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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
336 Seiten
Deutsch
Zsolnay-Verlagerschienen am25.09.20231. Auflage
Ein Memoir voller 'Herz, Humor und Intelligenz' (Joshua Cohen) - Menachem Kaiser begibt sich auf Schatzsuche und findet sein Familienerbe.
Die Geschichte seiner eigenen Familie hatte den in Toronto geborenen Menachem Kaiser nicht sonderlich interessiert, ehe er nach Polen aufbrach, ins ehemalige schlesische Industriegebiet. Dort besaßen seine Vorfahren einst ein Mietshaus, das von den Nazis enteignet wurde; Versuche einer Restitution waren bisher gescheitert.
Und plötzlich befindet man sich inmitten einer abenteuerlichen Ermittlung, begleitet den Erzähler zu skurrilen Schatzsuchern, durchforscht mit ihm Keller und Tunnel, läutet an fremden Türen, beauftragt eine mysteriöse Anwältin ...
Vergangenheit und Gegenwart kommen einander in diesem ganz und gar außergewöhnlichen Erinnerungsbuch nahe. Was bedeutet es, ein Erbe anzunehmen, und gibt es überhaupt so etwas wie historische Gerechtigkeit?

Menachem Kaiser wurde 1985 geboren, studierte kreatives Schreiben an der University of Michigan und arbeitet als Autor u. a. für den New Yorker, das Wall Street Journal und The Atlantic. Er lebt in Brooklyn, New York. Für Kajzer, sein erstes Buch, erhielt er 2022 den Sami-Rohr-Preis für jüdische Literatur.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR28,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR20,99

Produkt

KlappentextEin Memoir voller 'Herz, Humor und Intelligenz' (Joshua Cohen) - Menachem Kaiser begibt sich auf Schatzsuche und findet sein Familienerbe.
Die Geschichte seiner eigenen Familie hatte den in Toronto geborenen Menachem Kaiser nicht sonderlich interessiert, ehe er nach Polen aufbrach, ins ehemalige schlesische Industriegebiet. Dort besaßen seine Vorfahren einst ein Mietshaus, das von den Nazis enteignet wurde; Versuche einer Restitution waren bisher gescheitert.
Und plötzlich befindet man sich inmitten einer abenteuerlichen Ermittlung, begleitet den Erzähler zu skurrilen Schatzsuchern, durchforscht mit ihm Keller und Tunnel, läutet an fremden Türen, beauftragt eine mysteriöse Anwältin ...
Vergangenheit und Gegenwart kommen einander in diesem ganz und gar außergewöhnlichen Erinnerungsbuch nahe. Was bedeutet es, ein Erbe anzunehmen, und gibt es überhaupt so etwas wie historische Gerechtigkeit?

Menachem Kaiser wurde 1985 geboren, studierte kreatives Schreiben an der University of Michigan und arbeitet als Autor u. a. für den New Yorker, das Wall Street Journal und The Atlantic. Er lebt in Brooklyn, New York. Für Kajzer, sein erstes Buch, erhielt er 2022 den Sami-Rohr-Preis für jüdische Literatur.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783552073760
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum25.09.2023
Auflage1. Auflage
Seiten336 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.11589568
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe




1


Maier Menachem Kaiser, der Vater meines Vaters, starb im April 1977. Das war acht Jahre, bevor ich geboren wurde. Ich habe ihn nicht gekannt, wir hatten keine Großvater-Enkel-Momente. Ich habe ihn nie umarmt, er hat mir nie Geschenke gemacht, von denen meine Eltern nicht begeistert waren, er hat mich nie ausgeschimpft, weil ich auf die Straße gelaufen war, oder mir gesagt, dass er mich liebt. Für mich war er der Vater, den mein Vater einmal gehabt hatte, und das war s. Ich wusste erstaunlich wenig über ihn, viel weniger, als dem Umstand zugeschrieben werden konnte, dass unsere Lebensspannen sich nicht überschnitten. Was wusste ich eigentlich? Ich kannte die Boxenstopps im Nachruf. Ich wusste, dass er in Polen geboren war (nicht aber, in welcher Stadt); ich wusste, dass er den Krieg überlebt hatte (kannte aber kein einziges zusätzliches Detail), und ich wusste, dass er nach dem Krieg nach Deutschland gegangen war, wo er 1946 Bertha Ramras geheiratet und ein Kind bekommen hatte, meinen Onkel; dann nach New York, wo mein Vater und meine Tante geboren wurden; dann nach Toronto, wo er mit 56 Jahren an Herzversagen starb.

