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Landstrassenkind

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
180 Seiten
Deutsch
Limmat Verlagerschienen am18.10.2023
Im 20. Jahrhundert versucht die Schweiz, Fahrende mit Gewalt zu assimilieren. Kindeswegnahme, Versorgung und Zwangsbehandlung sind die Mittel. An der Familie Mehr werden sie durchexerziert. Mit Marie Emma, Mariella und Christian Mehr werden drei Generationen sich selbst entfremdet, beiden Frauen wird das Kind weggenommen. Ihre Wut darüber verarbeitet Mariella als sprachmächtige Schriftstellerin, Christian schreit sie der Gesellschaft als Punk ins Gesicht. Mariella betäubt den Schmerz mit Alkohol, Christian mit Heroin. Das Erlebte dominiert das Leben, verbindet die beiden und spaltet sie zugleich. Es ist die Geschichte einer Mutter-Sohn-Beziehung, welche die mentalen und körperlichen Folgen der behördlichen Gewalt in sich trägt. Auf lebendige Weise und eingebettet ins Zeitgeschehen erzählt Michael Herzig von den Verheerungen des sogenannten Hilfswerks «Kinder der Landstrasse», das sowohl Mariella als auch Christian quälte und misshandelte - fünfzig Jahre nach dem Ende des «Hilfswerks» sind die Folgen noch immer präsent.

Michael Herzig, geboren 1965 in Bern, lebt in Zürich und im Jura. Er hat Geschichte und Betriebswirtschaft studiert, war Drogenbeauftragter der Stadt Zürich, leitete während zehn Jahren sozialmedizinische Einrichtungen für marginalisierte Menschen und arbeitet heute als Dozent für Soziale Arbeit, freischaffender Autor und Organisationsberater. Er hat vier Krimis und einen Roman veröffentlicht sowie Kurzgeschichten, Hörspiele, Drehbücher und Nichtfiktionales geschrieben. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR34,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR24,99

Produkt

KlappentextIm 20. Jahrhundert versucht die Schweiz, Fahrende mit Gewalt zu assimilieren. Kindeswegnahme, Versorgung und Zwangsbehandlung sind die Mittel. An der Familie Mehr werden sie durchexerziert. Mit Marie Emma, Mariella und Christian Mehr werden drei Generationen sich selbst entfremdet, beiden Frauen wird das Kind weggenommen. Ihre Wut darüber verarbeitet Mariella als sprachmächtige Schriftstellerin, Christian schreit sie der Gesellschaft als Punk ins Gesicht. Mariella betäubt den Schmerz mit Alkohol, Christian mit Heroin. Das Erlebte dominiert das Leben, verbindet die beiden und spaltet sie zugleich. Es ist die Geschichte einer Mutter-Sohn-Beziehung, welche die mentalen und körperlichen Folgen der behördlichen Gewalt in sich trägt. Auf lebendige Weise und eingebettet ins Zeitgeschehen erzählt Michael Herzig von den Verheerungen des sogenannten Hilfswerks «Kinder der Landstrasse», das sowohl Mariella als auch Christian quälte und misshandelte - fünfzig Jahre nach dem Ende des «Hilfswerks» sind die Folgen noch immer präsent.

Michael Herzig, geboren 1965 in Bern, lebt in Zürich und im Jura. Er hat Geschichte und Betriebswirtschaft studiert, war Drogenbeauftragter der Stadt Zürich, leitete während zehn Jahren sozialmedizinische Einrichtungen für marginalisierte Menschen und arbeitet heute als Dozent für Soziale Arbeit, freischaffender Autor und Organisationsberater. Er hat vier Krimis und einen Roman veröffentlicht sowie Kurzgeschichten, Hörspiele, Drehbücher und Nichtfiktionales geschrieben. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783038552703
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum18.10.2023
Seiten180 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4078 Kbytes
Artikel-Nr.12578128
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Assimilierungswahn

Auch die Mehr sind nicht zwangseingebürgert, sondern die Familie ist durch die unglückliche Heirat eines wahrscheinlich wenig intelligenten Gliedes der sonst bäuerlichen Familie Mehr von Almens mit einem Mädchen aus dem Stamme Waser, in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts, entstanden. Sie hat sich dann erschreckend rasch vermehrt. [â¦]

Ebenso rasch aber, wie der Stamm aufgeblüht ist, scheint er jetzt auch wieder niederzugehen; nach den Mitteilungen des Gemeindeamtes Almens hat man jetzt dort kaum mehr mit ganzen fahrenden Familien, sondern bloss noch mit einzelnen Personen zu tun. [â¦]

[â¦] Ein Teil der «Verbliebenen» ist in bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen und darf als sesshaft betrachtet werden. In dieser Familie hat sich die Nacherziehung und Fürsorge der Stiftung Pro Juventute besonders augenfällig bemerkbar gemacht.

