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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
144 Seiten
Deutsch
Verlag Klaus Wagenbacherschienen am21.09.2023
Der streitbare Denker Jonathan Crary betrachtet die Verwüstungen, die der digitale Kapitalismus verursacht. Ein leidenschaftliches Plädoyer für den Aufstand, der kommen muss. Die Welt brennt. So weit, so bekannt - aber: Ist eine Kehrtwende noch möglich? Ja, sagt der renommierte Kunstkritiker und Medientheoretiker Jonathan Crary, doch ein Green New Deal wird nicht reichen. Klimaprotest und Kapitalismuskritik müssen sich international vernetzen - außerhalb der digitalen Sphäre. Denn die Digitalisierung verhindert nicht nur echte Solidarität, sondern ist auch für massive und flächendeckende Ressourcenausbeutung verantwortlich. In seinem engagierten Aufruf zeigt der so gefeierte wie kontrovers diskutierte Autor die Alternativen zu Digitalkomplex und Überwachungskapitalismus auf. Er zeichnet den fundamentalen Gegenentwurf eines Ökosozialismus, der eine lebbare Zukunft verspricht und Mensch und Natur vor ihrem Kollaps bewahren könnte.

Jonathan Crary ist Kunstkritiker, Essayist und Meyer-Schapiro-Professor für moderne Kunst und Theorie an der Columbia University in New York. Seine Werke beschäftigen sich unter anderem mit Techniken der Wahrnehmung.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR20,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR17,99

Produkt

KlappentextDer streitbare Denker Jonathan Crary betrachtet die Verwüstungen, die der digitale Kapitalismus verursacht. Ein leidenschaftliches Plädoyer für den Aufstand, der kommen muss. Die Welt brennt. So weit, so bekannt - aber: Ist eine Kehrtwende noch möglich? Ja, sagt der renommierte Kunstkritiker und Medientheoretiker Jonathan Crary, doch ein Green New Deal wird nicht reichen. Klimaprotest und Kapitalismuskritik müssen sich international vernetzen - außerhalb der digitalen Sphäre. Denn die Digitalisierung verhindert nicht nur echte Solidarität, sondern ist auch für massive und flächendeckende Ressourcenausbeutung verantwortlich. In seinem engagierten Aufruf zeigt der so gefeierte wie kontrovers diskutierte Autor die Alternativen zu Digitalkomplex und Überwachungskapitalismus auf. Er zeichnet den fundamentalen Gegenentwurf eines Ökosozialismus, der eine lebbare Zukunft verspricht und Mensch und Natur vor ihrem Kollaps bewahren könnte.

Jonathan Crary ist Kunstkritiker, Essayist und Meyer-Schapiro-Professor für moderne Kunst und Theorie an der Columbia University in New York. Seine Werke beschäftigen sich unter anderem mit Techniken der Wahrnehmung.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783803143846
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum21.09.2023
Seiten144 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse756 Kbytes
Artikel-Nr.12464884
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Zweites Kapitel

»â¦ daß nur unter kommunistischen Verhältnissen die schon erreichten technologischen Wahrheiten praktisch werden können.«

Karl Marx (1851)

Angesichts der täglichen Nachrichten über den massiven Verlust des arktischen Meereises, das Schmelzen der Gletscher in Grönland und der Antarktis und die Brände auf den sibirischen Permafrostböden mag es unwichtig erscheinen, auf ein eher unbedeutendes Merkmal der schwindenden Kryosphäre der Erde hinzuweisen. Aber am Rande des Yosemite-Nationalparks in der Sierra Nevada befindet sich der Lyell-Gletscher - oder das, was von ihm übrig ist. Viele Jahre lang gehörte er zu den meistbesuchten der mehreren hundert Gletscher, die es einst in den 48 zusammenhängenden Staaten gab, doch 2010 wurde er für praktisch tot erklärt. Jetzt besteht er nur noch aus verstreuten Flecken schwindenden Eises, die durch atmosphärischen Ruß verdunkelt sind. Hier ist nicht allein das Wrack eines Gletschers zu sehen, sondern auch die Ruine einst einflussreicher, sogar unwiderlegbarer Annahmen über Zeit und Beständigkeit oder das, was »bleibt«.

Seinen europäisch-amerikanischen Namen erhielt der Gletscher in den 1850er Jahren, nachdem man das Yosemite Valley gewaltsam seinen indigenen Bewohnern entrissen hatte. Für die gebildeten Eliten Europas und Nordamerikas war die Verbindung der Wörter »Lyell« und »Gletscher« eine harmonische. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war der schottische Geologe Charles Lyell weithin für seine Behauptung bekannt, bedeutende geologische Veränderungen vollzögen sich nur über enorme Zeitspannen. Die gewaltigen Transformationen der Erde seien langsam und unmerklich vonstattengegangen, durch Erosions- und Sedimentationsprozesse, die viel länger gedauert hätten als die kurze Zeitspanne der aufgezeichneten Geschichte. Ein Beispiel für Lyells »Gradualismus« waren die Gletscher, die aus menschlicher Sicht trotz ihrer unmerklich langsamen Bewegung wie ewig wirkten. Lyell erkannte das periodische Auftreten von gewalttätigen und anomalen Ereignissen wie Vulkanausbrüchen und Erdbeben an, glaubte aber, dass sie wenig Einfluss auf die Konstanz langfristiger Prozesse haben.

James Huttons Arbeiten aus den 1790er Jahren hatten den einflussreichen Begriff der »Tiefenzeit« eingeführt. Gemeint ist eine zeitliche Skala der Erdgeschichte, die so gewaltig ist, dass sie sich mit der menschlichen Erfahrung in keiner Weise vergleichen lässt. Aufbauend auf Huttons Arbeit überbetonte Lyell die unvorstellbare Langsamkeit, mit der sich der Zustand der Erde aus unserer Perspektive verändert, während er gleichzeitig argumentierte, dass die Erde »der Schauplatz wiederholter Veränderungen, langsamer, aber nie endender Schwankungen« sei.60 Es entstand ein intellektueller und kultureller Rahmen, innerhalb dessen die irdische Umwelt als passiv und unempfindlich gegenüber menschlichen Eingriffen galt. In Lyells Worten: »Die Gesamtkraft, die der Mensch ausübt, ist wirklich unbedeutend«; die Natur war »vom Standpunkt der menschlichen Geschichte und der Sozialwissenschaft aus kein bedeutender Akteur mehr«.61 Die wirtschaftliche Modernisierung erforderte, dass die Erde und ihre Strukturen wie ein Landschaftsgemälde aus der Distanz betrachtet und objektiviert wurden. Gleichzeitig mussten ihre scheinbar unendlichen Ressourcen für die Ausbeutung und den Erwerb von Reichtum zugänglich bleiben. Lyell spekulierte zwar darüber, dass sich die Erdatmosphäre über Zehntausende von Jahren erwärmen könnte, doch aktuelle Entwicklungen wie das Verschwinden der riesigen polaren Eisschilde innerhalb einer menschlichen Lebensspanne wären für ihn unvorstellbar gewesen.

Jetzt, da die Erwärmungsraten des Klimas immer weiter nach oben korrigiert werden, wird es schwierig anzunehmen, dass irgendetwas »ewig« bleiben könnte, abgesehen von radioaktivem Abfall, Mikroplastik und »immerwährenden« Chemikalien. Wir leben inmitten der sich häufenden Konsequenzen des Glaubens, menschliches Handeln sei unabhängig von der Welt, deren Teil wir sind. Solange wir unsere Aufgabe darin sehen, eine drohende planetarische Katastrophe abzuwenden, verkennen wir, worauf Walter Benjamin und viele andere hingewiesen haben: Die wirkliche Katastrophe besteht darin, dass alle Formen von imperialer Gewalt, wirtschaftlicher Ungerechtigkeit, rassistischem und sexuellem Terror sowie ökologischer Verwüstung fortbestehen, wie sie waren und sind. Es geht um einen Moment, in dem die Kontinuitäten und Gewohnheiten der Gegenwart unterbrochen werden müssen und eine gradualistische politische Praxis keine Option mehr darstellt. An diesem einzigartigen historischen Scheideweg wird die Beschwörung der Katastrophe zunehmend als Waffe der unternehmerischen und militärischen Macht sowie ihrer techno-modernistischen Sprachrohre eingesetzt. Oft sind es dieselben Autoritäten, die zum einen auf der Dauerhaftigkeit der globalen Institutionen und der rund um die Uhr verfügbaren Netzwerke des digitalen Zeitalters bestehen, zum anderen die Erderwärmung als eine Krise darstellen, deren einzige Lösung im Geoengineering-Projekt umfänglicher Kohlenstoffabscheidung bestehe: ein Vorhaben, das weitaus größere Anstrengungen erfordern würde als das Manhattan-Projekt. Zusammen bilden diese widersprüchlichen Botschaften einen doppelten Zwang, der Lähmung und Fatalismus hervorruft. In beiden Szenarien (immerwährende Gegenwart von Niedriglohnarbeit, endlosen neuen Geräten und pausenlosem Serienkonsum oder militärisch-korporatives Management der planetarischen Katastrophe) wird die Zukunft als die Fortführung bestehender Machtverhältnisse begriffen. Es handelt sich um Projektionen, von denen egalitäre Formen des Postkapitalismus oder Ökosozialismus ausgeschlossen bleiben.

