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An seinem Platz sein

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
170 Seiten
Deutsch
Reclam Verlagerschienen am19.05.20231. Auflage
Welche Position habe ich - in der Gesellschaft, in der Familie, in meinem Umfeld? Diese Frage hat sich wohl jeder Mensch schon einmal gestellt. Und weiter: Welcher Raum steht mir zu, welche Grenzen darf ich überschreiten, welche neuen Welten erobern? Und möchte ich das überhaupt? Claire Marin, Shootingstar der französischen Philosophie, ergründet zwischenmenschliche und gesellschaftliche Beziehungen mit Blick auf konkrete Körper in konkreten Räumen - und gelangt dabei immer wieder zu verblüffenden Einsichten. Insbesondere Geschlechterrollen und die Klassenfrage erscheinen dabei in einem neuen Licht. Claire Marins poetisches Buch ist Philosophie im besten Sinne, denn die Autorin findet noch in den kleinsten Details des Alltags Antworten auf die großen Fragen des Lebens.

Claire Marin, geb. 1974, lehrt Philosophie in Frankreich und feiert seit einigen Jahren mit ihren philosophischen Essays große Erfolge. Ihre Bücher 'Hors de moi' (2008) und 'Rupture(s)' (2019) wurden mehrfach ausgezeichnet.
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Verfügbare Formate
BuchKartoniert, Paperback
EUR18,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR15,99

Produkt

KlappentextWelche Position habe ich - in der Gesellschaft, in der Familie, in meinem Umfeld? Diese Frage hat sich wohl jeder Mensch schon einmal gestellt. Und weiter: Welcher Raum steht mir zu, welche Grenzen darf ich überschreiten, welche neuen Welten erobern? Und möchte ich das überhaupt? Claire Marin, Shootingstar der französischen Philosophie, ergründet zwischenmenschliche und gesellschaftliche Beziehungen mit Blick auf konkrete Körper in konkreten Räumen - und gelangt dabei immer wieder zu verblüffenden Einsichten. Insbesondere Geschlechterrollen und die Klassenfrage erscheinen dabei in einem neuen Licht. Claire Marins poetisches Buch ist Philosophie im besten Sinne, denn die Autorin findet noch in den kleinsten Details des Alltags Antworten auf die großen Fragen des Lebens.

Claire Marin, geb. 1974, lehrt Philosophie in Frankreich und feiert seit einigen Jahren mit ihren philosophischen Essays große Erfolge. Ihre Bücher 'Hors de moi' (2008) und 'Rupture(s)' (2019) wurden mehrfach ausgezeichnet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783159621197
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum19.05.2023
Auflage1. Auflage
Seiten170 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1369 Kbytes
Artikel-Nr.11727423
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
Ein eigener Platz?
Ein Platz an der Sonne
»Ein jedes Ding an seinen Platz
Aussteigen
Nicht an seinem Platz bleiben können
Wurzeln schlagen
Sich kleinmachen
Die Herausforderung im Raum
Königinnen ohne Königreich
Meine Stimme finden
Die Dreisten
Die Logik des Durchbruchs
Es bleibt unruhig
Der »wahre Ort«
Die Misstöne des Begehrens
Abdriften und ausschweifen
Doppelleben
Einen Platz in mir bereiten
Der Raum im Inneren
Seinen Körper bewohnen
Hier
Familienquartett
Den Ast absägen
Reise nach Jerusalem
Die fehlenden Plätze
Sich einen Platz ersinnen
Geister
Die Vertriebenen
Billige Plätze
Zufällig da sein
Zugvögel
Vertraute Klänge
Nachdenken über Fortbewegung
Brauchen wir einen Platz?
Am Rande

Anmerkungen
Literaturhinweise
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Leseprobe

Ein eigener Platz?


»Nostalgischer (und falscher) Gegensatz

Entweder Sie schlagen Wurzeln, finden Ihre Wurzeln wieder oder passen sie an, entreißen dem Raum den Ort, der Ihrer sein wird, [â¦] eignen sich Millimeter um Millimeter Ihr zu Hause an [â¦].

Oder Sie tragen nur Ihre Kleidung auf dem Leib, behalten nichts, leben in Hotels, die Sie häufig wechseln, ebenso wie die Städte und die Länder [â¦]; Sie fühlen sich nirgends zu Hause, aber doch fast überall.«

Georges Perec, Träume von Räumen [Espèces d espaces]


Man könnte meinen, die Welt würde sich in Verwurzelte und Nomaden aufteilen, und es gäbe zwei Arten von Menschen: die Erdverbundenen und die, die sich vom Wind treiben lassen. Einige wären nur an dem Platz glücklich, den sie bewohnen, so als wären sie aus diesem Boden gemacht, aus diesem Stoff geformt. Andere würden lediglich die Gipfel streifen, wären Wesen, die nur vorbeiziehen und vorüberfliegen, ohne jemals wirklich an einem Ort oder in einer Beziehung verankert zu sein. Doch das ist nichts als ein »nostalgischer (und falscher) Gegensatz«, warnt uns Georges Perec. Wir befinden uns irgendwo dazwischen, sind als Wesen immer in Bewegung, wie schon Montaigne glaubte, selbst wenn diese Bewegung unauffällig, unsichtbar, tief in den Herzen, in den versteckten Winkeln der Gedanken verborgen bleibt. Wir stehen niemals still, selbst wenn wir uns auf unseren Reisen manchmal nicht von der Stelle bewegen und die Ferne in unserem Inneren liegt.

