Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Schnell leben

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
200 Seiten
Deutsch
Frankfurter Verlagsanstalterschienen am31.08.2023
Vor zwanzig Jahren hat Brigitte Giraud den Mann ihres Lebens, Claude, bei einem Motorradunfall verloren. Drei Tage später ist sie mit ihrem kleinen Sohn in das neue Haus, das sie zusammen mit Claude gekauft hat und in dem er nun niemals wohnen wird, gezogen. Wer die Schuld an dem Unfall trägt, bleibt unaufgeklärt, ihre Fragen unbeantwortet. Als sie zwanzig Jahre später gezwungen ist, das Haus zu verkaufen, das dem Erdboden gleichgemacht werden wird, fühlt es sich für sie an, als würde sie Claudes Seele verkaufen. Der Moment ist gekommen, sich ihrer Vergangenheit zuzuwenden. Erstmals traut sie sich, sich dem »Was wäre gewesen, wenn« zu stellen. Girauds intime Suche umkreist universelle Fragen: »Was im Leben löst die Katastrophe aus? Existiert das Schicksal?« Schnell leben ist eine Liebesgeschichte, eine Erzählung über Schuld, ohne Schuldige zu benennen, ein Porträt der Abwesenheit.

Brigitte Giraud wurde 1960 in Sidi Bel-Abbès (Algerien) geboren. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in Lyon, wo sie auch heute noch lebt. Sie arbeitete als Buchhändlerin (u. a. in Lübeck), als Übersetzerin und Journalistin. Sie veröffentlichte zahlreiche mit Preisen ausgezeichnete Romane. Für Schnell leben erhielt sie 2022 den bedeutendsten Literaturpreis Frankreichs, den Prix Goncourt.
mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
EUR18,99

Produkt

KlappentextVor zwanzig Jahren hat Brigitte Giraud den Mann ihres Lebens, Claude, bei einem Motorradunfall verloren. Drei Tage später ist sie mit ihrem kleinen Sohn in das neue Haus, das sie zusammen mit Claude gekauft hat und in dem er nun niemals wohnen wird, gezogen. Wer die Schuld an dem Unfall trägt, bleibt unaufgeklärt, ihre Fragen unbeantwortet. Als sie zwanzig Jahre später gezwungen ist, das Haus zu verkaufen, das dem Erdboden gleichgemacht werden wird, fühlt es sich für sie an, als würde sie Claudes Seele verkaufen. Der Moment ist gekommen, sich ihrer Vergangenheit zuzuwenden. Erstmals traut sie sich, sich dem »Was wäre gewesen, wenn« zu stellen. Girauds intime Suche umkreist universelle Fragen: »Was im Leben löst die Katastrophe aus? Existiert das Schicksal?« Schnell leben ist eine Liebesgeschichte, eine Erzählung über Schuld, ohne Schuldige zu benennen, ein Porträt der Abwesenheit.

Brigitte Giraud wurde 1960 in Sidi Bel-Abbès (Algerien) geboren. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in Lyon, wo sie auch heute noch lebt. Sie arbeitete als Buchhändlerin (u. a. in Lübeck), als Übersetzerin und Journalistin. Sie veröffentlichte zahlreiche mit Preisen ausgezeichnete Romane. Für Schnell leben erhielt sie 2022 den bedeutendsten Literaturpreis Frankreichs, den Prix Goncourt.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783627023218
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum31.08.2023
Seiten200 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse949 Kbytes
Artikel-Nr.12318981
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



 

Nachdem ich lange Monate widerstanden hatte, nachdem ich die tägliche Belagerung durch die Bauunternehmer beharrlich ignoriert hatte, die mich bedrängten, ihnen das Anwesen zu überlassen, habe ich schließlich die Waffen gestreckt.

Heute habe ich den Vertrag über den Verkauf des Hauses unterschrieben.

Wenn ich Haus sage, dann meine ich das Haus, das ich vor zwanzig Jahren mit Claude gekauft habe und in dem er nie gelebt hat.

Wegen des Unfalls. Wegen dieses Junitags, an dem er auf einem Boulevard in der Stadt ein Motorrad hochbeschleunigt hat, das nicht seines war. Vielleicht im Geiste von Lou Reed, der geschrieben hatte Live fast, die young, irgend so etwas, in dem Buch, das Claude zu der Zeit las und das ich auf dem Parkettboden neben dem Bett entdeckte. Und das ich dann in der Nacht darauf durchblätterte. Einen auf fies machen. Alles verkacken.

Ich habe meine Seele verkauft und vielleicht auch seine.

Der Bauunternehmer hat bereits mehrere Grundstücke gekauft, auch das des Nachbarn, auf das er ein Mietshaus stellen will, das unseren Garten überragen wird, das mit seinen vier Stockwerken meine Privatsphäre erschlagen und außerdem auch noch das ganze Haus verschatten wird. Dann ist es vorbei mit Ruhe und Licht. Die Natur, die mich umgibt, wird sich in Beton verwandeln, und die Landschaft verschwindet. Der Weg gegenüber soll zu einer Straße ausgebaut werden, die mein Eigentum beschneiden wird, damit man in Zukunft leichter mit dem Auto in diese Ecke kommt, die jetzt zum Wohnviertel werden soll. Alles Vogelgezwitscher wird von Motorengeräusch übertönt werden. Und Bulldozer werden alles plattmachen, was zuvor noch lebendig war.

