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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
592 Seiten
Deutsch
Unionsverlagerschienen am10.07.2023
Trudi Montag wünscht sich ganz fest, so groß zu werden wie die anderen Kinder, aber ihr Körper wächst einfach nicht mehr. Als sie älter wird, beginnt Trudi zu verstehen, dass sie in ihrem kleinen Dorf am Rhein immer die »Andere« sein wird. Aber Trudi hat etwas, was sonst niemand hat: Geschichten. In der Leihbücherei ihres Vaters saugt sie alles auf, was die Leute erzählen, sammelt Geheimnisse, Wünsche und Wahrheiten. Doch mit den Jahren wird der Ton im Dorf ein anderer. Braunhemden schwingen wütende Parolen, und der Metzger stellt Alpenveilchen vor das Porträt des Führers. Die Geschichten werden düsterer, und schließlich kann Trudi nicht mehr nur zuhören. Ursula Hegis Geschichte eines deutschen Dorfes im Dritten Reich ist einer der großen, vergessenen Romane der deutschen Literatur.

Ursula Hegi, geboren 1946 in Düsseldorf, ist eine deutsch-amerikanische Autorin und Dozentin für Kreatives Schreiben und Literatur. Sie hat Romane, Kurzgeschichten, Kinderbücher und Sachbücher veröffentlicht. Ihre Werke wurden millionenfach verkauft und u. a. mit dem NEA Fellowship und fünf PEN Awards ausgezeichnet. Sie lebt in New York.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR18,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR14,99

Produkt

KlappentextTrudi Montag wünscht sich ganz fest, so groß zu werden wie die anderen Kinder, aber ihr Körper wächst einfach nicht mehr. Als sie älter wird, beginnt Trudi zu verstehen, dass sie in ihrem kleinen Dorf am Rhein immer die »Andere« sein wird. Aber Trudi hat etwas, was sonst niemand hat: Geschichten. In der Leihbücherei ihres Vaters saugt sie alles auf, was die Leute erzählen, sammelt Geheimnisse, Wünsche und Wahrheiten. Doch mit den Jahren wird der Ton im Dorf ein anderer. Braunhemden schwingen wütende Parolen, und der Metzger stellt Alpenveilchen vor das Porträt des Führers. Die Geschichten werden düsterer, und schließlich kann Trudi nicht mehr nur zuhören. Ursula Hegis Geschichte eines deutschen Dorfes im Dritten Reich ist einer der großen, vergessenen Romane der deutschen Literatur.

Ursula Hegi, geboren 1946 in Düsseldorf, ist eine deutsch-amerikanische Autorin und Dozentin für Kreatives Schreiben und Literatur. Sie hat Romane, Kurzgeschichten, Kinderbücher und Sachbücher veröffentlicht. Ihre Werke wurden millionenfach verkauft und u. a. mit dem NEA Fellowship und fünf PEN Awards ausgezeichnet. Sie lebt in New York.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293311794
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum10.07.2023
Seiten592 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3292 Kbytes
Artikel-Nr.12134947
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe




1

1915-1918


Als Kind dachte Trudi Montag, alle Menschen wüssten, was in anderen vorgeht. Das war, ehe sie um die Macht des Andersseins wusste. Um die Qual des Andersseins. Und um die Sünde des Wütens gegen einen untätigen Gott. Aber davor - Jahre und Jahre bis dahin - betete sie darum zu wachsen.

Jeden Abend beim Einschlafen betete sie, dass ihr Körper sich über Nacht strecken möge, zur Größe anderer gleichaltriger Mädchen in Burgdorf, nicht mal zu der der größeren - wie Eva Rosen, die auf der Schule für kurze Zeit ihre beste Freundin werden würde -, aber zu einem Körper mit normal langen Armen und Beinen und einem kleinen, wohlgeformten Kopf. Um Gott zu helfen, hängte Trudi sich an Türrahmen, bis ihre Finger taub waren, fest davon überzeugt, dass sie fühlen konnte, wie ihre Knochen länger wurden; oft band sie sich nachts die Seidenschals ihrer Mutter um - einen um die Stirn, den anderen unterm Kinn verknotet -, damit ihr Kopf sich nicht noch weiter ausdehnte.

Wie sie betete! Und morgens, wenn ihre Arme immer noch stummelig waren und ihre Beine nach wie vor nicht auf den Boden reichten, wenn sie sich von der Matratze schwang, dann sagte sie sich, dass sie nicht inbrünstig genug gebetet hatte oder dass es noch nicht der richtige Zeitpunkt war, und so fuhr sie fort, zu beten und zu wünschen und zu glauben, dass einem alles, wofür man betete, bestimmt gewährt würde, wenn man nur Geduld hatte.