Alfred Siegfried, Pro Juventute, 19583

Das sogenannte Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» ist ein Programm zur Zwangsassimilierung von «Vagantenfamilien». Dazu wird gezählt, wer jenisch spricht, auch wenn die Familie einen festen Wohnsitz hat und nicht im Wohnwagen durchs Land zieht. Im Fokus stehen primär die einheimischen Jenischen, weil Sinti und Roma bis 1972 die Einreise verweigert wird und sie sich damit gar nicht erst in der Schweiz niederlassen können.

In den Augen des Staates, der Kirche, der Psychiatrie und der Fürsorgeinstitutionen gilt die jenische Identität nicht als Kultur, sondern als sozialer Missstand. Deshalb sollen jenische Kinder angepasst werden. Die Mittel sind zerstörerisch: Kinder werden ihren Eltern weggenommen, Familien auseinandergerissen. Die Vormundschaftsbehörden entmündigen Eltern und platzieren Kinder. Sie befehlen administrative Versorgungen in Zwangsarbeitsanstalten, in psychiatrischen Kliniken und wie im Fall von Mariella Mehr auch in Gefängnissen.4

In Betrieb genommen wird diese Diskriminierungsmaschinerie 1926 von der Stiftung Pro Juventute, die 1912 von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft gegründet wird. Zunächst geht es Pro Juventute um die Bekämpfung von Tuberkulose bei Kindern und Jugendlichen, mit der Zeit weitet die Stiftung ihr Tätigkeitsfeld auf die «Kinder- und Jugendfürsorge» insgesamt aus. Finanziert wird diese Tätigkeit durch Beiträge von Bund, Kantonen und Gemeinden wie auch durch Spenden, Legate und selbst erwirtschaftete Erträge.

Grundlage für Kindswegnahmen bildet das Zivilgesetzbuch ZGB von 1912, vorher sind präventive Eingriffe in die Familie nicht möglich. Einige der von Pro Juventute angewendeten Zwangsmassnahmen gibt es bereits vor 1926, andere über 1973 hinaus.5 Die Stiftung Pro Juventute gibt es heute noch.

Im frühen 20. Jahrhundert stehen sozialdarwinistische und rassenhygienische Theorien hoch im Kurs in Europa und in der Schweiz. Auf sie bezieht man sich im Kampf gegen die Jenischen. Allerdings will die Stiftung Pro Juventute nicht die Menschen ausrotten, wie es diese Theorien in letzter Konsequenz vorsehen, sondern ihre Lebensweise. Für die Betroffenen dürfte es sich trotzdem wie ein Vernichtungsversuch anfühlen.

Wieder ausgeschaltet wird die Assimilierungsmaschine der Stiftung Pro Juventute 1973.6 Zu einer Zeit, in der ein Kulturkampf tobt. Die Jugendbewegung von 1968 stellt bürgerliche Werte infrage. Auf der Strasse riecht es nach Tränengas, Rockkonzerte arten zu Saalschlachten aus. Neue soziale Bewegungen entstehen. Gegen den Krieg, gegen Atomkraft, gegen totalitäre Anstalten wie Jugendheime und gegen Zwang in der Psychiatrie.

Eine Enthüllungsgeschichte im «Schweizerischen Beobachter» deckt die Machenschaften von Pro Juventute auf. Daraufhin wird das «Hilfswerk» aufgelöst. Bis zu diesem Zeitpunkt bemächtigt sich Pro Juventute dreihundert Mädchen und 286 Knaben. Sie werden in Pflegefamilien gesteckt, in Heime, Kliniken und Gefängnisse. Geschwister werden getrennt. Die Eltern werden über das Schicksal ihrer Kinder im Dunkeln gelassen. Wehren sie sich, werden sie weggesperrt. Werden sie krank vor Kummer oder ertränken ihr Leid in Alkohol, werden sie ebenfalls weggesperrt.

Die Entscheide fällen Vormundschaftsbehörden, meistens Laiengremien. Den Antrag an sie stellt grösstenteils Pro Juventute. Aber auch andere Institutionen machen mit, beispielsweise das Seraphische Liebeswerk Luzern.7 Einige katholische Priester setzen sich jedoch auch für die betroffenen Familien ein.

Mehr als die Hälfte aller Kinder stammen aus Familien mit einem Bündner Heimatort. Dazu gehören 84 Waser aus Morissen, 78 Moser aus Obervaz, 23 Huber aus Savognin und 29 Mehr aus Almens8, unter ihnen Christians Grossmutter, seine Mutter und er selbst.