Als wir gekauft haben, Claude und ich, in jenem Jahr 1999, als der Franc gegen den Euro eingetauscht wurde, was uns bei jeder Ausgabe zu einer entwürdigenden Dreisatzrechnung zwang, hieß es im Flächennutzungsplan, dass wir uns in einem Landschaftsschutzgebiet befanden, mit anderen Worten, dass dort nicht gebaut werden dürfte. Der Eigentümer des Nachbarhauses wies uns darauf hin, dass es verboten war, Bäume zu fällen, andernfalls sie durch neue ersetzt werden mussten. Jeder Quadratmeter Natur war heilig. Und genau das war der Grund, warum dieser Ort uns bezaubert hatte. Dort, am Rande der Stadt, würden wir völlig versteckt leben können. Es gab einen Kirschbaum vor den Fenstern, einen Ahorn, den ein Sturm in dem Jahr entwurzelt hat, in dem ich nach Algerien zurückgekehrt bin, und eine Atlaszeder, über die ich erst kürzlich gelernt habe, dass ihr Harz zum Einbalsamieren von Mumien verwendet wurde.

Andere Bäume sind später gepflanzt worden, von mir, oder sind auch einfach so gewachsen, wie der Feigenbaum, der sich an der hinteren Mauer eingerichtet hat, und jeder erzählt eine eigene Geschichte. Aber Claude hat von alledem nichts gesehen. Er hatte nur gerade Zeit vorbeizukommen und einen anerkennenden Pfiff auszustoßen, die gigantische Arbeit abzusehen, die auf uns zukommen würde und sich einen Ort auszugucken, an dem er sein Motorrad abstellen würde. Er hat Zeit gehabt, die Oberflächen auszumessen, sich mit ein paar in die Luft gezeichneten Gesten das Ganze vorzustellen, den Notarvertrag zu unterschreiben und ein paar ironische Bemerkungen zu machen, als bei der Volksbank der jeweilige Anteil der Kreditversicherung für uns beide festgelegt wurde. Das Anwesen hatte Potenzial, wie man im Maklerjargon sagt. Und der Gedanke an die Renovierung elektrisierte uns. Wir würden laute Musik hören können, ohne den Nachbarn zu stören, der die Bäume zählte und dessen riesiges Grundstück sich hinter einer natürlich gewachsenen Hecke erstreckte. Wir könnten unsere Koffer für ein ganzes Leben abstellen und alle möglichen Pläne ins Blaue hinein entwerfen.

Ich bin dann schließlich alleine mit unserem Sohn eingezogen, mitten in einer ziemlich brutalen chronologischen Abfolge der Ereignisse. Unterzeichnung des Kaufvertrags. Unfall. Umzug. Begräbnis.

Die wahnsinnigste Beschleunigung, die mein Leben je mitgemacht hat. Wie eine Achterbahnfahrt mit wehendem Haar, und dann entgleist das Wägelchen bei vollem Tempo.

Ich schreibe an diesem weitentfernten Ort, an dem ich gelandet bin, und von dem aus ich die Welt wahrnehme wie einen etwas körnigen Film, der lange Zeit ohne mich gedreht worden ist.

Das Haus war zum Zeugen meines Lebens ohne Claude geworden. Ein Gerippe, in dem zu leben ich mir erst langsam angewöhnen musste. Und wo ich zur Zeit meiner größten Wut die Zwischenwände mit dem Vorschlaghammer einschlug. Es war ein etwas windschiefes Haus, und das Grundstück, das wir gehofft hatten, in einen Garten zu verwandeln, musste gerodet werden. Anstatt zu renovieren, hatte ich den Eindruck einzureißen, zu zerstören, allem den Krieg zu erklären, was sich mir widersetzte, Gips, Mauerwerk, Holz und jedes weitere Material, dem ich Schmerzen zufügen konnte, ohne dafür ins Gefängnis zu müssen. Das war meine winzige Rache am Schicksal: eine Blechtür eintreten, eine Jutesackleinwand mit der Schere traktieren, Fensterglas zerschlagen und dabei schreien.

Und zugleich musste ich versuchen, im Herzen des Chaos einen Kokon zu schaffen, damit unser Sohn geschützt vor ihm einschlafen konnte. Ein kleiner Fuchsbau in hellen Farben mit Kopfkissen und Federbett und trotz allem über dem Bett angebrachten Zeichnungen und einem kuschligen Teppich, ein Schutzraum gegen die Angst und die nächtlichen Gespenster.

