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Das Lazarus-Projekt

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
352 Seiten
Deutsch
Ullstein Taschenbuchvlg.erschienen am01.02.2024Auflage
Ein virtuos erzählter Roadtrip zu den eigenen Wurzeln  1908 wird in Chicago der junge osteuropäische Einwanderer Lazarus Averbuch, ein vermeintlicher Anarchist, vom Polizeipräsidenten aus nächster Nähe erschossen. Hundert Jahre später will der bosnisch-amerikanische Schriftsteller Brik die Wahrheit über diesen angeblichen Anarchisten ans Licht bringen. Mit seinem Freund Rora macht er sich auf den Weg in die Heimat von Lazarus - ihre Reise wird zu einer Suche nach den eigenen Wurzeln. Eine lakonisch und höchst unterhaltsam erzählte Geschichte über politische Hysterie, Heimatlosigkeit und geplatzte Träume. Und die Geschichte einer Männerfreundschaft, die ihresgleichen sucht. 

Aleksandar Hemon wurde 1964 in Sarajevo geboren. 1992 hielt er sich im Rahmen eines Kulturaustauschs in den USA auf, als er von der Belagerung seiner Heimatstadt erfuhr. Er beschloss, im Exil zu bleiben. Seit 1995 schreibt er auf Englisch und veröffentlicht regelmäßig unter anderem in «The New Yorker», «Granta» und «The Paris Review». Sein Erzählband «Die Sache mit Bruno» erschien 2000, 2002 folgte der Roman «Nowhere Man», der für den «National Book Critics Circle Award» nominiert war. Die MacArthur Foundation zeichnete Hemon 2004 mit dem «Genius Grant» aus. Spätestens seit seinem international gefeierten Roman «Lazarus», der in Deutschland auf der Shortlist des Internationalen Buchpreises 2009 stand, gehört er zu den meist beachteten Stimmen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. 2013 erschien «Das Buch meiner Leben». Hemon lebt mit seiner Familie in Chicago.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,99
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextEin virtuos erzählter Roadtrip zu den eigenen Wurzeln  1908 wird in Chicago der junge osteuropäische Einwanderer Lazarus Averbuch, ein vermeintlicher Anarchist, vom Polizeipräsidenten aus nächster Nähe erschossen. Hundert Jahre später will der bosnisch-amerikanische Schriftsteller Brik die Wahrheit über diesen angeblichen Anarchisten ans Licht bringen. Mit seinem Freund Rora macht er sich auf den Weg in die Heimat von Lazarus - ihre Reise wird zu einer Suche nach den eigenen Wurzeln. Eine lakonisch und höchst unterhaltsam erzählte Geschichte über politische Hysterie, Heimatlosigkeit und geplatzte Träume. Und die Geschichte einer Männerfreundschaft, die ihresgleichen sucht. 

Aleksandar Hemon wurde 1964 in Sarajevo geboren. 1992 hielt er sich im Rahmen eines Kulturaustauschs in den USA auf, als er von der Belagerung seiner Heimatstadt erfuhr. Er beschloss, im Exil zu bleiben. Seit 1995 schreibt er auf Englisch und veröffentlicht regelmäßig unter anderem in «The New Yorker», «Granta» und «The Paris Review». Sein Erzählband «Die Sache mit Bruno» erschien 2000, 2002 folgte der Roman «Nowhere Man», der für den «National Book Critics Circle Award» nominiert war. Die MacArthur Foundation zeichnete Hemon 2004 mit dem «Genius Grant» aus. Spätestens seit seinem international gefeierten Roman «Lazarus», der in Deutschland auf der Shortlist des Internationalen Buchpreises 2009 stand, gehört er zu den meist beachteten Stimmen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. 2013 erschien «Das Buch meiner Leben». Hemon lebt mit seiner Familie in Chicago.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783843731140
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum01.02.2024
AuflageAuflage
Seiten352 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4946 Kbytes
Artikel-Nr.12579481
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Zeit und Ort sind die einzigen Dinge, deren ich mir sicher bin: 2.âMärz 1908, Chicago. Alles andere liegt im Dunst der Geschichte und des Schmerzes, und jetzt stürze ich mich kopfüber hinein.