Trotz solcher Haltungen gibt es heute weit weniger pompöse Charakterisierungen des Kapitalismus als unzerstörbar oder als vampirisches System, das regelmäßig abgetötet wird, um im neuen Gewand wieder aufzuerstehen. Das Klischee von der ständigen Erneuerbarkeit des Kapitalismus hat sich erschöpft. Wenn wir Glück haben, hören wir das einst von akademischen Postmodernisten und anderen unermüdlich wiederholte Bonmot bald zum letzten Mal, es sei einfacher, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen. Zur Hochzeit dieser Überzeugung gab es Millionen Menschen im globalen Süden und anderswo, deren politische Vorstellungskraft keine derartige Lähmung aufwies. Mehrere im Gefolge der Krise von 2008 vorgelegte Analysen argumentierten, das Spiel sei fast vorbei: Der Kapitalismus habe seine Trümpfe verspielt, es sei zu einer unaufhaltsamen Erosion der Wertproduktion gekommen. Der verstorbene Robert Kurz beispielsweise behauptete, der viel gepriesene Übergang zu einer von der Dienstleistungsindustrie angeführten Informationswirtschaft, der in den 1970er Jahren begann, habe nie auch nur annähernd seinen hyperbolischen Charakterisierungen entsprochen und keinen neuen Akkumulationsschub eingeleitet.62 Für Kurz hing der Zusammenbruch von 2008 untrennbar mit der weltwirtschaftlichen Dominanz von Mikroelektronik und Computern zusammen. Der Kapitalismus, so zeigte er, wird fatal geschwächt, wenn Arbeit und Arbeitszeit nicht mehr Hauptquelle und Maß des Reichtums sind. Wie einer seiner Interviewpartner zusammenfasste: »Hier beginnt die Vernichtung der goldenen Henne des Kapitalismus, der Arbeit.«63 Der Kapitalismus nähere sich seinem Endstadium, wenn die menschliche Produktivität durch die Technologie nicht nur gesteigert, sondern ersetzt werde.

Für Wolfgang Streeck befindet sich der Kapitalismus in einem fortgeschrittenen Stadium des Zerfalls und werde schließlich »unter der Last der alltäglichen Katastrophen zusammenbrechen, die ein in tiefe, anomische Unordnung abgeglittenes Gesellschaftssystem laufend produziert«.64 Streeck sieht einen Endzustand entropischer Unordnung, in dem die Gesellschaft nicht mehr über stabile Institutionen verfüge, die den Einzelnen vor »Friktionen aller Art« schützen können. Andere betonen äußere Grenzen als Marker für den unvermeidlichen Zusammenbruch. Vor einigen Jahren stellte David Graeber fest, dass »der Kapitalismus als Motor unendlicher Expansion und Akkumulation in einer endlichen Welt per definitionem nicht fortbestehen kann. Jetzt, da Indien und China sich als vollwertige Akteure einkaufen, scheint es vernünftig, davon auszugehen, dass das System in spätestens vierzig Jahren an seine physischen Grenzen stoßen wird. Was auch immer wir dann haben werden, es wird kein System der unendlichen Expansion sein. Es wird nicht der Kapitalismus sein; es wird etwas anderes sein. Es gibt jedoch keine Garantie, dass dieses Etwas besser sein wird. Es könnte erheblich schlechter sein.«65

Da die Unmöglichkeit anhaltenden Wachstums und kontinuierlicher Akkumulation von Monat zu Monat offenkundiger wird, sind viele Vorstellungen von »Fortschritt« verblasst, die die verschiedenen Metamorphosen des Kapitalismus begleitet haben. Fast zweihundert Jahre lang nährten sie die wahnhafte Erwartung, der materielle und wissenschaftliche Fortschritt bewege sich auf einen künftigen allgemeinen Wohlstand zu.66 Heute besteht ein Anzeichen für das Ende des Kapitalismus im Fehlen substanzieller oder glaubwürdiger Versprechen einer besseren Zukunft. Einige haben argumentiert, seit den 1990er Jahren sei eine neue Art von Geschichtsbewusstsein, oft als »Präsentismus« bezeichnet, angetreten, die verschiedenen »Futurismen« der vorangegangenen zwei Jahrhunderte zu verdrängen.67 Zu den Elementen des Präsentismus gehören alle technologischen...
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Autor

Jonathan Crary ist Kunstkritiker, Essayist und Meyer-Schapiro-Professor für moderne Kunst und Theorie an der Columbia University in New York. Seine Werke beschäftigen sich unter anderem mit Techniken der Wahrnehmung.

Bei diesen Artikeln hat der Autor auch mitgewirkt