Es handelt sich um einen falschen Gegensatz, weil das Leben stets eine Durchreise mit emotionalen, sozialen, geographischen oder politischen Etappen ist. Wir befinden uns in Wirklichkeit nie genau am selben Platz, und wir laufen über Treibsand: »Das Leben ist unruhig, der Boden bebt unter unseren Schritten.«1 Wir segeln von einem Heimathafen zum nächsten, machen uns los, wechseln die Flagge, entscheiden uns für einen Kurs, doch die Strömungen treiben uns hin und her, die Winde lenken uns ab, wir scheitern auf terra incognita, auf unbekanntem Land. Wer weiß, was wir jeweils bei diesem Abdriften und Kentern entdecken, auch in uns selbst?

 

Warum dieses Buch? Weil es passieren kann, dass wir plötzlich von einem Platz fortgerissen werden, von dem wir glaubten, wir hätten ihn bewusst und mit Freude gewählt. Dieser Platz schien uns sicher, wir hatten ihn uns doch verdient - nicht ohne eine gewisse Blindheit für den Anteil des Zufalls, der uns dorthin verschlagen hatte. Wenn ich durch ein Ereignis oder eine Katastrophe erschüttert werde und dadurch meinen angestammten Platz verliere, erkenne ich womöglich, wie sehr ich dort eingeschränkt und gefangen war. Paradoxerweise setzt dieser erzwungene Ortswechsel mehr frei, als er mir nimmt. Wir sind vielleicht gar nicht immer in der besten Position, um sagen zu können, wo wir hingehören.

 

Manchmal akzeptieren wir Plätze, die uns mehr einschränken, als wir meinen, die uns zu eng sind, weil wir glauben, dass sie für uns bestimmt sind. Mit welchen Gründen, nach welcher Logik, reden wir uns am Ende selbst ein, dass uns ein offensichtlich zu kleiner Platz trotz allem angemessen ist?

 

Zweifelsohne liegt es an der Kraft jener nostalgischen Sehnsucht nach einem eigenen Platz. Diese Vorstellung beruht auf einer Idealisierung von Orten, die zu unseren Ursprüngen zurückführen, also von Orten, die wir eher aus Träumen als aus der Erinnerung kennen. Sie lässt uns glauben, dass es so etwas wie einen Platz gibt, an den wir hingehören , einen Platz, der zu uns passt, an dem wir uns einfügen wie das fehlende Puzzlestück, um ein beliebtes Bild von Perec aufzugreifen. Bei der Suche nach dem richtigen Platz geht es um die Frage nach unserer Einzigartigkeit, aber auch darum, wie wir uns in eine Gesellschaft, eine Familie oder Gruppe einfügen, der wir angehören oder gern angehören würden. Weil wir befürchten, unseren Platz zu verlieren, ersetzt zu werden, geben wir uns mit Räumen für unsere Gefühle oder Beziehungen zufrieden, die uns eher schaden als guttun. Man stellt sich seinen Platz wie eine sichere Bank vor, und er entspricht ja zweifelsohne einem gewissen Bedürfnis nach Ordnung, nach genauer Bestimmung und Abgrenzung.

 

Doch die Hierarchie der Plätze ist auch eine Hackordnung. Die Brutalität, mit der uns ein Rang zugewiesen werden kann, erklärt unsere Fluchten, Aufbrüche und Ausstiege. Bestimmte Plätze sind objektiv oder subjektiv unbewohnbar, gar unerträglich.2 Wir können dort nicht mehr atmen. Wir fliehen, um uns zu retten oder um zu einer dynamischen Selbstentfaltung zurückzufinden. Manchmal handelt es sich nur um ein einfaches Unbehagen, das Gefühl, fehl am Platz zu sein, dort nicht hinzugehören . Wir sind der Misston in der Melodie, der Sand im Getriebe, der Eindringling. Unsere Bemerkungen oder unsere Reaktionen werden als deplatziert empfunden. Dieser unangenehme Eindruck, abzuweichen, anders zu sein als die anderen, nährt die Lust auf einen anderen Platz, die Träume von anderen möglichen Orten, an denen wir heimisch werden und uns behaupten können. Er weckt das Verlangen nach den Lebensformen und Identitäten, die damit verbunden sind.

