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Verdrängen und Erinnern im Theater

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
445 Seiten
Deutsch
Narr Francke Attempto Verlagerschienen am03.07.20231. Auflage
Kennzeichnend für den Postfranquismus war eine erinnerungskulturelle Paradoxie, die sich durch das politisch-institutionelle Verdrängen des für die Menschen Unvergesslichen auszeichnete. Der Übergang zwischen Diktatur und Demokratie charakterisierte sich durch eine offizielle Rhetorik des Neuanfangs, des Konsenses und der Versöhnung, die Erinnerungen an Bürgerkrieg und franquistische Repression als Gefahr für die politische Konsolidierung Spaniens betrachtete und traumatischen Erfahrungen kaum diskursiven Raum gewährte. Die Studie untersucht, inwiefern diese Diskrepanz zwischen gemachter Erfahrung und unerfüllter memorialer Erwartung strukturgebend auf das Werk der Theatermacher José Sanchis Sinisterra, José Luis Alonso de Santos und Ignacio Amestoy Egiguren wirkte. Diese gehörten zu einer Gruppe von Dramatiker:innen, die den Franquismus erlebten und sich nach dem Tod Francos in der Rolle der Neuerer der spanischen Bühne wiederfanden. In ihren Dramen und Inszenierungen reagierten sie auf den pacto de silencio. Dabei changierten sie zwischen der mimetischen Darstellung von Vergangenem und performativen Akten des gemeinsamen Erinnerns, um erinnerungskulturelle Leerstellen abzubilden und das Theater zugleich zu einem wirkmächtigen Medium des kulturellen Gedächtnisses werden zu lassen.

Dr. Denis Heuring lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität München (Literatur, Übersetzung, Vermittlungskompetenz)
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Produkt

KlappentextKennzeichnend für den Postfranquismus war eine erinnerungskulturelle Paradoxie, die sich durch das politisch-institutionelle Verdrängen des für die Menschen Unvergesslichen auszeichnete. Der Übergang zwischen Diktatur und Demokratie charakterisierte sich durch eine offizielle Rhetorik des Neuanfangs, des Konsenses und der Versöhnung, die Erinnerungen an Bürgerkrieg und franquistische Repression als Gefahr für die politische Konsolidierung Spaniens betrachtete und traumatischen Erfahrungen kaum diskursiven Raum gewährte. Die Studie untersucht, inwiefern diese Diskrepanz zwischen gemachter Erfahrung und unerfüllter memorialer Erwartung strukturgebend auf das Werk der Theatermacher José Sanchis Sinisterra, José Luis Alonso de Santos und Ignacio Amestoy Egiguren wirkte. Diese gehörten zu einer Gruppe von Dramatiker:innen, die den Franquismus erlebten und sich nach dem Tod Francos in der Rolle der Neuerer der spanischen Bühne wiederfanden. In ihren Dramen und Inszenierungen reagierten sie auf den pacto de silencio. Dabei changierten sie zwischen der mimetischen Darstellung von Vergangenem und performativen Akten des gemeinsamen Erinnerns, um erinnerungskulturelle Leerstellen abzubilden und das Theater zugleich zu einem wirkmächtigen Medium des kulturellen Gedächtnisses werden zu lassen.

Dr. Denis Heuring lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität München (Literatur, Übersetzung, Vermittlungskompetenz)

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
I.DAS NICHT-ERINNERN DES UNVERGESSLICHEN: SPANIENS UMGANGMIT DEN ERINNERUNGENAN DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG NACH 1975

II.THEATER IM ÜBERGANG -DIE GENERACIÓN DEL 82UND DIE RE-PRÄSENTATION DES VERGANGENEN

III.DIE ANWESENHEIT DES ABWESENDEN: ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLERRE-PRÄSENTATION

IV.VERDRÄNGEN UND ERINNERN AUF DEM THEATER -DAS ERINNERUNGSKULTURELLE THEATERVON JOSÉ SANCHIS SINISTERRA, JOSÉ LUIS ALONSO DE SANTOS UND IGNACIO AMESTOY EGIGUREN

V.ZUSAMMENFASSUNG

VI.BIBLIOGRAPHIE
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Leseprobe


I DAS NICHT-ERINNERN DES UNVERGESSLICHEN: SPANIENS UMGANG MIT DEN ERINNERUNGEN AN DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG NACH 1975



