie noch vorbeigekommen, mit einer Kindertorte. Oder war das vor zwei Jahren gewesen?

Sie redete gleich drauflos, als hätten wir erst gestern miteinander gesprochen, erzählte mir, dass sie doch nicht zu ihrem Bruder nach Tschechien gehen werde, sondern bereits neue Pläne habe: Wohnung fertig renovieren, Studium beenden, nebenbei jobben, im Interconti und in einem Bioladen in Schöneberg.

»Ich bringe mein Leben in Ordnung, Anja«, sagte sie.

Ich mochte es, wenn sie so war, so überschäumend, so voller Elan. Ich hätte ihr gerne weiter zugehört, aber ich hatte keine Zeit, ich musste mich um meine Gäste kümmern.

»Simone«, unterbrach ich sie, »wir feiern hier gerade Geburtstag.«

Für einen Moment war es still in der Leitung. Dann sagte sie: »Ach so.«

Sie könne ja später noch vorbeikommen, sagte ich, auf ein Glas Wein, wenn die Familie weg sei. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, jetzt, da ich weiß, dass sie nie mehr vorbeikommen wird.

Einen Tag später rief sie noch einmal an. Ich saß an meinem Schreibtisch in der Redaktion. Es war nachmittags gegen drei, halb vier. Ich musste einen Artikel fertig schreiben. Sie fragte, ob ich zu ihr kommen könne, sie wolle mir gern ihre frisch gestrichene Wohnung zeigen. Ob das vielleicht bis nächste Woche Zeit hätte, fragte ich.

Zwei Stunden später sprang sie aus dem Fenster.

Ihr Bruder rief mich an, mit heiserer Stimme. »Mone ist tot.« Drei Worte nur, ein Satz. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt, was ich gedacht habe. Vielleicht habe ich »Nein« geschrien, vielleicht flüsterte ich es auch nur. Ich weiß nur, dass die Welt nach diesem Anruf eine andere war.

Ich konnte erst nicht weinen und dann konnte ich nicht mehr aufhören zu weinen. Zur Beerdigung bin ich zu spät gekommen und zu früh gegangen und seitdem nie wieder auf dem Friedhof gewesen.

Ich machte weiter mit meinem Leben, arbeitete noch mehr, bekam noch ein Kind, zog mit meiner Familie nach New York, lernte neue Menschen kennen, schloss neue Freundschaften, versuchte, Simone zu vergessen, weil in meinen Erinnerungen an sie all die Fragen auftauchten, auf die ich keine Antworten wusste: Warum sollte ich zu ihr kommen an jenem Oktobertag des Jahres 1996? Was wollte sie mir sagen? Was wäre gewesen, wenn ich mir Zeit für sie genommen hätte? Würde sie dann noch leben? Hätte ich sie retten können?

Ich weiß inzwischen, dass das die typischen Fragen und Selbstbeschuldigungen Hinterbliebener sind, die nach Erklärungen suchen. Sie wollen nicht schuld sein oder brauchen die ...

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