In keinem anderen Kanton wird der Entzug der elterlichen Gewalt öfter beschlossen als in Graubünden. Er verfügt über eine institutionalisierte «Vagantenfürsorge».9 Diese kantonale Behörde arbeitet eng mit der psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur zusammen, wo sich seit dem frühen 20. Jahrhundert verschiedene Ärzte mit den Jenischen beschäftigen und mit ihren Verlautbarungen die wissenschaftlich verbrämte Legitimation für Behördenentscheide liefern.10 Nichtsdestotrotz behauptet der Bündner Regierungsrat Aluis Maissen 1989 in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen, dass es sich «nicht behaupten lasse, dass die Jenischen» in der Churer Klinik «weder in den Stammbäumen noch in den Patientenakten anders behandelt worden wären als die gewöhnlichen Patienten auch».11 Ende der 1980er-Jahre steht die psychiatrische Behandlung der Jenischen in Chur unter massiver Kritik. Und obwohl Maissen dies bestreitet, ist mittlerweile ausreichend belegt, wie Psychiatrie und Behörden in der Diskriminierung von Jenischen zusammengearbeitet haben.

Die Verfolgung verläuft systematisch. Ziel ist es, allen jenischen Familien die Kinder wegzunehmen. Erfolgreich ist Pro Juventute damit indessen nicht. Aus Kapazitätsgründen, aber auch, weil nicht alle Behörden mitmachen. Die involvierten Gemeinden lehnen mehr als die Hälfte aller Gesuche ab. Das führt zu einer Konzentration der Kindswegnahmen: Sechzig Prozent der Kinder stammen aus sieben Familien aus sechs Heimatgemeinden in drei Kantonen. Zwanzig Prozent aller Kinder gehören zur zweiten Opfergeneration. Christian Mehr ist einer von fünf, deren Grosseltern auch schon «versorgt» worden sind.

Auch wenn viele Gemeinden die Zwangsassimilation befürworten, meiden einige die damit verbundenen Kosten. Teilweise lehnen Gemeinden neue Fälle ab, obwohl sie früher in vergleichbaren Situationen der Pro Juventute die Vormundschaft über jenische Kinder zugesprochen hatten.12

Dort allerdings, wo Pro Juventute und Behörden am selben Strick ziehen, werden jenische Familien gnadenlos gehetzt. Und auch jene, die davonkommen, können sich nie sicher sein, nicht doch noch Opfer der Verfolgung zu werden, denn das behördliche Handeln ist unberechenbar.

Auf ihren Leidenswegen lernen die Kinder Heime, Anstalten und mehr als eine Pflegefamilie kennen und fürchten. Häufig kündigt Pro Juventute die Kinder an und redet sie bereits im Vorfeld schlecht. So eilt ihnen ein Ruf voraus, gegen den sie nicht ankommen. Pflegeeltern, Nachbarschaft, Dorfschule, Kirche, Armenfürsorge, Psychiatrie, Erzieherinnen und Ordensschwestern warten auf das «Vagantenbalg».

Die Kinder werden nicht als Individuen behandelt, sondern als soziales Problem. Sie werden entmenschlicht, ihren Eltern und Geschwistern entfremdet, sozial und kulturell entwurzelt - «in gesundes Erdreich verpflanzt», heisst es beschönigend.13

Die Betroffenen wehren sich. Kinder reissen aus und kehren zu ihrer Familie zurück.14 Eltern reisen durch die Schweiz auf der Suche nach ihren Kindern, entführen sie aus Heimen, manchmal mehrmals.15 Andere beschreiten den Instanzenweg. In den allermeisten Fällen vergeblich. In einem einzigen Fall hebt das Bundesgericht den Entzug der elterlichen Gewalt auf, die beiden Kinder bleiben aber im Heim. In den allermeisten Fällen entscheiden letztinstanzlich nicht Gerichte, sondern politische Behörden, meistens der Regierungsrat.16

Jenische Mütter und Väter kämpfen über Jahrzehnte dafür, ihre Kinder wiederzusehen. Teresa Grossmann-Häfeli gehört zu den wenigen, denen es gelungen ist, ihre Kinder ausfindig zu machen. Zu spät allerdings. «Es war nicht mehr dasselbe», seufzt sie 1991 in dem preisgekrönten Dokumentarfilm «Die letzten freien Menschen» von Oliver Matthias Meyer. «Sie waren mir fremd und ich ihnen. Das Band war gerissen.»17

Teresa Grossmann setzt sich ihr Leben lang für die Rechte der Jenischen ein. Sie war vier Jahre alt, als sie ihren Eltern weggenommen wurde. «Meine Eltern haben erzählt, ich hätte mordio geschrien, weil ich nicht mitwollte. Es sind zwei Polizisten...
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Autor

Michael Herzig, geboren 1965 in Bern, lebt in Zürich und im Jura. Er hat Geschichte und Betriebswirtschaft studiert, war Drogenbeauftragter der Stadt Zürich, leitete während zehn Jahren sozialmedizinische Einrichtungen für marginalisierte Menschen und arbeitet heute als Dozent für Soziale Arbeit, freischaffender Autor und Organisationsberater. Er hat vier Krimis und einen Roman veröffentlicht sowie Kurzgeschichten, Hörspiele, Drehbücher und Nichtfiktionales geschrieben. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet.