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Die Ränder der Welt

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Hoffmann und Campe Verlagerschienen am05.03.2024
Als Sohn estnischer Auswanderer wächst Kristian im Basel der Nachkriegszeit auf und freundet sich mit dem Nachbarsjungen Mikkel an. Mikkel rotiert wie ein Kreisel durchs Leben und macht sich, kaum erwachsen, auf nach Dänemark, wo er sich einer Gruppe junger Künstler anschließt. Und Kristian bald nachholt. Auch Kristian findet in Dänemark Inspiration für seine Bildhauerei. Aber dann schlägt Mikkel sein Leben aus den Fugen, indem er eine Affäre mit Kristians großer Liebe Selma beginnt.  Die Wut jagt Kristian durch die Welt, bis ins ferne Patagonien, wo er neu anfangen kann. Erst viele Jahre später reist Kristian wieder zurück nach Europa und erhält einen mysteriösen Brief, der ihn auf die kleine Fähre nach Christansø schickt...

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und Genf. Sein erster Roman Hasenleben erschien 2011 und stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. 2013 gewann er mit Carambole den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Es folgten die Romane Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit, Mein Leben als Hoffnungsträger und Ameisen unterm Brennglas. Jens Steiner lebt heute als Schriftsteller und Journalist in der französischen Region Burgund.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR25,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextAls Sohn estnischer Auswanderer wächst Kristian im Basel der Nachkriegszeit auf und freundet sich mit dem Nachbarsjungen Mikkel an. Mikkel rotiert wie ein Kreisel durchs Leben und macht sich, kaum erwachsen, auf nach Dänemark, wo er sich einer Gruppe junger Künstler anschließt. Und Kristian bald nachholt. Auch Kristian findet in Dänemark Inspiration für seine Bildhauerei. Aber dann schlägt Mikkel sein Leben aus den Fugen, indem er eine Affäre mit Kristians großer Liebe Selma beginnt.  Die Wut jagt Kristian durch die Welt, bis ins ferne Patagonien, wo er neu anfangen kann. Erst viele Jahre später reist Kristian wieder zurück nach Europa und erhält einen mysteriösen Brief, der ihn auf die kleine Fähre nach Christansø schickt...

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und Genf. Sein erster Roman Hasenleben erschien 2011 und stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. 2013 gewann er mit Carambole den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Es folgten die Romane Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit, Mein Leben als Hoffnungsträger und Ameisen unterm Brennglas. Jens Steiner lebt heute als Schriftsteller und Journalist in der französischen Region Burgund.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783455017113
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum05.03.2024
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.12577077
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
CoverVerlagslogoTitelseiteMotto1.2.3.4.5.6.7.Über Jens SteinerImpressummehr
Leseprobe

2.

Simrishamn. Häuser in Indischgelb, Minzgrün und Pastellblau, gesäumt von mannshohen Stockrosen. Auf dem gepflasterten Hauptplatz reiht sich ein Volvo an den anderen, der Bäcker bietet drei Zimtschnecken zum Preis von zwei an. Eine Stadt wie ein Gemälde, unter einer dicken Lasur von Glückseligkeit.

Am Ende der Einkaufsstraße der Anleger. Einmal täglich setzt die Fähre über nach Allinge an der Nordostspitze Bornholms. Von dort muss ich weiter nach Gudhjem, wo die kleine Christiansø-Fähre auf mich wartet. Wenige Stunden noch, und ich bin dort, wo ich seit bald dreißig Jahren sein sollte. Dort, wo ich einst meinem Leben entlaufen bin wie jener sprichwörtliche Mann, der schnell Zigaretten holen geht und dabei spurlos verschwindet.

Nicht nur damals bin ich abgehauen. Ein Erbe meiner Eltern: fliehen und nirgendwo richtig ankommen. Andere haben es besser gemacht. Mein einstiger Zimmergenosse Ilmar sagte einmal: »Deine Generation wird die erste sein, welche alle Hindernisse, die einem guten Leben entgegenstehen, aus dem Weg räumt.« Er hatte recht, der gute Ilmar. Meine Generation hat sich von niemandem etwas vorschreiben lassen, hat sich nie auch nur einen Millimeter geduckt, ein Abgang durch die Hintertür kam für sie nicht infrage. Und ich selbst? Nun ja. Hier stehe ich, mit meinem Rucksack, der alles beinhaltet, was ich mit meinen sechsundfünfzig Jahren besitze: Jacke, Pulli, Unterwäsche, Socken, eine Ersatzhose, ein Skizzenbuch, eine Handvoll Stifte, zwei Bücher, den Umschlag mit den Fotos aus Argentinien. Ich weiß nichts vom guten Leben, das meine Generation so klug zu führen gelernt hat.

Und nun Mikkels neue Volte. Natürlich ahne ich, warum er mich zu sich gelotst hat. Aber noch immer mache ich einen weiten Bogen um diese Brandwunde in meinem Gedächtnis, die nie ganz verheilt ist. Sie, die Eine. Der Anfang unseres letzten Zerwürfnisses. Und jetzt: die Hoffnung, sie bei ihm zu sehen. Die Angst, vor ihr zu stehen, in meiner ganzen Blöße. Eine Angst als fremde Hand an der Kehle, gleichermaßen kühl wie glühwarm.

Obwohl ich den Anlass seines Briefs zu kennen glaube, hat das Schreiben mich zutiefst irritiert. Einmal mehr weiß ich nicht, ob ich einfach nur zu dumm bin, um die Logik hinter seinem Handeln zu begreifen. Ich setze mich an die Kaimauer, klaube den Brief aus der Tasche, der mich vor wenigen Wochen in Tallinn erreicht hat.


Sehr geehrter Freund Kristian,

wir hoffen, es geht dir gut. Wir sind hier sehr zufrieden, aber ich möchte dich dennoch freundlichst bitten: persönlich zu uns nach Christiansø zu kommen. Es ist nicht weit, die Fähre ist äußerst komfortabel mit Kaffee und Bier und verschiedenen Menüs zum günstigen Preis. Bitte, Kristian, bitte komme nach Christiansø. Hier wirst du für deinen Aufenthalt ein eigenes Zimmer haben mit Aussicht aufs Meer inklusive Filterkaffee und dänischen Butterkeksen. Du darfst so lange bleiben, wie du willst, aber auch gleich wieder gehen danach.

 

Mit freundlichen Grüßen

Mikkel Jacobsen (von Basel)

 

P. S. Unsere Adresse: Jacobsen Mikkel, Mühlenhügel, Christiansø, Danmark


Ich erinnere mich gut an Mikkels Handschrift. Knapp leserlich, bar jeder Eleganz. Zu viel Raum zwischen den Wörtern, die Buchstaben einen Zacken zu steil nach vorn stürzend. Auch der Schrift in diesem Brief geht jegliche Geschmeidigkeit ab. Aber sie ist akkurat. Als ob der Schreiber sich jeden einzelnen Buchstaben mit Bedacht vorgenommen hätte. Doch was mich wirklich irritiert, ist die Nachricht selbst. Zu gehoben und zugleich zu plump, um noch ironisch zu sein. Zu distanziert für den Mikkel, den ich kannte. Was meint er mit »gleich wieder gehen danach«? Warum sagt er »wir«? Weshalb zum Teufel kann er nicht einfach sagen, dass es um sie geht, sie, die Eine, um die sich alles drehte damals?

Die Fähre legt in einer Stunde ab. Vor dem Café am Anleger sitzen und warten sie, die Vertreter meiner Generation, in ihren abenteuerfarbenen Cargohosen: Beige, Heidegrün, Kaki. Am äußersten Tisch ein stummes Ehepaar. Das Ausrufezeichen ihrer Zigarettenhand und das Fragezeichen seines Wohlstandsbauchs belauern sich gegenseitig. Zwei Symbole dieser sich bald zu Ende neigenden neunziger Jahre, von einer bedingungslosen Hingabe ans gesundheitsschädigende Laster erzählend, wie sie wohl bald nicht mehr möglich sein wird. Der Mann schabt mit dem Gäbelchen Kuchenkrümel zusammen und schaut auf. Sein Blick geht in meine Richtung. Er kneift die Augen zusammen, reckt den Kopf um wenige Millimeter. Hat er ihn gesehen? Hat er?

Nein, er hat nicht. Gelangweilt dreht er Kopf ab. Manche erkennen meine Polydaktylie auf den ersten Blick, andere sehen den überzähligen Finger an meiner linken Hand auch nach Tagen oder Monaten nicht.

Manchmal kommt mir dieser Gedanke: Dass auch ich blind bin und mein Leben nur die Vorderseite einer Apparatur darstellt, die Mikkel Jacobsen von hinten bedient. Ich kann noch so lange ihre Oberflächen abtasten - nie wird es mir gelingen, jenen entscheidenden Spalt zu entdecken, den Finger hineinzustecken und zu rütteln, bis die Apparatur in sich zusammenbricht. Nie wird es mir gelingen, diese Zauberbude zu entlarven, weil Mikkel sie nach mir unbekannten Regeln erbaut hat.

Das stille Ehepaar erhebt sich, ein anderes Paar übernimmt den Tisch. Die Melodie ihrer Sätze entlarvt sie als Dänen. Kaum sitzen sie auf ihren Stühlen, zünden sie sich ihre Zigaretten an. Prince light extradünn. Mit ihnen ändert sich die Atmosphäre in jener Ecke des Cafés, eine Plaudrigkeit entsteht, von der sich das benachbarte Paar dankbar anstecken lässt. Ein Gelächter aus knarrenden Raucherkehlen geht durch die Runde.

Eine der Frauen erinnert mich an Sissel. Ihre sehnigen Hände, die leicht gebeugte Haltung. Wie Sissel wird sie alle ihr anvertrauten Aufgaben zeitlebens mit Gewissenhaftigkeit und Entschlossenheit erledigt haben. Ein Leben wie ein unverwüstliches Spinnrad.

