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aber wohin denn

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
229 Seiten
Deutsch
epublierschienen am15.10.20233. Auflage
Hier erzählt ein westdeutscher Erwachsener von Erinnerungen an seine dörfliche Kindheit im Osten. Es geht um etwa ein Jahrzehnt deutscher Geschichte von der Vorkriegszeit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1945, berichtet aus der Sicht des Kindes, betrachtet in ungewöhnlich beobachtender Bildersequenz bis zur Wiederbegegnung des Alternden mit seinem Dorf.

Kopplin, Wolfgang Studiendirektor im Ruhestand wohnhaft in Plettenberg geboren am 19.07.1935 in Cottbus verheiratet, drei Kinder
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR19,99
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
EUR6,99

Produkt

KlappentextHier erzählt ein westdeutscher Erwachsener von Erinnerungen an seine dörfliche Kindheit im Osten. Es geht um etwa ein Jahrzehnt deutscher Geschichte von der Vorkriegszeit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1945, berichtet aus der Sicht des Kindes, betrachtet in ungewöhnlich beobachtender Bildersequenz bis zur Wiederbegegnung des Alternden mit seinem Dorf.

Kopplin, Wolfgang Studiendirektor im Ruhestand wohnhaft in Plettenberg geboren am 19.07.1935 in Cottbus verheiratet, drei Kinder
Details
Weitere ISBN/GTIN9783758414602
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatE101
Verlag
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum15.10.2023
Auflage3. Auflage
Seiten229 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse912 Kbytes
Artikel-Nr.12562996
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Glockenschmerzen

Der Junge läßt die Harke sinken. Schon einige Zeit lang hat er nicht nur die Gehfläche der Dorfstraße vor dem Haus gesäubert, sondern dabei auch ein Muster aus Parallelen in den Staub gekratzt. Sein Liedchen, das er bei der Arbeit rhythmisch vor sich hin gesummt hat, ist verstummt. Der Junge ruht ein wenig aus und lauscht in die dörfliche Abendstille.

Der Sonnabend ist der schönste Tag der Woche. Besonders der Abend, wenn unter dem Glockenklang von der nahen Kirche und den fernen Glocken der Nachbarkirchen her die letzte Arbeit auf der Straße geschafft ist, wenn Mutter im Haus die Geschwister im Haus gebadet hat und sie auf den niedrigen Kachelofen am Herd setzt. Als letzter ist auch er an der Reihe, ehe es dann gemeinsam mit dem wohligen Gefühl warmer Sauberkeit zum Abendessen am Küchentisch geht. Danach darf er allein ins dunkle Wohnzimmer mit den zugeklappten Fensterläden und den gedämpften Geräuschen hinter der Küchentür, wo die Geschwister für die Nacht hergerichtet werden.

Der Junge klettert dann meist, ohne Licht zu machen, auf Vaters Schreibtisch. Dort steht neben der Schreibauflage der große Klotz des Radios mit dem zwitschernden Schalter links unten. Wenn er daran dreht, leuchtet mit grünlichem Schein die runde Senderskala mit den vielen unbekannten Namen der Stationen und dem roten Zeiger in der Mitte auf. Den kann der Junge mit einem anderen Schalter drehen, bis der Suchende nach den wechselnden Gesprächsfetzen Musik aus dem Lautsprecher hört.

Musik ist ein Freund, solange man noch nicht lesen kann. Auf die Bücher aus Vaters Bücherschrank freut er sich jetzt schon. Aber noch ist Musik der beste Freund, wenn man am Tag selten genug ab und zu ganzallein im Haus ist, Mutter im Garten und die Kinder bei ihr. Wenn ausgerechnet dann keine Musik im Radio zu finden ist, nur ruckartig stotternde Redestücke und Geräusche bei der Suche. Dann hört er, wenn er das will, ganz leise Musik in seinen Ohren, im Kopf, in der Luft, um sich herum.

Beim fernen Gebell eines Hundes erschrickt der Junge. Er merkt, daß die Arbeit schon ein Weilchen stockt, daß er sich nur auf den Harkenstiel stützt und noch nicht ganz fertig ist mit seiner Arbeit.