Geduld und Gehorsam - das war kaum zu trennen, und die Erziehung dazu begann mit dem ersten Schritt, den man machte: Man lernte, dass man den eigenen Eltern gehorchen musste und allen anderen Erwachsenen, dann der Kirche, den Lehrern, dem Staat. Ungehorsam wurde rasch und wirksam bestraft: ein Schlag mit dem Lineal auf die Fingerknöchel, drei Rosenkränze, eingesperrt werden.

Als Erwachsene sollte Trudi die gehorsamen Dummköpfe verachten, die in der Kirche knieten und warteten. Doch als Kind ging sie jeden Sonntag in die Messe und sang im Chor; unter der Woche schlüpfte sie manchmal auf dem Heimweg von der Schule rasch in die Kirche, um den tröstlichen Duft des Weihrauchs zu riechen, während sie flüsternd zu den bemalten Gipsheiligen betete, die an den Längsseiten von St.âMartin aufgereiht waren: der heilige Petrus gleich neben dem Beichtstuhl, die Augenbrauen immer schockiert in die Höhe gezogen, als hätte er jede einzelne Sünde mitgehört, die die Burgdorfer Generationen von müden Priestern flüsternd gestanden hatten; die heilige Agnes, die traurigen Augen himmelwärts verdreht und die Finger in die Brust gekrallt, als probe sie, unzähligen weiteren Angriffen auf ihre Keuschheit zu widerstehen; der heilige Stefan, die Füße - bis auf einen teigigen Zeh - unter einem Haufen schokoladenfarbener Steine versteckt, die blutenden Arme ausgebreitet, als lade er seine Feinde ein, noch größere Steine auf ihn zu werfen und so sein ewiges Seelenheil zu sichern.

Zu ihnen allen betete Trudi, und ihr Körper wuchs, aber - als hätte jemand einen schlimmen Scherz gemacht und ihre Gebete ins Gegenteil verkehrt - nicht in die Höhe, wie sie gemeint, aber nicht in jedem einzelnen Gebet klargemacht hatte, sondern in die Breite, bis ihre Arme schließlich so massig waren wie die von Herrn Immers, dem Inhaber der Metzgerei, und ihr Kinn so mächtig wie das von Frau Weiler, die das Lebensmittelgeschäft nebenan führte.

Doch da hatte Trudi bereits den Moment hinter sich, in dem sie erkannte, dass es nicht half, um etwas zu beten, dass nichts passierte, dass alles so blieb, wie es war; dass es keinen Gotteszauber gab; dass sie nie größer werden würde, als sie war; dass sie eines Tages sterben würde und dass alles, was ihr bis zum Tag ihres Todes widerfuhr, ihr Problem war. Das alles erkannte sie mit einer verblüffenden Klarheit, die ihr kalt bis ins Mark fuhr, an jenem Aprilsonntag 1929 im Kuhstall der Braunmeiers, als sich der Ring der Jungen um sie schloss - jener Jungen, die ihre Beine auseinanderrissen, die ihre Seele auseinanderrissen, bis es sich anfühlte, als ob der getrocknete Rotz auf ihrem Gesicht für immer dort bleiben und ihre Haut wie verkleckertes Eiweiß zusammenziehen würde - und sie sich selbst als alte Frau sah und gleichzeitig als kleines Kind, als hingen Vergangenheit und Zukunft an den Enden eines gespannten Gummibandes, das jemand für einen kurzen Moment losgelassen hatte, sodass ihr ganzes Leben - jede einzelne Minute, die sie gelebt hatte und noch leben würde - zusammenschnellte und sich berührte, hier in diesem Moment im Stall, und sie wusste, dass sie noch öfter so sehen würde: Sie sah, wie sie ihre Mutter aus dem Erdnest unter dem Haus zog; sah sich einen Teil der Steinwand im Keller demontieren und einen geheimen Tunnel zum Haus der Blaus hinübergraben; sah, wie sie den Rücken ihres Liebsten mit beiden Händen streichelte und das feine Haar oval am unteren Ende seiner Wirbelsäule befühlte, während um sie herum der Nachthimmel wirbelte; sah sich vor der Hitze der Flammen zurückzucken, die aus dem geborstenen Fenster der Synagoge loderten und die Schule und das Theresienheim mit einem Funkenregen überschütteten, der dieselbe Farbe hatte wie der Judenstern aus Stoff, den ihre Freundin Eva Rosen auf ihrem Mantel tragen musste.

