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Gegend Entwürfe 4

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
180 Seiten
Deutsch
GEGEND ENTWÜRFE ist Lesebuch für und aus Rheinland-Pfalz und spiegelt seit 2018 die literarische Szene eines gerne mal unterschätzten Bundeslandes. Der vorliegende vierte Band versammelt Geschichten, Gedichte, Essays, Drehbuchfragmente, Fotografien und Produkte Künstlicher Intelligenzen von Sarah Beicht, Daniel Borgeldt, Monika Böss, Daniela Dröscher, Boris Eldagsen, Heiner Feldhoff, Elena Fischer, Volker Gallé, Dietmar Gaumann, Finn Holitzka, Myriam Keil, Annika Kemmeter, Ute-Christine Krupp, Root Leeb, Christoph Peters, Edgar Reitz, Guido Schulz, Tijan Sila, Wolfgang Sofsky, Sophie Stein, Florian Valerius, Julia Weber und Artem Zolotarov. Herausgegeben wird die Anthologie im Auftrag des Ministeriums für Familie, Frauen, Kultur und Integration Rheinland-Pfalz.mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR23,90
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextGEGEND ENTWÜRFE ist Lesebuch für und aus Rheinland-Pfalz und spiegelt seit 2018 die literarische Szene eines gerne mal unterschätzten Bundeslandes. Der vorliegende vierte Band versammelt Geschichten, Gedichte, Essays, Drehbuchfragmente, Fotografien und Produkte Künstlicher Intelligenzen von Sarah Beicht, Daniel Borgeldt, Monika Böss, Daniela Dröscher, Boris Eldagsen, Heiner Feldhoff, Elena Fischer, Volker Gallé, Dietmar Gaumann, Finn Holitzka, Myriam Keil, Annika Kemmeter, Ute-Christine Krupp, Root Leeb, Christoph Peters, Edgar Reitz, Guido Schulz, Tijan Sila, Wolfgang Sofsky, Sophie Stein, Florian Valerius, Julia Weber und Artem Zolotarov. Herausgegeben wird die Anthologie im Auftrag des Ministeriums für Familie, Frauen, Kultur und Integration Rheinland-Pfalz.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783948373535
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum24.10.2023
Seiten180 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2746 Kbytes
Artikel-Nr.12606912
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

WOLFGANG SOFSKY
HEIMAT. EINE UNPOLITISCHE BETRACHTUNG

Das Wort Heimat" ist zum Kampfbegriff verkommen. Einige sehen sie bedroht, durch die Zerstörung der Landschaft, den Ruin der Sprache, die Massenzuwanderung von Fremden. Andere wittern bei dem Wort reaktionäre Bestrebungen und inkorrekte Gedanken, warnen vor der Wiederkehr chauvinistischer Parolen und nationaler Sonderwege. Es ist daher nützlich, sich abseits der Scharmützel um die Heimatfront dessen zu vergewissern, was es mit der Heimat auf sich hat.

Heimat ist, wovon der Mensch ausgeht und wohin er zurückkehrt. Wiege und Bahre stehen in der Heimat. Auch in Zeiten globaler Migration ist Heimat nicht antiquiert. Die Unzahl Heimatloser bestätigt nur deren Bedeutung. Für viele Menschen ist die Heimat der Anfangs- und Endpunkt ihres Lebens, nicht selten auch der Haltepunkt, wo sie bleiben oder den sie immer wieder aufsuchen. Immer jedoch ist Heimat der Nullpunkt, von dem aus die Koordinaten hinaus in die Welt weisen. Heimat ist mehr als ein Fleck auf der Oberfläche des Globus. Wo jemand zufällig ist, da ist der Ort seines Aufenthalts. Wo er eine Zeitlang ausharrt, da hat er seinen Wohnsitz.

Doch woher er kommt und wohin es ihn zurückzieht, da ist seine Heimat.

