Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Zweistromland

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
224 Seiten
Deutsch
Kanon Verlagerschienen am02.08.20231. Auflage
Als der Tigris in die Nordsee floss Die Rechtsberaterin Dilan ist Tochter kurdischer Aleviten, die Verfolgung und Gewalt ausgesetzt waren. Doch darüber schweigen sie. Erst als ihre Mutter stirbt und sie selbst ein Kind erwartet, arbeitet Dilan gegen das unerträgliche Schweigen an: Sie reist nach Diyarbakir im Osten der Türkei. Die alte Stadt am Tigris ist die heimliche Metropole der Kurden. Hier haben ihre Eltern einst gelebt, geliebt und gekämpft. Ein poetischer und brennend aktueller Roman über politischen Mut, qualvolles Vergessen und die gefährliche Reise einer jungen Frau. »Beliban zu Stolberg erzählt eindrücklich von der Suche nach einer verschütteten Vergangenheit und dem Schmerz der Gegenwart. Ein Roman, der einen immer tiefer und tiefer hineinzieht in den Strom.« Ronya Othmann

Beliban zu Stolberg wurde 1993 in Hamburg geboren und wuchs in Husum auf. Sie hat eine deutsche Mutter und einen kurdischen Vater. Sie studierte Drehbuch an der deutschen Film- und Fernsehakademie, Arbeit als Drehbuchautorin. 2018 wurde sie mit dem »Grenzgänger«-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung gefördert, nahm 2019 an der Autorenwerkstatt Prosa des LCB teil und erhielt sowohl 2019 und 2022 ein Aufenthaltsstipendium in der Villa Sarkia/Finnland. Seit 2023 nimmt sie an der »Netflix Writing Academy« teil. »Zweistromland« ist ihr Debütroman. Beliban zu Stolberg lebt in Berlin.
mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR23,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR17,99

Produkt

KlappentextAls der Tigris in die Nordsee floss Die Rechtsberaterin Dilan ist Tochter kurdischer Aleviten, die Verfolgung und Gewalt ausgesetzt waren. Doch darüber schweigen sie. Erst als ihre Mutter stirbt und sie selbst ein Kind erwartet, arbeitet Dilan gegen das unerträgliche Schweigen an: Sie reist nach Diyarbakir im Osten der Türkei. Die alte Stadt am Tigris ist die heimliche Metropole der Kurden. Hier haben ihre Eltern einst gelebt, geliebt und gekämpft. Ein poetischer und brennend aktueller Roman über politischen Mut, qualvolles Vergessen und die gefährliche Reise einer jungen Frau. »Beliban zu Stolberg erzählt eindrücklich von der Suche nach einer verschütteten Vergangenheit und dem Schmerz der Gegenwart. Ein Roman, der einen immer tiefer und tiefer hineinzieht in den Strom.« Ronya Othmann

Beliban zu Stolberg wurde 1993 in Hamburg geboren und wuchs in Husum auf. Sie hat eine deutsche Mutter und einen kurdischen Vater. Sie studierte Drehbuch an der deutschen Film- und Fernsehakademie, Arbeit als Drehbuchautorin. 2018 wurde sie mit dem »Grenzgänger«-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung gefördert, nahm 2019 an der Autorenwerkstatt Prosa des LCB teil und erhielt sowohl 2019 und 2022 ein Aufenthaltsstipendium in der Villa Sarkia/Finnland. Seit 2023 nimmt sie an der »Netflix Writing Academy« teil. »Zweistromland« ist ihr Debütroman. Beliban zu Stolberg lebt in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783985680863
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum02.08.2023
Auflage1. Auflage
Seiten224 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3293 Kbytes
Artikel-Nr.12205239
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

I.

Wieder in Ä°stanbul. Ich denke an die Luft draußen, weich, warm, sie riecht nach Benzin.

Die Maschine aus Deutschland steht seit drei Stunden auf der Landebahn des Sabiha Gökçen. Nach einer Weile betreten zwei Militärs das Flugzeug. Ich will nicht hinsehen, aber ich muss. Die Soldaten gehen durch die Reihen und stoppen vor einer Frau.

»Mitkommen«, sagt einer auf Türkisch. Sie schüttelt den Kopf und sagt, sie sei eine Deutsche. Das interessiert die Männer nicht. Sie wiederholt es, dieses Mal auf Türkisch, doch die Soldaten ziehen sie am Arm und tragen sie mit sich. Bis auf ihre Rufe ist es still im Flugzeug. Nachdem die Gruppe zur Tür hinaus ist, hebt ein Raunen an, bald führt die ganze Maschine das gleiche Gespräch. »Sie ist eine Journalistin«, sagt einer, »sie ist eine Verräterin«, ein anderer.

Der Asphalt auf der Otoyol 4, der Autobahn, die Ankara mit Ä°stanbul verbindet, ist hellgrau wie Küstensteine. Der Fahrer jagt das Taxi über die glatte Straße. Ich kann mich nicht erinnern, in Ä°stanbul schon einmal so lange ohne Unterbrechung gefahren zu sein. Ich halte Ausschau nach den anderen Wagen, die den Weg vor uns verstopfen müssten, aber es ist niemand da. Der Fahrer und ich schütteln ungläubig die Köpfe. Schließlich breche ich die unausgesprochene Abmachung des Schweigens. »So etwas gibt es doch nicht«, sage ich. Der Fahrer wirft mir einen Blick über den Rückspiegel zu. »So etwas gibt es nicht, nie«, sagt er. Das geht einige Sätze so, bis uns keine neue Formulierung für unsere Verwunderung einfällt. Wir verfallen in Schweigen, und beim Kreuz vor Ä°çerenköy auch endlich in den vertrauten Stau.

»Na, wunderbar, alles beim Alten«, sagt der Fahrer, und ich lächle, aber wir sind ehrlich erleichtert darüber, wieder festzustecken. Es ist gut, wenn die Dinge sich so verhalten, wie man es von ihnen erwartet. Den Rest der Fahrt verbringen wir in Stille.

Als wir vor dem fünfstöckigen Haus halten, in dem ich wohne, springt der Fahrer heraus und hält die Tür für mich auf. Er trägt meinen Koffer bis vor den Fahrstuhl, drückt den Knopf des Stocks und senkt dann den Kopf zu einer kleinen Verbeugung. Die türkische Höflichkeit hat mir die letzten Tage lang gefehlt.

»Möge er immer freie Straßen haben wie wir«, sagt er und grinst und deutet auf meinen gewölbten Bauch. Im Hausflur ist es kühl.

Die Wohnung ist leer. Noch so eine Sache, die so ist, wie ich sie erwartet habe. Im Badezimmer steht der Tiegel mit meiner Gesichtscreme, den ich aus Versehen aufgelassen habe. Die Creme ist an den Rändern eingetrocknet. Die Fußmatte vor der Dusche liegt zusammengeknüllt in der Ecke, ich habe sie dorthin gelegt, bevor ich aufgebrochen bin, als Erinnerung, dass ich sie waschen muss, wenn ich wiederkomme. Im Kühlschrank stehen nur Butter, Marmelade und Joghurt, und in der Spülmaschine sind dieselben Teller und Tassen, nichts ist dazugekommen. Johan war wohl nicht ein einziges Mal hier.

Ä°çerenköy ist auf der asiatischen Seite der Stadt. Wir sind auf einem seltsamen Weg in dieser Nachbarschaft gelandet. Johan war es wichtig, dass wir nicht in eines der Viertel ziehen, die von Expats und Touristen bewohnt werden. Cihangir, Tarabya oder gar Moda kamen daher für ihn nicht in Frage. Johan wollte weit weg von den Bars und europäisch anmutenden Cafés leben. Also zeigte der Makler uns eine Wohnung in Ä°çerenköy, »sicher und sauber und modern«, womit er Recht behalten hat. Vielleicht hatte der Makler den Vorschlag als Scherz gemeint, denn er war erstaunt, als wir die Wohnung tatsächlich nahmen. Ä°çerenköy ist unnötig weit von meiner Arbeit in der Nähe des Taksim-Platzes entfernt. Vielleicht hat der Makler gedacht, dass Europäer es sich gern schwer machen, um möglichst besonders zu sein. Sie ziehen in die abgelegensten Viertel in Berlin, Paris oder Ä°stanbul, um die Städte bloß nicht zu gentrifizieren, um bloß mit der Gewissheit einzuschlafen, dass sie Teil der lokalen Kultur wären, im Gegensatz zu den anderen Zugezogenen. Wir sorgten sicherlich für einige Lacher in seiner Maklerstube.

Johan bekam die Beruhigung, die er wollte, außerdem sollte Ä°stanbul auf Zeit sein. Auf Zeit seit über einem Jahr. Seit das Kind in mir wächst, gleitet das Jahr ins zweite. Wir sprechen nicht darüber, aber ich weiß, dass Johan mit jedem Monat ungeduldiger wird. Am Anfang war es ein Abenteuer für ihn, er hat die letzten Jahre an vielen verschiedenen Orten gelebt und wollte nicht nach Schweden zurück. Eine Zeit lang war es in Ordnung, dieses Leben, zu zweit in Ä°stanbul. Es war zumindest nicht schlecht. Dann kam die Schwangerschaft. Kurz darauf schlug er vor, dass wir heiraten, und wieso sollten wir das auch nicht tun. Seit ein paar Monaten spüre ich, dass er wegwill. Einfach verschwinden kann er allerdings nicht, wegen des Kindes, der Heirat und des Viertels, das schließlich er ausgesucht hat. Stattdessen geht er aus.

»Ich bin unterwegs«, sagt er, oder auf meine Frage, wo er war: »Unterwegs.«

Die Zeit, in der er unterwegs war, wurde länger, manchmal bleibt er die ganze Nacht weg. Das erste Mal lag ich stundenlang wach, wartete, meine Gedanken ineinander verschlungen wie Schlangen, die ihre eigenen Schwänze fraßen, aber mit der Zeit habe ich mich an diesen Zustand gewöhnt, an die kühle Leerstelle im Bett, und jetzt ist mein Schlaf gleich, ob er da ist, oder nicht. Manchmal kommt er am frühen Morgen, legt sich neben mich und schläft sofort ein. Dann rieche ich sie. Pflaumen und Amber.