Für das Harken vor der Tür hat ihm Mutter heute soviel Zeit gegeben, wie er möchte. Sie habe genug zu tun und wolle den Kleinen noch die Haare und die Nägel schneiden, werde ihn nach dem Abendläuten rufen. Mutter weiß, daß ihr Ältester die Sonnabende besonders liebt und die Fegearbeit mit dem Gesang der Glocken gern auf sich nimmt, am Abend, wenn die heimische Glocke den Sonntag einläutet.

Die Abendglocke. Noch ist alles still. Der Junge, er hat schon wieder zwei breite Striche mit ihren Parallelen in den Sand gekratzt und sein Harkenmuster ergänzt, da stockt er ruckartig erneut. Noch hat das Geläut nicht begonnen. Heute könnte man der Glocke von Anfang an zuhören, nicht erst hinauslaufen, wenn das Läuten schon angefangen hat. Vielleicht den Beginn unten am nahen Glockenturm erleben, den Schwall der Klänge über sich ergießen lassenâ¦

Entschlossen lehnt der Junge die lange Harke an das Geländer der gemauerten Treppe und rennt in Richtung der Kirche.

Das Geräusch der ins Schloß fallenden Haustür des Pfarrhauses in der Nachbarschaft läßt ihn erneut innehalten. Die Dorfstraße ist menschenleer. Die Ruhe des Wochenendes liegt wie ein buntes Tuch über den roten Ziegeln der Kirchhofsmauer, den Büschen und Häusern am Wege, über den hohen Bäumen vor der Kirche und dem kurzen, breiten Turm.

Die kleinen Beine gehen von allein langsam weiter. Die Hände verschwinden in den Hosentaschen. Wieder klappt die Tür, und ein knirschender Schritt nähert sich hinter dem Fliederbusch vor dem Pfarrhauseingang. Auf die Straße tritt eine jugendliche Gestalt und geht beschwingten Schrittes auf das Friedhofstor gegenüber zu.

Der Junge erkennt den hochgewachsenen Spielkameraden Gerhard, den zweitältesten Sohn der Pfarrerfamilie. Der ist schon groß und darf läuten, soviel weiß der Junge. Das haben sich die Dorfkinder in der Schule erzählt.

Gerhard schaut sich flüchtig um und bleibt mitten auf der Straße stehen, als er den Jungen sieht. Er hebt die Hand und fragt das sehr langsam nahende Kind gut gelaunt, wohin das Lehrersöhnchen so allein am Abend wolle. Der Junge geht mit immer kürzeren Schritten auf Gerhard zu, ergreift die ihm hingehaltene Hand und lächelt verlegen. Als Gerhard ihn fragt, ob er nicht mitkommen und läuten helfen wolle, kann er nur vorsichtig nicken und hat ein bißchen Angst, daß Gerhard sein plötzliches Herzklopfen hören könnte.

Gerhard hat sich schon halb weggedreht, als sei die Zustimmung des Jungen selbstverständlich, und geht weiter auf den Kirchhofseingang zu. Dabei redet er über die Schulter mit dem Jungen, der aufgeregt hinter ihm her trippelt, über das schöne Abendwetter und darüber, daß Pastorenkinder und Lehrerkinder doch zusammenhalten müßten. Sie seien keine eingeborenen Dörfler und blieben deshalb Außenseiter bei der Dorfjugend. Wenn man dann noch gut in der Schule sei⦠Aber das werde er ja auch bald erleben.

Inzwischen haben sie das Eingangstor zum Kirchhof durchschritten und sind über den kurzen Sandweg unter den hohen Bäumen an der massigen, hölzernen Kirchentür angekommen. Gerhard zieht einen großen Schlüssel aus der rechten Hosentasche und schließt das Portal auf. Zögernd folgt der Junge, als Gerhard ihn hereinwinkt, die eisenbeschlagene, quietschende Tür wieder schließt und durch den Seitengang an den Bänken vorbei ihm vorangeht.

Der Junge schaut sich in dem kühlen, etwas muffig riechenden Raum um. Das Dunkel, das sich beim Eintritt auf seine Augen gelegt hat, hebt sich wieder. Die aufgereihten Holzbänke scheinen ihn abweisend anzustarren, die kleinen Fenster lassen nur wenig Abendlicht herein. Der sonst so geliebte Kronleuchter schwebt wie drohend von der düsteren Decke. Der ganze Raum wirkt kalt und fremd.

