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Anleitung zum Traurigsein

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
224 Seiten
Deutsch
DuMont Buchverlag GmbHerschienen am14.11.20231. Auflage
»Wie ich lernte, mit dem Verlust zu leben - und ein anderer wurde.« Als Berni Mayers Tochter Olivia an einem Gehirntumor stirbt, ist der Schmerz allumfassend. Das Gefühl der Trauer sickert in alle Bereiche seines Lebens. Wie kann man mit einem derartigen Verlust leben? Der Autor schildert hier seine Odyssee durch die Trauer, mit der er am Ende eine Art Waffenstillstand schließt, um weiterleben zu können. Er zeigt, was ihm geholfen hat und was nicht. So erfahren die Leser:innen, dass man Trauer auch mal wegtanzen kann, Ernährung oder Fitnesstraining unterstützend wirken und wie Therapien und manchmal auch Psychopharmaka helfen können. Und Berni Mayer erlebt, wie wichtig Selbstwirksamkeit ist und welchen Anteil Meditation und buddhistische Philosophie am inneren Frieden haben. >Anleitung zum TraurigseinRosalieEin gemachter MannDas vorläufige Ende der Zeit< (2023) erschienen.mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

Klappentext»Wie ich lernte, mit dem Verlust zu leben - und ein anderer wurde.« Als Berni Mayers Tochter Olivia an einem Gehirntumor stirbt, ist der Schmerz allumfassend. Das Gefühl der Trauer sickert in alle Bereiche seines Lebens. Wie kann man mit einem derartigen Verlust leben? Der Autor schildert hier seine Odyssee durch die Trauer, mit der er am Ende eine Art Waffenstillstand schließt, um weiterleben zu können. Er zeigt, was ihm geholfen hat und was nicht. So erfahren die Leser:innen, dass man Trauer auch mal wegtanzen kann, Ernährung oder Fitnesstraining unterstützend wirken und wie Therapien und manchmal auch Psychopharmaka helfen können. Und Berni Mayer erlebt, wie wichtig Selbstwirksamkeit ist und welchen Anteil Meditation und buddhistische Philosophie am inneren Frieden haben. >Anleitung zum TraurigseinRosalieEin gemachter MannDas vorläufige Ende der Zeit< (2023) erschienen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783832160852
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum14.11.2023
Auflage1. Auflage
Seiten224 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1142 Kbytes
Artikel-Nr.11595799
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


1

Luxustrauer

Ich wäre gerne viel öfter traurig.

Ich meine die Traurigkeit, wie man sie auch aus der Populärkultur kennt. Aus Filmen, Serien und Büchern. Bei der jemand verzweifelt alles aus sich rausheult. Bei der es jemanden grässlich sticht in der Herzgegend. Bei der man sofort begreift: Dieser Mensch ist traurig, und man weiß auch, warum.

Eine situative, komprimierte Traurigkeit mit konkretem Anlass - so eine Traurigkeit würde ich gerne öfter empfinden.

Ich würde gerne öfter eine Stunde lang auf meiner Couch vor mich hin weinen und vielleicht dabei melancholische Popsongs wie »Funeral« von Phoebe Bridgers oder »This Life« von Vampire Weekend hören. Oder auch nachts im Bett liegen, über den Verlust unserer Tochter nachdenken und irgendwann unter Tränen einschlafen. Und doch gelingt mir das höchstens zweimal im Jahr.

Für mich ist eine zielgerichtete und zeitlich begrenzte Trauer ein seltener Glücksfall. Ein Erfolg meiner Trauerarbeit. Dann ist meine Trauer isoliert, dann habe ich sie im Griff. Dann liefert sie eine unmittelbare Katharsis und endet in erlösender Erschöpfung. Und dann geht es mir für kurze Zeit tatsächlich besser.

Das ist die Luxustrauer. Das ist nicht die Trauer, die mir im Alltag zu schaffen macht. Die mich lähmt und belastet. Die ich überwinden muss, um in Kontakt mit meinem Sohn, meiner restlichen Familie, meinem Umfeld und mir selbst zu bleiben. Die Luxustrauer ist eine willkommene Auszeit. Während sie anhält, muss ich nichts machen, ich kann einfach nur traurig sein. Die alltägliche Trauer ist tückischer, auf keinen Moment festlegbar, sie schleicht sich in alle Vorgänge und Gedanken. Um sie geht es in diesem Buch.

Mit dieser Trauer muss ich die meiste Zeit leben. Oft erkenne ich sie nicht mal auf den ersten Blick als Trauer. Sie erschöpft mich und höhlt mich wie eine chronische Erkältung aus. Sie tritt als Angespanntheit und Wut in Erscheinung, als scheinbar grundloser Frust und Defätismus. Als Müdigkeit, die sich bemerkbar macht, wenn ich mit meinem Sohn für die Klassenarbeit Bruchrechnen lerne und ungehalten auf seine falschen Antworten reagiere oder existenziell mit meiner Freundin streite, selbst wenn es dabei nur um die Konsistenz von Porridge geht. Wenn ich Fahrradfahrer anschreie, die mir die Vorfahrt nehmen. Wenn ich manchmal mitten am Tag erschöpft auf der Couch einschlafe, obwohl ich eigentlich früh im Bett war. Wenn mir Konflikte buchstäblich auf den Magen schlagen und womöglich den kleinen Riss in meiner Speiseröhre verschlimmern. Wenn mein Zahnfleisch auch mit der neuen Krone nicht aufhört zu schmerzen. Wenn ich in Stresssituationen plötzlich dieses Pfeifen im Ohr habe.

Das ist die Art von Trauer, die ich gerne wieder loswerden will. Die ich unbeschadet überstehen will, auch wenn es dafür vermutlich zu spät ist.

Der argentinische Autor und Psychiater Jorge Bucay schreibt in seinem Buch der Trauer:

Ich habe den Eindruck, das Geheimnis, mit unseren Verlusten zurechtzukommen, besteht genau darin, dass wir uns dazu durchringen, die Trauer auszuhalten, sie als Teil des Weges zu verstehen (...).1

In diesem Buch möchte ich beschreiben, was ich unternommen habe, um die Auswirkungen von Trauer auf mein Leben zu erfassen und in Schach zu halten. Doch ein Teil dieses Wegs besteht nach wie vor im geduldigen Aushalten eines Zustands. Oder um es weniger passiv zu formulieren: im Beobachten, wie sich dieser Zustand langsam verändert. Manchmal über Jahre hinweg.

Bucay schreibt auch, Trauer sei keine Krankheit, sondern »ein Prozess, der zur Überwindung eines Verlusts«2 notwendig sei. Also ein Heilungs-, aber vielleicht noch mehr ein Verständnisprozess.

Ich habe nie eine völlige Heilung, eine Wiederherstellung angestrebt; ich habe recht schnell erkannt, dass es keinen Weg zurück in den Zustand vor dem Verlust gibt. Ich habe auch nichts gegen das Traurigsein, ich bin sogar gerne traurig. Aber ich will verstehen, was die Trauer mit meinem Geist und Körper macht, wo sie mir schadet und wo sie mir vielleicht sogar nützt. In der Psychotherapie spricht man auch vom Dual Process. Dieser Theorie zufolge sind unsere Gedanken das Ergebnis zweier verschiedener Prozesse: eines impliziten, also automatischen und unbewussten Prozesses und eines expliziten, also kontrollierten und bewussten Prozesses. In meinem Fall handelt es sich um ein Oszillieren zwischen Alltag und Ausnahmezustand, eine gleichzeitige Anwesenheit von Trauer und Klarkommen. Das ist das Verständnis von Trauer, das diesem Buch zugrunde liegt. Doch die Prozesse kann man verstehen lernen, man kann sich das diffus im Innern Wirkende bewusst machen und einen gesünderen aktiven Ausdruck dafür suchen. Und derartige Aktivitäten, mit denen wir unsere Trauer ausdrücken oder auch nur besser aushalten können, ermöglichen letztlich eventuell doch so etwas wie Linderung. So ist der Kern meiner »Anleitung zum Traurigsein« eine Kombination aus Bewusstmachen, Verstehen und Aktivität.

Spätestens jetzt sollte ich erklären, warum ich überhaupt traurig bin, oder? Was ist mein konkreter Anlass? Dazu komme ich gleich, doch genau genommen empfinde ich schon lange eine subtile, unkonkrete Trauer. Mindestens seit ich zwölf war. Damals habe ich nachts Tolkiens Herr der Ringe gelesen und nebenbei heimlich Radio gehört, denn ich durfte als Kind nicht lange aufbleiben. Im Radio lief »All You Zombies« von den Hooters oder »Kayleigh« von Marillion. Melancholische Songs, die eine Seite in mir ansprachen, die vielleicht schon mit zwölf geahnt hat, dass das Leben eine mindestens sehr emotionale und vermutlich verlustreiche Angelegenheit werden könnte. Diese Songs schienen das anzuerkennen. (So funktioniert Popmusik ja ohnehin. Man hört sie und fühlt sich in seiner Lebenswirklichkeit gesehen.)