Fünf Tage habe ich in Deutschland verbracht. In der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Die Tage verschwimmen, nur einige Bilder sind deutlich.

Mein Vater neben der Messingschale mit dem Sand. Es ist seine Pflicht, als Erster in die Schale zu greifen. Doch er bewegt sich nicht. Die anderen sehen, wie erstarrt er ist, ihre Anspannung ist spürbar. Dabei ist gerade jetzt ein fester Ablauf wichtig. Also übernehme ich es, trete vor und werfe eine Handvoll Sand in das Grab. Es macht ein spritzendes Geräusch, als der Sand das Holz trifft, es hört sich falsch an, aber so macht man das nun einmal. Die Anspannung der Gäste fällt ab, meine nimmt zu. Wie mein Vater sich fühlt, kann ich nicht erraten. Sein Gesicht verharrt in einem Ausdruck, den man als Gleichgültigkeit auslegen könnte. Er hat sich vereist. Darin ist er gut, ich bin es auch.

Meine Hand auf seiner Schulter, der Stoff ist weich, er hat den Anzug für diesen Tag gekauft. Wir stehen so nah beieinander, dass ich sein Aftershave riechen kann. Muskat und Erde, genau wie früher. Der braune Sand klebt an meinen Händen, er ist fein und zerstäubt, wenn ich ihn zwischen den Fingern reibe. Die Absätze meiner schwarzen Schuhe versinken im Gras, und wir wechseln auf die Gehwegplatten. Das weite Kostüm hängt wie ein Sack an mir herunter. Es tut seinen Dienst, mein Vater hat den Bauch nicht bemerkt. Es ist ein warmer Tag, aber der Himmel ist grau und wölbt sich als eine Stahlkuppel über uns. Es geht kein Wind, den ganzen Tag schon nicht, und ich überlege, ob es früher im August Tage ohne Wind gab. Der beißende Geruch von Getreide in der Luft, die Silos müssen vollstehen. Rike hat an diesem Geruch erkennen können, wie die Ernte ausgefallen ist. Jelena hat es ihr nicht geglaubt, aber Rike hat jedes Mal recht behalten. Jeden Tag haben wir damals miteinander verbracht. Ob die beiden hier noch leben, weiß ich nicht. Ich bezweifle es. Nach der Schulzeit bleiben die wenigsten hier, nur wer einen Hof übernimmt, bleibt, und wer Getreide anbaut. Auch wir sind weggegangen, allerdings früher als die anderen.

Etwa zwei Dutzend Menschen sind zur Beerdigung gekommen. Die meisten von ihnen sind mir fremd. Mein Vater hingegen scheint sie alle zu kennen, doch er hat mir niemanden vorgestellt, und sie beachten mich nicht, bis auf eine Frau. Dauernd sucht sie meinen Blick, jedes Mal weiche ich aus. Ihre Augen haben etwas Durchdringendes, Fragendes, Vertrautes. Sie ist im Alter meines Vaters, ihre dunklen Haare sind an den Schläfen grau.

Der Sarg wird mit einer kleinen Maschine in die Erde gelassen. Die schwarze Plattform senkt sich mit einem surrenden Ton, ich frage mich, ob die Vorrichtung mit vergraben wird, oder ob man sie später wieder herausholt. Dann kommt ein Musiker, setzt sich auf einen kleinen Schemel und hebt eine BaÄlama auf die Knie. Bevor er anfängt zu spielen, wirft jemand noch eine Handvoll Sand auf den Sarg. Es ist, als ob jedes Sandkorn einzeln auf dem weiß lackierten Holz aufprallt. Am liebsten würde ich mein Handy herausholen und nachsehen, woher dieser Sand kommt. Ob es Firmen gibt, die sich auf Grabsand spezialisiert haben, ob es verschiedene Ausführungen davon gibt, aus welchem Land er geliefert wird. Zumindest wird dieser Sand gesiebt, denn er ist sauber und frei von Steinen. In einer amerikanischen Serie habe ich gesehen, dass es Geräte gibt,...
mehr

Autor

Beliban zu Stolberg wurde 1993 in Hamburg geboren und wuchs in Husum auf. Sie hat eine deutsche Mutter und einen kurdischen Vater. Sie studierte Drehbuch an der deutschen Film- und Fernsehakademie, Arbeit als Drehbuchautorin. 2018 wurde sie mit dem »Grenzgänger«-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung gefördert, nahm 2019 an der Autorenwerkstatt Prosa des LCB teil und erhielt sowohl 2019 und 2022 ein Aufenthaltsstipendium in der Villa Sarkia/Finnland. Seit 2023 nimmt sie an der »Netflix Writing Academy« teil. »Zweistromland« ist ihr Debütroman. Beliban zu Stolberg lebt in Berlin.
Weitere Artikel von
zu Stolberg, Beliban