1 La transición - Spaniens Weg in die Demokratie


Franco ha muerto - in großen Lettern prangte diese Schlagzeile am 20. November 1975 auf den Titelblättern der spanischen Tageszeitungen. Der schlichte, konstative Charakter dieser Aussage mutet angesichts der sich aus diesem historischen Ereignis ergebenden politischen Handlungsaufträge aus heutiger Sicht geradezu ironisch an. Franco war tot - was folgte nun? Zwar hatte der selbst ernannte caudillo bereits vor seinem Ableben über die Inthronisierung des bourbonischen Prinzen Juan Carlos und die damit verbundene Re-Etablierung der Monarchie verfügt, doch lieferte die Klärung der personellen Nachfolge noch keine endgültige Antwort auf die Frage nach der zukünftigen politischen Ausrichtung des Landes. In den letzten Jahren des Franquismus hatten sich bereits unterschiedliche politische Lager formiert, deren Ziele sich zwischen den Extrempunkten der Weiterführung des franquistischen Systems bis hin zu dessen radikaler Demontage bewegten. Diesen extremen Positionen stand der Wunsch nach gemäßigter Modernisierung und europäischem Anschluss auf der Grundlage der bestehenden Strukturen gegenüber. Zu diesem Zeitpunkt war insbesondere für die Bevölkerung nicht abzusehen, ob der Tod Francos auch das Ende des Franquismus bedeutete; zudem hatte die Ermordung des Almirante Luis Carrero Blanco durch die baskische Terrororganisation ETA am 20. Dezember 1973 deutlich vor Augen geführt, welche Gefahr von den über Jahrzehnte hinweg unterdrückten Kräften auszugehen drohte. In ihrer verbalen Nüchternheit spiegelte die zitierte Schlagzeile somit gewissermaßen die Stimmung einer Gesellschaft wider, die sich zwischen den Parametern der historischen Chance, der nationalen Tragödie und der systemischen Ungewissheit verorten musste.

Während der nach der Ermordung Carrero Blancos ins Amt berufene Ministerpräsident Carlos Arias Navarro keinen Zweifel an seiner Systemtreue sowie an der über den Tod hinausreichenden Loyalität zu Francisco Franco ließ, gab dessen rechtmäßiger Nachfolger, Juan Carlos de Borbón, im Rahmen seiner Antrittsrede am 22. November 1975 seine Ambitionen im Hinblick auf die Öffnung und Demokratisierung des Systems zu erkennen, ohne sich dieser Vokabeln explizit zu bedienen. Vor den Augen der Politiker des franquistischen Establishments sowie der Opposition und nationaler wie internationaler Medien kündigte er ein neues Kapitel in der spanischen Geschichte an. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, dass die Wortwahl des Königs einen Vorgeschmack auf die Rhetorik der Versöhnung und des Neubeginns lieferte, die den offiziellen Transitionsdiskurs in den folgenden Jahren bestimmen sollte. Die Hervorhebungen in den im Folgenden zitierten Auszügen aus der Antrittsrede belegen deutlich eine Isotopie des Konsenses:


Hoy comienza una nueva etapa de la Historia de España. Esta etapa, que hemos de recorrer juntos, se inicia en la paz, el trabajo y la prosperidad, fruto del esfuerzo común y de la decidida voluntad colectiva. [â¦]

La Institución que personifico integra a todos los españoles, y hoy, en esta hora tan transcendental, os convoco porque a todos nos incumbe por igual el deber de servir a España. Que todos entiendan con generosidad y altura de miras que nuestro futuro se basará en un efectivo consenso de concordia nacional. [â¦]

Un orden justo, igual para todos, permite reconocer dentro de la unidad del Reino y del Estado las peculiaridades regionales como expresión de la diversidad de pueblos que constituyen la sagrada realidad de España. El Rey quiere serlo de todos a un tiempo y de cada uno en su cultura, en su historia y en su tradición. [â¦]

Si todos permanecemos unidos, habremos ganado el futuro.


Die Herausforderung, vor der Juan Carlos I stand, ergab sich aus der Diskrepanz zwischen politisch-systemischem Stabilisierungsstreben und gesellschaftlicher Realität sowie den daraus resultierenden Konfliktpotentialen. Zwar hatten die ideologischen Säulen des Systems bereits ab den 50er Jahren zu bröckeln begonnen, doch repräsentierten der Franquismus und seine Vertreter bis dato noch immer die herrschende Ordnungsmacht. Der politische Sonderweg, den Spanien nach Beendigung des Bürgerkriegs eingeschlagen hatte und der das Land lange von den europäischen Nachbarn abschottete, wurde trotz einer ökonomischen Öffnung bis zuletzt nicht vom Regime in Frage gestellt. Stattdessen wurden die franquistischen Propagandisten nicht müde, die unter dem Lemma des Anti-Spanien subsumierten Feindbilder des Liberalismus, des Kommunismus, des Sozialismus und der Freimaurerei am Leben zu halten, um sie im nächsten Moment zu stigmatisieren.