Früh am Morgen klingelt ein dürrer junger Mann an der Haustür von 31 Lincoln Place, dem Wohnsitz von George Shippy, dem allseits geachteten und gefürchteten Polizeipräsidenten von Chicago. Das Hausmädchen, deren Name als Theresa verzeichnet ist, öffnet die Tür (die sicher bedrohlich knarrt), mustert den jungen Mann, von den schmutzigen Schuhen bis zum dunklen Gesicht, und grinst, wie um zu sagen, er sollte tunlichst einen guten Grund dafür haben, dass er hier steht. Der junge Mann verlangt, Chief Shippy persönlich zu sprechen. Mit ihrem strengen deutschen Akzent teilt ihm Theresa mit, dass es noch viel zu früh sei und Chief Shippy vor neun Uhr niemanden empfange. Er dankt ihr lächelnd und verspricht, um neun wiederzukommen. Seinen Akzent vermag sie nicht einzuordnen; sie wird Shippy warnen, dass der Ausländer, der ihn sprechen will, einen höchst fragwürdigen Eindruck mache.

Der junge Mann steigt die Treppe hinab und öffnet das Tor (das ebenfalls bedrohlich knarrt). Er schiebt die Hände in die Taschen, doch dann zieht er seine Hose hoch - sie ist ihm noch immer zu groß. Er schaut nach rechts, er schaut nach links, als müsse er sich entscheiden. Der Lincoln Place ist eine andere Welt; die Häuser hier sind wahre Schlösser, die Fenster hoch und breit; auf den Straßen sind keine Bettler; es ist überhaupt niemand auf der Straße. Die eisverkrusteten Bäume funkeln im trüben Morgenlicht; ein unter der Eislast gebrochener Ast berührt das Pflaster und lässt seine gefrorenen Zweige klirren. In dem Haus auf der anderen Straßenseite späht jemand hinter einem Vorhang hervor, das Gesicht aschgrau vor dem dunklen Raum dahinter. Es ist eine junge Frau: Er lächelt ihr zu, und sie zieht hastig den Vorhang zu. All die Leben, die er leben könnte, all die Menschen, die er nie kennen, die er nie sein wird, sie sind überall. Das ist die Welt, mehr nicht.

Seit einiger Zeit peinigt der Spätwinter genussvoll die Stadt. Der reine Schnee des Januars und die spartanische Kälte des Februars sind vorbei, und jetzt steigen scheinheilig die Temperaturen, um dann böswillig wieder zu fallen: das Gift jäher Eisstürme, die erschöpften Körper, die verzweifelt auf den Frühling warten, die vielen nach Ofenrauch stinkenden Kleider. Die Füße und Hände des jungen Mannes sind eiskalt, er bewegt die Finger in den Hosentaschen, und bei jedem zweiten Schritt stellt er sich auf die Fußspitzen, als tanze er, um den Kreislauf in Gang zu halten. Er ist seit sieben Monaten in Chicago und hat die meiste Zeit gefroren - die spätsommerliche Hitze ist nur noch eine Erinnerung an einen anderen Albtraum. An einem launisch warmen Tag im Oktober war er mit Olga an dem flechtenfarbenen See, der jetzt dick zugefroren ist, und sie schauten wie gebannt auf die rhythmische Ruhe der herankommenden Wellen und dachten an all das Gute, das eines Tages geschehen könnte. Der junge Mann setzt sich in Richtung Webster Street in Bewegung und macht einen Bogen um den herabhängenden Ast.