Im Laufe der Jahre habe ich es geschafft, dieses Haus zu zähmen, das mir so gegen den Strich ging. Nachdem ich wie eine Schlafwandlerin in diesen Mauern gelebt hatte, Morgen und Abend verwechselte, hörte ich schließlich auf, mir den Kopf an den Wänden einzurennen und begann sie neu zu streichen. Ich hörte auf, die Zwischenwände und -decken zu demolieren und jeden Quadratmeter wie einen persönlichen Feind zu betrachten. Ich habe meine Wut bezwungen und mich dreingegeben, die Kleider einer zivilisierten Person anzulegen. Ich musste irgendwie wieder auf den Marktplatz der Lebenden zurückkehren. Wenn mich jemand als Witwe titulierte, brannte ich ihn mit dem Flammenwerfer nieder. Gramgebeugt ja, aber Witwe: niemals.

Aber ich musste erst noch mit dem Unkraut fertig werden, das den Garten eroberte. Monatelang habe ich alles ausgerissen, was mir unter die Finger kam, mit den immergleichen beunruhigenden Gesten, ich lernte dabei die Namen von Kriechquecke, Eiternessel und Portulak kennen, die ich alle bei Anbruch der Nacht heimlich in einer Blechtonne verbrannte (offenes Feuer war wegen des Feinstaubs verboten). Ich habe die schädlichen und invasiven Pflanzen wie Ambrosia oder Efeu beseitigt, der im Schatten wucherte, und bei meiner Jagd auf Unkraut nicht nur das Grundstück gesäubert, sondern zugleich auch die Schatten unter meiner Schädeldecke vertrieben.

Stückchen für Stückchen begann ich, das Haus auf bürgerliche Art und Weise zu bewohnen, so wie es auch eine der Klauseln des Versicherungsvertrags vorschrieb, den ich unterschrieben hatte, damit wir im Falle von Feuer- und Wasserschäden oder Einbruch geschützt wären (wie schon Murphys Gesetz sagt, hat kein Unheil je ein anderes verhindert, was mir durchaus bewusst war). Ich war nicht mehr so wütend und schaffte es auch, die Pläne für die beiden Stockwerke zu zeichnen, so, wie wir sie uns vorgestellt hatten, Claude und ich. Ich wusste ganz genau, was ihm gefallen hätte und welche Materialien er im Kopf gehabt hatte, und ich schlug auf den Seiten im Lapeyre-Katalog nach, die wir mit Eselsohren versehen hatten. Ich war schließlich wieder zur Besinnung gekommen und hatte die Handwerker kontaktiert, die hier einen Estrich gießen oder da einen Balken austauschen oder einen beschädigten Fußboden neu fliesen sollten. Oder das Badezimmer renovieren oder die Zentralheizung einbauen. Vielleicht würde ja der Tag kommen, an dem ich wieder Lust hätte, ein Bad zu nehmen.

Ich hatte sogar Freude daran, eine Farbe auszusuchen, um den Anstrich mit dem Holz einer Tür in Einklang zu bringen. Es ist auch vorgekommen, dass ich schön fand, wie die tiefstehende Sonne kurz vor dem Abendessen in die Küche schien.

Bloß verstand ich nicht, für wen dieses Licht war. Mir waren Regentage lieber, die immerhin nicht so taten, als wollten sie mich von meiner Traurigkeit ablenken. Ich hatte beschlossen, das Haus sollte das sein, was mich mit Claude verbunden halten würde. Diesem neuen Leben, das unser Sohn und ich uns nicht ausgesucht hatten, einen Rahmen geben. Es war nach wie vor unser Sohn, auch wenn ich mir irgendwann würde angewöhnen müssen, mein Sohn zu sagen. Genauso wie ich irgendwann ich sagen musste statt des wir, das mich getragen hatte. Dieses ich, an dem ich mich wundscheuerte, dieses Wort für die Einsamkeit, die ich nicht gewollt habe, dieses unwahre Wort.

Ich habe die Idee beibehalten, ein kleines Tonstudio einzurichten, das Claude schon lange hatte haben wollen. Ein schalldichtes Zimmer, in das er gehofft hatte, sich zum Arbeiten zurückziehen zu können. Und in dem seine Instrumente gestanden hätten, ein Bass, eine Gitarre und der Synthesizer, den er gerade gekauft hatte (ein sechsspuriges Gerät von Sequential Circuit, tut mir leid, das auszuführen, aber es hat seine Wichtigkeit) und auf dem er, Kopfhörer auf den Ohren, herumklimperte.

Ich ging geduldig vor, ich habe fast zwanzig Jahre gebraucht, um mit allen Zimmern, allen Oberflächen fertig zu werden, die Fenster habe ich erst letztes Jahr ausgetauscht. Und die Läden gerade erst neu gestrichen. Wenn ich gewusst hätte, dass ich mir diese ganze Mühe mache, nur damit ein Bauunternehmer dann alles abreißt. Die Außenfassade habe ich...

mehr

Autor

Brigitte Giraud wurde 1960 in Sidi Bel-Abbès (Algerien) geboren. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in Lyon, wo sie auch heute noch lebt. Sie arbeitete als Buchhändlerin (u. a. in Lübeck), als Übersetzerin und Journalistin. Sie veröffentlichte zahlreiche mit Preisen ausgezeichnete Romane. Für Schnell leben erhielt sie 2022 den bedeutendsten Literaturpreis Frankreichs, den Prix Goncourt.