Sissel. Die Mutter, die ich nie hatte. Der Tag, an dem ich sie kennenlernte, steht mir so klar vor Augen, als sei es gestern gewesen. Es war der Tag, der am Anfang meines bald endenden Umwegs stand.

~

Als Herr Ole seinen Lloyd endlich am Hochbergerplatz parkte, drehte er den Zündschlüssel und sagte: »Na, Jungens? Ein Glas Milch und Erdbeertörtchen bei uns oben?«

Ich schielte zu Mikkel. »Wir gehen spielen und kommen später nach«, sagte er.

»Aber du, Kristian, du hast doch Lust auf leckere Erdbeertörtchen, nicht wahr?«

Herr Ole legte die Hand auf meine Schulter und drückte mich sanft in Richtung Haustür. Ich wehrte mich nicht.

In der Wohnung empfing uns Frau Jacobsen mit unwiderstehlicher Herzlichkeit. »Schau, der Kristian. Zeit, dass du mal bei uns vorbeischaust. Ich habe Mikkel immer gesagt: Warum lädst du ihn nicht mal ein? Ich bin übrigens die Sissel.«

Aus einem Nebenzimmer war ein Geräusch zu hören - ich habe es jetzt noch im Ohr, eine Art mürrisches Seufzen -, und augenblicklich schien eine Welle des Kummers und der gleichzeitigen Erleichterung durch die Gesichter vor mir zu schlagen.

»Ach ja, und der Erik gehört selbstverständlich auch noch dazu«, sagte Herr Ole und zeigte zu der halboffenen Zimmertür hin.

Kaum jemand in Kleinhüningen wusste von Eriks Existenz. Er verließ weder die Wohnung noch sein Zimmer, er sprach mit niemandem. Er gehörte nicht dazu, selbst wenn Herr Ole das Gegenteil behauptete. Erik war ein einsamer Komet, der zeitlebens nie auf einen anderen Himmelskörper treffen würde. Erik war Autist. Ob es in seiner Welt eine Sprache gab, wusste niemand. Manchmal gab er Töne von sich. Sie konnten alles bedeuten. Meist jedoch war er still, und immer wieder kam es vor, dass die Familie Jacobsen ihr jüngstes Mitglied schlichtweg vergaß. Man saß zusammen, verschlang mit Zuckerguss übertünchte Backwaren, Herr Ole erzählte Schwänke von der Arbeit, man lachte, und von einem Moment auf den anderen sprang Frau Sissel auf, schaufelte mit erstarrtem Gesicht ein süßes Stück auf einen Teller und huschte damit in Eriks Zimmer. Derweil lauschten Herr Ole, Mikkel und ich den Geräuschen, die durch die offene Tür drangen. Als läge da drüben eine todkranke Person.

Von jenem Tag an saß ich oft am Tisch der Jacobsens und ließ mich von ihren weichen Melodien einlullen. Im Gegensatz zu meinem Zuhause, wo zeitweise mehr Deutsch als Estnisch gesprochen wurde, verzichtete man hier auch in Anwesenheit eines Gastes nicht auf die geliebte Muttersprache. Anfänglich verstand ich kein Wort, doch wie bei Signor Tommasini nahm ich die Sprache schnell auf und begann in halben oder ganzen Sätzen zu antworten. Dänisch sprechen zu lernen ist für Erwachsene eine Qual, die korrekte Aussprache kaum zu bewältigen. Die unhörbaren Stoßlaute, das pflaumig weiche D, die verschluckten Konsonanten - eine Sprache voller Fallen. Ich war damals gerade noch jung genug, um mich mit den tausend Zungenbrechern anzufreunden.

Frau Sissel war der Lebensmotor in der Wohnung am Hochbergerplatz. Ich mochte sie auf Anhieb. Ihre Haut war stets leicht gerötet, als ob sie eben gerade aus einem Bottich eisigen Wassers gestiegen war. Überhaupt schien ihr Körper pure Lebensenergie auszuschwitzen. Eine Energie, mit der sie die drei Männer ihrer Familie zusammenhielt: den fahrigen Mikkel mit seinen Aggressionsschüben, Erik, der Erik war, und Herrn Ole, der nicht immer so aufgeräumt daherkam wie am Tag der Jungfernfahrt mit dem Lloyd. Ihre Mutterrolle erfüllte sie, wie die Zeit es von ihr verlangte. In allen Haushaltskünsten war sie besser als meine Mutter. Die dänischen Gerichte, die sie auftischte, unterschieden sich wenig...
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Autor

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und Genf. Sein erster Roman Hasenleben erschien 2011 und stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. 2013 gewann er mit Carambole den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Es folgten die Romane Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit, Mein Leben als Hoffnungsträger und Ameisen unterm Brennglas. Jens Steiner lebt heute als Schriftsteller und Journalist in der französischen Region Burgund.