Im ersten Teil vom Herrn der Ringe durchqueren die Gefährten des larmoyanten Ringträgers Frodo und der zen-artige Superzauberer Gandalf irgendwann die Minen von Moria. Man weiß natürlich, dass etwas Schlimmes passieren wird, doch merkwürdigerweise habe ich vor allem in der Antizipation der Katastrophe, auf jenen Buchseiten, bevor alles den Bach runtergeht, Trost gefunden. Denn es ist ja noch nicht so weit, noch singen die Hooters in meinem Kopfhörer, noch greifen die Orks nicht an, noch lebt Gandalf. Diese vorgewitterliche Stimmung, die Ruhe vor dem großen Desaster hat sich damals zu einer Art emotionaler Grundhaltung bei mir herauskristallisiert. Noch mag alles in Ordnung sein, alles da sein, wo es hingehört, aber die Veränderung ist längst im Gange. Ein Verlust steht bevor.

Im Japanischen gibt es den Ausdruck mono no aware, den man vereinfacht mit »Traurigkeit der Dinge« übersetzen könnte. Gemeint ist das Wissen um die Vergänglichkeit allen Seins, die Fähigkeit, darin Schönheit zu erkennen, und eine Empfindung, die Freude, Trauer und Hinnahme vereint. Im englischen Wikipedia-Eintrag dazu ist das sehr treffend mit »transient gentle sadness«3, also einer »vorübergehenden sanften Traurigkeit« beschrieben.

So habe ich schon als Teenager empfunden - wenn auch damals eher unbewusst - und tue es heute noch. Vermutlich ist auch Selbstschutz Teil dieses Konzepts: Erwarte das Schlimmste, und freu dich über den wesentlich glimpflicheren Ausgang.

Schlimmes ist mir aber zunächst weder in meiner Jugend noch in meiner Zeit als junger Erwachsener zugestoßen. Mit vierzehn hatte ich mal einen Mofa-Unfall, nach einer Party mit viel zu viel Alkohol für einen Vierzehnjährigen. Dabei habe ich mir einen Schädelriss zugezogen, doch nach ein paar Wochen Kopfverband und Hausarrest war das ausgestanden.

Mein größtes Unglück war lange Zeit der Liebeskummer - bis heute eins meiner chronischen Leiden, eins, das ich am dringendsten loswerden will. Ich lasse mich auch nicht mehr von seiner Ästhetisierung durch die Popkultur blenden, ich kann Liebeskummer auf den Tod nicht ausstehen. Nicht nur, weil er zermürbend ist, sondern auch, weil er und mein begleitendes Selbstmitleid oft dringlichere Probleme beiseitewalzen. Oder mich taub machen für die Probleme anderer.

Als ich Anfang zwanzig war, starb meine Oma mütterlicherseits, die ich wirklich sehr gernhatte, und ich habe mich regelrecht geschämt, weil ich keine ordentliche Trauer empfinden konnte, dafür aber den ganzen Tag lang über eine Ex-Freundin nachdenken musste. Erst bei der Beerdigung erinnerten mich das bleiche Gesicht meiner Mutter und die Tränen meines Onkels an den Verlust, den wir alle gerade erlitten hatten.

Bis zum Tod meiner eigenen Kinder überforderte der Verlust von Menschen mich derart, dass ich eigentlich fast gar nichts empfunden habe. Liebeskummer hingegen konnte ich immer deutlich fühlen.

Ich weiß bis heute nicht genau, was ich davon halten soll, dass mich Trennungen oder Beziehungskrisen in so marianengrabentiefe Ratlosigkeit und Trauer stürzen. Glaubt man dem, was ich mal auf der Website einer Krankenkasse gelesen habe, dass die durch Liebe und Drogensucht ausgelösten Empfindungen im selben Bereich des menschlichen Hirns angesiedelt seien, dann bin ich vielleicht ein Emotionssüchtiger, und der Entzug ist die Hölle. Möglicherweise steckt auch nur eine Art Narzissmus dahinter.

Zumindest kann ich diesen leidigen Zustand mittlerweile als eine Art Maßangabe für Trauer benutzen. Als unsere Tochter ihre Krebsdiagnose bekam, konnte ich mit Bestimmtheit sagen: Das fühlt sich nicht an wie schlichter Liebeskummer, sondern wie Liebeskummer im Quadrat. In gewisser Weise war ich dankbar für diesen scheinbar profanen Vergleich, weil ich die...
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