Das bisschen Ahnung, das ich von meinem Großvater hatte, rührte von dem her, was mein Vater mir erzählt hatte, meist am Jahrestag seines Todes, der Jahrzeit. An diesem Tag befolgten mein Vater und ich eine Routine, dieselbe in jedem Jahr, festgelegt, ritualisiert. Kurz vor Sonnenaufgang weckt mich mein Vater, und wir gehen in die Schul, wo er den Gottesdienst leitet und das Kaddisch spricht. Danach holt er ein paar Flaschen Schnaps hervor, einen Beutel mit Gebäck, einen Beutel mit Crackern. Etwa ein Dutzend Männer stehen herum, trinken ein Gläschen, essen ein wenig Gebäck und sagen zu meinem Vater: »Möge seine Neschama ein Alija haben.« Das sagen sie so, wie man einander frohe Feiertage wünscht - der Form halber, nachlässig, aber nicht lieblos. Mein Vater antwortet »Amen«, danke.

Nach der Schul fahren er und ich zum Friedhof. Der ist äußerst gepflegt, nach Zugehörigkeit zu den verschiedenen Synagogen aufgeteilt und wirkt wie ein Wohnviertel mit unscharfen Abgrenzungen und akkuraten Avenuen: Beth Emeth, Minsker, Stopnitzer, Anschel Minsk. Gesittet sogar im Jenseits, liegen Männer und Frauen separiert begraben.

Wir stellen das Auto ab und gehen zum Grab meines Großvaters, wo wir Psalmen lesen. Es gibt Psalmen für jeden Anlass. An einem Grab spricht man Kapitel 33, 16, 17, 72, 91, 104 und 130; aus dem Kapitel 119 dann, das aus 22 Abschnitten besteht, für jeden hebräischen Buchstaben einer, liest man die Verse, die dem Namen des Hingeschiedenen entsprechen. Ich lese die Psalmen sehr schnell, für mich ist das bloß eine von diesen spirituellen Aufgaben, und ich habe Übung darin, mich durch das Hebräische zu ackern. Aber wenn ich fertig bin, habe ich nichts mehr zu tun, kann nirgendwohin, und so stehe ich vor dem Grab meines Großvaters, gelangweilt, aber nicht rastlos, und beobachte meinen Vater. Er sieht sehr gut aus, mit kantigem Kinn, vollem schwarzem Haar, gepflegt. Er trägt, was er immer trägt: hohe Schnürschuhe, ein weißes oder blaues Hemd mit Button-down-Kragen, eine dunkle Windjacke und eine dunkle Baseballmütze (das Logo ist ihm vollkommen egal, da könnte SWAT oder FUBU darauf stehen). Er liest die Psalmen viel langsamer als ich, langsamer sogar als in seinem üblichen Gebetstempo. Mein Vater ist ein Gewohnheitsmensch - aus Regeln und Routine bezieht er einen tiefen Trost, sogar eine Art Stärke -, und seine Intensität zeigt sich in den vorgeschriebenen Methoden. Ich weiß nicht, was mein Vater für seinen Vater empfindet, über ihn denkt. Aber was immer diese Gedanken und Empfindungen sein mögen, sie werden demonstriert, doch nicht ganz artikuliert, wenn er leise, aber nicht stumm am Grab seines Vaters betet. Er schließt seine Augen so fest, dass sich an seinen Schläfen Falten bilden. Hie und da, bei einem hebräischen Wort stockend, wird seine Stimme lauter, bricht. Mein Vater zermalmt die Worte des Psalmisten in seinem Mund. In den meisten Jahren weint er nicht, manchmal aber doch - stoische Tränen ohne Schluchzen -, und ich spähe zu ihm hin, unbehaglich, unsicher, was ich oder ob ich etwas tun soll. Heute fällt mir ein, dass dies die einzigen Anlässe waren, bei denen ich meinen Vater weinen sah.

Auf dem Grabstein steht der hebräische Name meines Großvaters, der zugleich mein offizieller Name ist: Meir Menachem Kaiser. (Meine Eltern haben auf die englische Schreibweise von »Maier« upgedatet.) Seltsam, seinen Namen auf einem Grabstein eingraviert zu sehen. Ich würde nicht sagen, es sei verstörend oder verunsichernd - ich bin noch jung, hege nicht viele Gedanken an den Tod, tiefgründig oder nicht -, es ist bloß schräg. Den restlichen Platz auf dem Grabstein nimmt ein kurzes hebräisches Gedicht ein, ein Wortspiel mit seinem Namen - »Meir« ist vom hebräischen Wort für Licht abgeleitet, Menachem vom Wort für Trost: »Das Licht (meir) unserer Augen ist von uns genommen / Wir finden keinen Trost (menachem).«

Als Gedicht ist das nichts Besonderes, aber es ist aufrichtig, geradeheraus, unprätentiös. Ich bin mir sicher, dass das Gedicht alle, die meinen Großvater kannten, berührt hat und nach wie vor berührt.

Ich habe meinen Großvater nie kennengelernt; ich bin nicht tief berührt. Gefühllos bin ich nicht - an einem Grab fühlt man irgendetwas: Man fühlt die Gestalt der Traurigkeit, einen Stich des Mitgefühls, weil andere den Verlust so viszeral empfinden -, doch mein Großvater ist für mich so abstrakt wie für ihn sein Großvater, dessen Name nicht einmal mein Vater kennt. Die Abwesenheit meines Großvaters ist ein trockenes, untragisches Faktum. Dass ich seinen Namen trage, ist ein Zufall des Timings: Wäre eine meiner beiden älteren Schwestern männlich gewesen, dann hätte eben derjenige den Namen Meir Menachem erhalten, der acht Jahre lang da gehangen und auf einen Jungen gewartet hatte, auf den er fallen konnte.

Als mein Vater endlich mit den Psalmen fertig ist, nehmen er und ich jeder ein Steinchen vom Boden und legen es oben auf den Grabstein, eine Sitte, von der ich nicht weiß, woher sie kommt, aber ich nehme an, sie bedeutet: Ich war hier, ich erinnere mich. Während wir durch den und dann aus dem Friedhof fahren, spricht mein Vater - der sich aufgewühlt, schwermütig oder vielleicht einsam fühlt - über seinen Vater. Aber er sagt nicht viel, und seine Beschreibungen gehen beinahe nie über frustrierend ungenaue Gemeinplätze hinaus; fast nie gibt es Anekdoten, Zitate, Konflikte, Rückschläge, Erfolge, Angewohnheiten, Marotten, nichts, das dem toten Mann, den wir eben besucht haben, Form oder Gestalt verleihen könnte. In einem Jahr erzählte mir mein Vater, dass mein Großvater ein Gesundheitsfanatiker gewesen sei. »Er machte Yoga«, sagte Vater, »lange bevor das in Mode war. Jeden Tag ist er auf dem Kopf gestanden.« Ein anderes Jahr erzählte er, dass Großvater an Magengeschwüren gelitten und Magnesiummilch getrunken habe. Und in einem weiteren Jahr, dass mein Großvater und ich sehr ähnlich seien. Ich bat meinen Vater, das näher zu erläutern - wie genau bin ich wie Zaidy? Mein Vater schüttelte den Kopf und sagte: »Weiß nicht. Ich sehe es einfach.«

Es gibt Fotos von meinem Großvater, aber nicht viele, und die meisten sind streng komponiert und gestellt. Er ist ansehnlich, kahlköpfig, sieht gut aus im Anzug. Er hat ein breites, glattrasiertes Gesicht und Wangen, die beim Lächeln Knitterfalten bilden.

Wir wussten, dass mein Großvater aus seiner Familie der Einzige gewesen war, der den Krieg überlebt hatte, dass seine Eltern und seine Geschwister ermordet worden waren, ebenso wie beinahe alle in seiner weiteren Verwandtschaft. Aber als Wissen war dies dunkle Materie. Wir wussten nichts über sein Leben vor dem Krieg oder in der Zwischenkriegszeit. Wir wussten nicht, in welchen Konzentrationslagern er gewesen war oder wie sein Vater seinen Lebensunterhalt verdient hatte. Wir wussten nichts über seine Eltern, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen; mein Vater und seine beiden Geschwister - ganz...


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