Nach Trudis Geburt wollte ihre Mutter sie monatelang überhaupt nicht berühren. Aus dem, was sie aufschnappte, würde sie sich später zusammenreimen, dass ihre Mutter einen Blick auf sie geworfen und dann die Hände vors Gesicht geschlagen hatte, als wollte sie das Bild der kurzen Gliedmaßen und des etwas zu großen Kopfes des Säuglings aussperren. Es half auch nicht, dass Frau Weiler, nachdem sie in den Korbwagen geschaut hatte, fragte: »Hat das Kind denn einen Wasserkopf?«

Trudis Augen wirkten älter als die der anderen Säuglinge, so, als enthielten sie die Erfahrung von jemandem, der schon lange gelebt hat. Die Frauen in der Nachbarschaft übernahmen es abwechselnd, sie am Leben und sauber zu halten. Sie waren es, die ihr silberblondes Haar zu einem dünnen Löckchen oben auf dem Kopf bürsteten und mit einem Tupfer Tannenhonig zusammenhielten, die Ziegenmilch kochten und sie ihr aus der Flasche gaben, die flüsternd ihren Körper mit dem anderer Kinder verglichen, die am Bett von Trudis Mutter saßen und ihren unruhigen Schlaf bewachten, wenn jemand sie heimgebracht hatte, nachdem sie aus ihrem Haus in der Schreberstraße weggelaufen war.

Es war der Sommer 1915, und die Stadt gehörte den Frauen. Da ihre Männer schon so lange an der Ostfront kämpften, hatten sie wieder gelernt, auch die schwierigsten Häkchen an ihren lachsfarbenen Korsetts selbst zu öffnen; sie hatten sich daran gewöhnt, Entscheidungen zu fällen - wie etwa die, welche Reparaturen sie selbst vornehmen und welche sie bis nach dem Krieg aufschieben sollten; sie fegten weiter ihre Bürgersteige und ermahnten ihre Kinder, Klavier zu üben; sie überredeten Herrn Pastor Schüler, einen alten Schachmeister aus Köln einzuladen, damit er ihren Kindern eine ganze Woche lang nach der Schule Unterricht gab; sie verscheuchten die Gaukelbilder der Gesichter ihrer Männer unter der Erde, wenn sie die Pflanzen auf den Familiengräbern gossen. Manchmal, wenn sie ihren Hunger vergaßen und ihre Abneigung gegen Rüben, die jetzt ihr Hauptnahrungsmittel waren, schien es merkwürdig, dass um sie herum das Fest des Lebens weiterging, als gäbe es keinen Krieg: die Kirsch- und Apfelblüte, der Gesang der Vögel, das Lachen ihrer Kinder.

In diesem kleinen Ort, der mit den Traditionen von Jahrhunderten befrachtet war, fielen Frauen ohne Männer aus dem Rahmen: Sie waren Gegenstand von Mitleid oder Klatsch. Doch der Krieg änderte das alles. Ohne Männer verschwammen die Grenzen zwischen den verheirateten und den unverheirateten Frauen: Plötzlich gab es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Jetzt wurde ihnen Respekt nicht mehr wegen der Stellung ihrer Männer zuteil, sondern ihrer eigenen Fähigkeiten wegen.

Das war etwas, was die alten Witwen schon lange erkannt hatten. Sie waren es, die den Ort in Wahrheit beherrschten, aber sie waren klug genug, das für sich zu behalten. Sie umrissen die Grenzen der Gemeinschaft mit der unsichtbaren Kette ihrer Hände, wenn sie ihre Kinder mit ihren Ratschlägen versorgten und ihren Enkelkindern alte Märchen erzählten, als wären sie noch nie zuvor erzählt worden.

Sie waren misstrauisch gegenüber den wenigen Männern, die in Burgdorf geblieben waren, und sie tratschten über sie - etwa über Emil Hesping, einen ausgezeichneten Sportler, der den Turnverein leitete, aber behauptete, wegen seiner schwachen Lungen kriegsuntauglich zu sein, oder über Herbert Braunmeier, der darauf beharrte, dass sich niemand anders um seine Milchwirtschaft kümmern könne. Selbstsüchtig, sagten die alten Frauen, aber sie verhätschelten die Männer, die im Krieg verwundet worden waren, wie etwa Leo Montag, der als Erster wiederkam; sie strickten ihm Wollwesten und brachten ihm Pflaumenkompott aus ihren mageren Vorräten, um ihn für seine Verwundung zu entschädigen.

Zwei Monate nach der Schlacht von Tannenberg im Oktober 1914 war Leo Montag nach Burgdorf hineingehumpelt, mit einer Stahlplatte anstelle seiner linken Kniescheibe und einem langen Seehundmantel, der einem russischen Gefangenen gehört hatte. Auf diesem silbergrauen Pelz - ausgebreitet auf dem Fußboden der hastig geschlossenen Leihbücherei - war Trudi Montag noch am selben Nachmittag gezeugt worden. Ihr Vater war nur ein paar Monate fort gewesen, aber er...


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Autor

Ursula Hegi, geboren 1946 in Düsseldorf, ist eine deutsch-amerikanische Autorin und Dozentin für Kreatives Schreiben und Literatur. Sie hat Romane, Kurzgeschichten, Kinderbücher und Sachbücher veröffentlicht. Ihre Werke wurden millionenfach verkauft und u. a. mit dem NEA Fellowship und fünf PEN Awards ausgezeichnet. Sie lebt in New York.

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