Die Bäume hier werden mit unserem Blut gegossen, würde Isador sagen, die Straßen mit unseren Knochen gepflastert; sie verspeisen unsere Kinder zum Frühstück und werfen die Reste in den Abfall. Die Webster Street ist erwacht: In bestickte Lammfellmäntel gehüllte Frauen steigen vor ihren Häusern in Automobile und neigen vorsichtig die Köpfe, um ihre riesigen Hüte zu schützen. Männer in makellosen Galoschen schwingen sich nach den Frauen hinein, ihre Manschettenknöpfe glitzern. Isador behauptet, er suche gern die überirdischen Orte auf, an denen Kapitalisten wohnen, um dort die heitere Ruhe des Wohlstands zu genießen, die von Bäumen gesäumte Stille. Doch um zornig zu sein, kehrt er in die Ghettos zurück; dort ist man immer dem Lärm und der Unordnung nahe, immer in Gestank getaucht, dort ist die Milch sauer und der Honig bitter, sagt er.

Ein riesiges Automobil, keuchend wie ein gereizter Stier, überfährt beinahe den jungen Mann. Die Pferdekutschen sehen aus wie Schiffe, die Pferde sind stämmig, gepflegt und folgsam. Die elektrischen Straßenlaternen brennen noch und spiegeln sich in den Schaufensterscheiben. In einer der Auslagen führt eine kopflose Schneiderpuppe stolz ein zartes weißes Kleid mit schlaff herabhängenden Ärmeln vor. Er bleibt davor stehen, die Puppe steht reglos wie ein Denkmal. Ein Mann mit Eichhörnchengesicht und Kraushaar, der auf einer erkalteten Zigarre herumkaut, stellt sich neben ihn, fast berühren sich ihre Schultern. Der Geruch seines Körpers: feucht, verschwitzt, nach muffigen Kleidern. Der junge Mann stampft mit beiden Füßen auf, damit die Blasen, die er von Isadors Schuhen bekommen hat, nicht so schmerzen. Er denkt daran, wie seine Schwestern zu Hause vor Freude kichernd ihre neuen Kleider anprobierten. An die Abendspaziergänge in Kischinjow; er war stolz und eifersüchtig, weil gut aussehende junge Burschen seinen Schwestern auf der Promenade zulächelten. Es gab ein Leben vor diesem hier. Zuhause ist dort, wo jemand merkt, dass du nicht mehr da bist.

Dem Sirenenduft von warmem Brot folgend, betritt er ein Lebensmittelgeschäft an der Kreuzung Clark und Webster - Ludwig´s Supplies nennt sich der Laden. Sein Magen knurrt so laut, dass Mr. Ludwig von der Zeitung auf der Theke aufschaut und ihn stirnrunzelnd ansieht, während er sich an die Hutkrempe tippt. Die Welt ist immer größer als deine Wünsche; auch viel ist nie genug. Seit Kischinjow ist der junge Mann in keinem so reich bestückten Laden mehr gewesen: Würste, die wie gekrümmte Finger an hohen Regalen hängen; Fässer mit Kartoffeln, die streng nach Lehm riechen; Glaskrüge mit eingelegten Eiern, aufgereiht wie Präparate in einem Labor; Keksschachteln, auf die das Leben ganzer Familien aufgedruckt ist: glückliche Kinder, lächelnde Frauen, gesetzte Männer; gestapelte Sardinenbüchsen; eine Rolle Pergamentpapier, wie eine dicke Thora; eine kleine Waage in selbstbewusstem Gleichgewicht; eine an einem Regal lehnende Leiter, das obere Ende hoch oben im dämmrigen Ladenhimmel. In Mr. Mandelbaums Laden waren die Bonbons auch hoch oben im Regal, damit die Kinder sie nicht erreichten. Warum beginnt der jüdische Tag bei Sonnenuntergang?

Das sehnsüchtige Pfeifen eines Teekessels im Hinterzimmer verkündet den Auftritt einer fleischigen Frau mit einem Haarkranz. Sie trägt einen knorrigen Laib Brot, hält ihn sorgsam im Arm wie ein kleines Kind. Rosenbergs verrückte Tochter, von den Pogromtschiks vergewaltigt, lief hinterher tagelang mit einem Kissen in den Armen herum; sie versuchte immer wieder, es zu stillen, und die Jungen blieben ihr auf den Fersen, in der Hoffnung, eine jüdische Titte zu sehen. «Guten Morgen», sagt die Frau zögernd und wechselt einen Blick mit ihrem Mann - sie sind sich einig, dass man den Kunden nicht aus den Augen lassen darf. Der junge Mann lächelt und gibt vor, sich für etwas im Regal zu interessieren. «Kann ich Ihnen helfen?», fragt Mr. Ludwig. Der junge Mann sagt nichts; die beiden sollen nicht merken, dass er Ausländer ist.

«Guten Morgen, Mrs. Ludwig, Mr. Ludwig», sagt ein Mann, der in den Laden kommt. «Wie geht´s?» Das Glöckchen klingelt noch weiter, während der Mann mit heiserer, müder Stimme spricht. Er ist alt und hat trotzdem keinen Schnurrbart; ein Monokel baumelt über seinem Bauch. Er lüftet den Hut vor Mrs. und Mr. Ludwig und ignoriert den jungen Mann, der ihm zunickt. Mr. Ludwig fragt: «Wie geht es Ihnen, Mr. Noth? Was macht die Grippe?»

«Meiner Grippe geht´s recht gut, danke. Ich wollte, ich könnte dasselbe von mir sagen.» Mr. Noths Gehstock ist krumm. Sein Schlips ist aus Seide, aber fleckig; der junge Mann kann seinen Atem riechen - irgendetwas verfault in seinem Innern. Ich werde nie sein wie er, denkt der junge Mann. Er entfernt sich von dem Geplauder und geht zu der Tafel neben der Ladentür, um die daran aufgespießten Zettel zu lesen.

«Ich könnte ein bisschen Kampfer gebrauchen», sagt Mr. Noth. «Und einen neuen, jungen Körper.»

«Körper sind aus», sagt Mr. Ludwig. «Aber Kampfer haben wir da.»

«Keine Sorge», kichert Mrs. Ludwig. «Dieser Körper wird Ihnen noch lange gute Dienste leisten.»

«Ich danke Ihnen, Mrs. Ludwig», sagt Mr. Noth. «Aber bitte sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie frische Körper hereinbekommen.»

Nächsten Sonntag im Bijou, liest der junge Mann, Joe Santley in der Titelrolle von Billy the Kid. Der Illinois Congress of Mothers veranstaltet ein Symposium über den «Moralischen Einfluss des Lesens»; im Yale Club hält Dr. Hofmannstal einen Vortrag über «Formen der Degeneration: Körper und Moral».

Das Glas mit dem Kampfer und den Hut in der linken Hand, müht sich Mr. Noth, mit der rechten die Tür zu öffnen, wobei der Stock auf seinem Unterarm auf und ab rutscht. Mrs. Ludwig eilt herbei, um ihm zu helfen, noch immer mit dem Brot auf dem Arm, aber der junge Mann ist vor ihr an der...
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Autor

Aleksandar Hemon wurde 1964 in Sarajevo geboren. 1992 hielt er sich im Rahmen eines Kulturaustauschs in den USA auf, als er von der Belagerung seiner Heimatstadt erfuhr. Er beschloss, im Exil zu bleiben. Seit 1995 schreibt er auf Englisch und veröffentlicht regelmäßig unter anderem in «The New Yorker», «Granta» und «The Paris Review». Sein Erzählband «Die Sache mit Bruno» erschien 2000, 2002 folgte der Roman «Nowhere Man», der für den «National Book Critics Circle Award» nominiert war. Die MacArthur Foundation zeichnete Hemon 2004 mit dem «Genius Grant» aus. Spätestens seit seinem international gefeierten Roman «Lazarus», der in Deutschland auf der Shortlist des Internationalen Buchpreises 2009 stand, gehört er zu den meist beachteten Stimmen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. 2013 erschien «Das Buch meiner Leben». Hemon lebt mit seiner Familie in Chicago.