 

Wenn »leben bedeutet, von einem Raum zum nächsten zu wechseln und zu versuchen, sich dabei möglichst nirgends zu stoßen«3, ist der Schock bisweilen hart. Reale oder unsichtbare Hürden türmen sich auf meinem Weg auf, Mauern umzingeln mich, halten mich eher gefangen, als mich zu beschützen. Man muss die Lücken finden, sich einschleichen, sich einen Weg bahnen; der Einbruch geschieht unauffällig, ich benutze die Hintertür, um mir meinen Platz zu erobern. Individuen entfalten sich, indem sie sich fortbewegen und damit zugleich über sich hinauswachsen. Doch unsichtbare Strukturen und Markierungen stellen sich in den Weg: color lines4, gläserne Decken, Wagenburgmentalitäten.5 Man möchte sich selbst freien Lauf lassen und stößt gegen verschlossene Türen. Die Räume sind dicht, abgeschottet, und man gelangt nicht von einem Raum zum nächsten, indem man sich bloß treiben lässt und dem Strom folgt. Man muss sich Zugang verschaffen, Wände und Mauern einreißen. Oder, vorsichtiger, die geheimen Zauberwörter erlernen, die Codes entschlüsseln, sich in die Sprache einweihen lassen.


»Wir schützen uns, wir verbarrikadieren uns. Die Türen halten uns auf und trennen uns. [â¦] Wir können nicht von einem zum anderen gehen: [â¦] Wir brauchen ein Kennwort, müssen die Schwelle überschreiten, müssen uns gebührend ausweisen, müssen kommunizieren, wie der Gefangene mit der Außenwelt kommuniziert.«6


Der Platzwechsel ist eine Befreiung. Es geht darum, sich materieller wie psychologischer Hypotheken und Fesseln zu entledigen. Sich von einem Platz zu lösen, der uns lange bestimmt hat, um Anspruch auf eine andere Identität zu erheben, auch wenn wir manchmal das Gefühl haben, die Person zu verraten, die wir einmal waren oder zu der uns die anderen machen wollten. Es steckt immer eine Form der Gewalt und des Losreißens, und sei sie nur symbolisch, in diesen Platzwechseln, für die wir uns entscheiden oder zu denen wir gezwungen sind. Doch zweifelsohne liegt darin zugleich auch eine Aufregung angesichts der Befreiung, eine Freude an dem dadurch hervorgerufenen Durcheinander, eine Begeisterung, mit der wir andere Plätze ausprobieren.

 

Vielleicht bereitet das Abdriften sogar Vergnügen. Einige lassen sich nur zu gern vom Kurs abbringen, gehen jedes Wagnis ein, befreien sich aus einer geschlossenen, abgegrenzten Welt, brechen aus ihren Begrenzungen aus und suchen das Offene. Wir wissen nicht immer, wohin wir wollen. Kein Ziel zu haben, stellt vielleicht die erste Form der Befreiung dar. Das soziale Spielfeld verlassen, das Unbestimmte wagen. Seinen Platz verlassen, ohne irgendeinen anderen anzusteuern:


»Es war nötig, sich von dem bequemen Urzustand zu lösen, in dem man sich befand und auf den man sich stützte, und seine großartigen Orte aufzugeben, die das Unbegrenzte, Unendliche jenseits der Schutzwälle hielten.«7


Vielleicht geben uns solche Nomaden oder Vagabunden schlicht zu verstehen, dass man niemals irgendwo ankommt. Alle Plätze sind vorläufig und unablässig einer großen Umwälzung unterworfen, die Karten werden ständig neu verteilt. Vielleicht befinden wir uns in Wirklichkeit immer nur irgendwo dazwischen, zwischen zwei Welten, zwischen zwei Zeiten, zwischen zwei Arten, wir selbst zu sein. Wir müssen akzeptieren, dass am Platz Unruhe herrscht, sei sie nun sozialer, politischer oder emotionaler Natur. Wir sind eher ständig unterwegs, als einen angestammten Platz zu besitzen. Einige halten dieses Fehlen, dieses Dazwischen für ein prekäres Gleichgewicht, einen wunden Punkt. Doch ist es nicht gerade die Stärke der Aussteiger, dass sie sich nie genau verorten lassen, dass sie zwischen den Sprachen, Kulturen und Lebensweisen lavieren? Ist es nicht dieses Schwanken, diese Flexibilität, diese Fähigkeit, anders zu sein, die unsere wahre Freiheit ausmacht?

 

Manchmal wissen wir nichts von den inneren Stürmen, die in einem Menschen toben, davon, wie eine heimliche Leidenschaft oder Wut ihn aus dem Lot bringt, ihn um- und antreibt. Wir wissen nichts von seinen Erschütterungen, seinem Bedürfnis, anderswo oder jemand anderes zu sein. Das Abdriften der Gefühle, die Verwirrung und das geheime Schwanken, das Durcheinander...
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Autor

Claire Marin, geb. 1974, lehrt Philosophie in Frankreich und feiert seit einigen Jahren mit ihren philosophischen Essays große Erfolge. Ihre Bücher "Hors de moi" (2008) und "Rupture(s)" (2019) wurden mehrfach ausgezeichnet.