Zum Zeitpunkt von Francos Tod war, so der Historiker Walther L. Bernecker, die Ideologie des Franquismus überlebt und der Wunsch nach einem Systemwechsel in weiten Teilen der Zivilgesellschaft verbreitet: Schon in der Spätphase des Franquismus - dies haben repräsentative Umfragen ergeben - war eine Mehrheit der Spanier für einen Wandel hin zur Demokratie [â¦]. Die Ironie dieses zivilgesellschaftlichen Mentalitätswandels liegt darin begründet, dass die Vertreter des Systems einen nicht geringen Beitrag zur ideologischen Unterminierung des Franquismus geleistet hatten. Die Entwicklung zu einem modernen Industriestaat nach europäischem Vorbild, die Öffnung des Landes für den Tourismus und die stetige Schwächung der zensorischen Maßnahmen in Presse und Bildung ließen die Weiterführung des spanischen Sonderwegs nach Francos Tod als unmöglich erscheinen:


Das Ergebnis der franquistischen Politik widersprach in nahezu jedem Punkt den ursprünglichen Intentionen: Am Ende der Franco-Herrschaft war die spanische Gesellschaft politisierter, urbanisierter und säkularisierter denn je, die Arbeiter und Studenten waren so aufsässig wie noch nie, die Autonomie- und Selbstständigkeitsbewegungen der Regionen ausgeprägter als zu jedem anderen Zeitpunkt der neueren spanischen Geschichte, Sozialisten und Kommunisten bei den ersten Wahlen nach Francos Tod so erfolgreich wie nie zuvor, die spanische Wirtschaft finanziell und technologisch vom internationalen Kapitalismus in geradezu beängstigendem Ausmaß abhängig.


Die politische Elite Spaniens war davon überzeugt, dass die Modernisierung des Landes sowie sozialökonomische und damit politische Stabilität nur durch die Integration in die Europäische Gemeinschaft (EG) funktionieren konnte. Nach einem gescheiterten, vom Opus Dei angestoßenen Mitgliedschaftsgesuch aus dem Jahr 1962 - Voraussetzung war eine demokratische Grundordnung - witterte man nun die Chance, diesem Gesuch erneut Ausdruck zu verleihen und Spanien auf diese Weise im Schoße Europas zu stabilisieren. Die Angst, diese historische Gelegenheit durch innenpolitische Konflikte zwischen franquistischem Establishment und den politischen Oppositionsgruppen zu gefährden, sollte in den Jahren nach 1975 zur Triebfeder des realpolitischen Handelns und bestimmend für den offiziellen Umgang mit den dunklen Kapiteln der Vergangenheit werden.

In seiner Proklamationsrede am 22. November 1975 forderte König Juan Carlos I die Spanierinnen und Spanier dazu auf, ja er appellierte gewissermaßen an ihren Großmut, die eigene Person hinter die Sache der staatlichen Stabilisierung zu stellen: Que todos entiendan con generosidad y altura de miras que nuestro futuro se basará en un efectivo consenso de concordia nacional. Das sich hieraus ergebende komplexe Spannungsverhältnis zwischen der unabweisbaren Präsenz vergangener sowie gegenwärtiger Konflikte innerhalb der Zivilgesellschaft und der systemisch verordneten, auf eine stabile Zukunft gerichteten Maxime der Eintracht bildete zu diesem Zeitpunkt die fragile Basis für die politische Transition: Nicht ideologische Maximalforderungen, sondern Konsensfindung (consenso) wurde zur Richtschnur der Politik und begründete die zentralen Weichenstellungen des demokratischen Übergangs , konstatieren Bernecker und Brinkmann. Weder ein Bruch noch eine Weiterführung des Franquismus waren die angestrebten Ziele. Vielmehr wurde ein langsamer Wandel eingeleitet, der die franquistische Legalität für ihre eigene Ersetzung instrumentalisieren sollte. Der consenso wurde zum politischen Leitmotiv erhoben, an dem sich die konkurrierenden Parteien in den folgenden Jahren zu orientieren hatten.

Der Umstand, dass Francisco Franco eines natürlichen Todes starb, hatte zur Folge, dass jede Form der politischen Veränderung aus dem alten System heraus erwachsen musste. Mit Franco starb das Staatsoberhaupt, nicht der Franquismus. Die Tatsache, dass ein Systemwechsel nicht etwa durch politischen oder zivilgesellschaftlichen Druck, also durch Wahlen, Demonstrationen oder einen politischen Umsturz, sondern erst durch das Ableben des führenden Repräsentanten des Systems ermöglicht worden war, brachte eine personelle Kontinuität innerhalb des politischen Apparates sowie in weiten Teilen der öffentlichen Verwaltung und des Gerichtswesens mit...

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Autor

Dr. Denis Heuring lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität München (Literatur, Übersetzung, Vermittlungskompetenz)
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Heuring, Denis