Gerhard wartet ungeduldig an der Treppe zur Orgelempore und zum Turm. Eilig folgt ihm der Junge. Auf der Empore blickt er noch einmal in den Kirchenraum hinab, sieht den Leuchter mit der tatsächlich goldenen Krone wie vorwurfsvoll schützend über den schwarzen Reihen der Holzbänke die metallenen Armstäbe ausbreiten, jetzt selber dunkel und sinnlos.

Der Junge friert ein wenig und wendet sich der Orgel zu. Die Orgel. Vaters wundervolle Orgel. Tief in seinem Ohr hört er den fernen, brausenden Klang eines Chorals, schöner als alle Geigen und Trompeten aus dem Radio, schöner als Flöten und Posaunen. Alle Musik singt in ihm in einem davonwehenden Klang.

Die laute, ruhige Stimme Gerhards schreckt ihn auf. Hinter der Orgel ist eine sehr schmale Tür in der Wand. Von dort führt eine dünne Stiege hinauf in den Turm. Enge, ausgetretene Stufen. Rechts und links das hohe, staubige Gestrebe der breiten Balken. Und auf einmal die geräumige Glockenstube, in deren Mitte ein dickes Seil herabhängt. Gerhard lacht, als er den Raum beim Namen nennt und den fragenden Blick des Jungen versteht. Er zeigt schräg nach oben, während er zu einer der Turmluken geht und das Abendlicht hereinläßt. Es füllt den Raum mit milder Helligkeit und kommt für Sekunden dem Jungen viel zu grell vor. Er blinzelt ins Dunkel über sich und sieht anfangs nur Balken und Schatten. Dann auf einmal den weit gewölbten Rand der großen, grauen Glocke. So groß hat er sie sich nicht vorgestellt.

Er tritt an den Rand der Stiege zurück, als Gerhard sich dem Seil nähert, das linke Handgelenk erhebt und auf seine Armbanduhr schaut, mit der rechten Hand das Seil ergreift und zu einem Denkmal erstarrt. So kommt es dem Jungen vor. Lange, sehr lange, stehen die beiden Glöckner ganz still.

Plötzlich geht ein Ruck durch den ganzen Körper Gerhards. Er faßt mit beiden Händen zu, springt mit den Füßen ein Stückchen hoch und hängt am Seil, als wolle er hinaufklettern. Dann lockert er den Griff, steht wieder auf dem Holzboden der Stube, springt wieder, lockert und steht⦠Stille. Enttäuschende, herzklopfende Stille. Gerhard springt, lockert, springt.

Auf einmal ein schwingender Klang von oben aus dem Gebälk. Aus dem Klang wird ein lautes Geläut, aus dem gleichmäßig anschlagenden Geläut ein donnerndes Doppelklangbrausen. Der Junge hält sich die Ohren zu und sieht, wie Gerhard nicht mehr springt, sondern ruhig auf dem Holzboden steht, mit der rechten Hand gleichmäßig das Seil herabzieht und mit der linken den Jungen heranwinkt. Unter dem ungeheuren Tonschwall, der nicht nur die Glockenstube brausend überfüllt, sondern auch aus der geöffneten Luke hinausdrängt, scheint Gerhard bei jedem Ziehen am Strick sich kurz zu verneigen, sieht zu dem Jungen herüber und winkt ihn noch einmal mit der Linken energisch heran.

Der Junge nähert sich beklommen, wird nach einem Nicken Gerhards blitzartig gepackt und mit beiden Händen an das Seil gedrückt, krallt sich mit einem Aufschrei, der im Klanggedröhn der Glocke untergeht, am Seil fest, wird aus Gerhards Armen in die Höhe gerissen, sanft wieder abgesetzt, wieder in die Höhe gerissen und sanft abgesetzt, wobei sich der Krampf in beiden Händen löst und das hochschellende Seil ihn zu Boden wirft.

Gerhard hatte ihm gleich am Anfang losgelassen, stemmt nun die Arme in die Seiten und lacht über das ganze Gesicht. Zu hören ist beim Lärm dieser Glockenrufe nichts. Der Junge kriecht auf allen Vieren bis an die Bretterwand unter der Luke, richtet sich auf und blickt mit weit geöffneten Augen zurück. Er sieht den lachenden Gerhard wieder ruhig und gleichmäßig am Strick ziehen, sieht das gleichmäßige Nicken und die Auf- und Abbewegung des Stricks, sieht das staubgraue Gebälk zittern, sieht zwischen den Balken...
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