Dinge und Raum

Als Terrain des Ursprungs bedeutet Heimat zunächst einen Raum primärer Erfahrung, ein Gebiet von variabler Ausdehnung, aber unübersehbarer Grenzen. Zu Hause - das kann die Ecke mit der Schlaf- und Kochstelle sein, die Wohnung im Block, das Haus mit Garten, das Dorf, das Großstadtquartier, die Kneipe, der Kirchturm, die Schule, das Stadion, der angestammte Arbeitsplatz an der Fräsmaschine, die Landschaft ringsum, der Badesee, der Weinberg, die Wald- und Holzwege. Die meisten dieser Territorien sind durch Zeichen und Grenzen markiert. Sie trennen das Vertraute vom Bekannten, Ungewissen, Fremden. Zugang durch die Hauswände gewährt nur die Tür. Das Grundstück ist umzäunt, das Viertel endet an der Bahnlinie oder Autoschneise, die Region am Gebirge oder am großen Fluss. Auch wenn man die Gegend jenseits der Grenze kennt, ihr fehlt das Unbefragte, das Vertraute, das sich ganz und gar von selbst versteht. Zuhause bedarf es keiner Erkundigung, keines Blicks aufs Navigationsgerät.

Dem Territorium entsprechen die Dinge des Sinnfeldes. Heimat ist eine physische Tatsache. Sie garantiert sichere Bewegung und rasches Handeln. Heimat ist einverleibte Umwelt. Dazu gehören das Kopfkissen, der Lieblingsteller, der Duft des Sonntagsbratens, der Geschmack der Madeleine, aber auch der Krach der Maschinenfabrik nebenan, der Düsenjets am Himmel, das Pflaster der Straßen, das man unter den Füßen hat, der Radweg hinauf zum Fernsehturm.

Der Mensch trägt die Heimat in sich und mit sich, als Schema leiblicher Motorik und Sensorik. Eindrücke können Jahre später leicht erinnert werden, und manchmal tauchen sie von selbst auf, im Tagtraum, in der Nacht, als Heimatreste in der Fremde.

Gewohnheit und Affekt

Daheim zu sein ist ein Zustand blinder Vertrautheit. Für das Handeln genügen die Routinen, das praktische Wissen, wie etwas zu tun ist. Die Gewohnheiten bedürfen keiner Reflexion. Traditionen, Gebräuche, Sitten entlasten von der Prüfung, was jeweils der Fall ist. Man benötigt keine Pläne, keine Normen und Ziele, muss nicht nach Lösungen suchen, weil sich Probleme gar nicht stellen. Es ist ein natürliches Wissen unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle.

Änderungen sind selten und werden entweder prompt abgewehrt oder lösen Alarm aus. Sonst wird einfach unterstellt, dass alles so weitergeht wie bisher, dass man das, was man kann, auch in Zukunft vermag, und dass die Dinge in ihrer Substanz das bleiben, was sie gewesen sind. Der Sinn für Zeit und Geschichte ist wenig entwickelt. Wechsel sind unerwünscht. Heimat ist das, was immer schon war und das bleiben soll, was es war. Darin liegt der Konservativismus, welcher dem Leben in der Heimat meist innewohnt.

Als Ort der Vertrautheit entlastet Heimat von Angst. Dennoch ist Heimat keine Idylle. Das flüsternde Bächlein im Wiesengrund, das Röslein im Garten, die weinroten Winden, die um zirpende goldene Stängel sich schmiegen, derlei Verklärungen entstammen einer Vergangenheit, die nie existiert hat. Die literarische Heimat ist lediglich Literatur. Die Gesellschaft der Tagelöhner, Kleinbauern und Handwerker war alles andere als beschaulich. Auch die Kindheit in der Mietskaserne, im Hinterhof, im Armenviertel entspricht kaum dem sentimentalen Bild des trauten Heims. Dennoch kennen auch die Unterklassen starke Bindungen an ihre Heimat. Noch an die dürftigsten Verhältnisse vermag der Mensch sich zu gewöhnen.

Oft löst die Heimat zwiespältige, ja konträre Gefühle aus. Da ist die Erleichterung, der Genuss der Ruhe in sicherer Enklave. Da sind die Freuden der Gewissheit, die Liebe zu den bewahrten Dingen und Personen, das Gefühl wohnlicher Geborgenheit, der traulichen Enge, der Zugehörigkeit zu einer ehernen Welt, deren Mittelpunkt die Person selbst ist. Aber da ist auch die Aversion gegen das Alte, gegen die Bedrückung und Bedrängnis, die einem den Atem raubt, die Wut gegen die Schranken, die Neugier auf die Welt, die Lust aufs Abenteuer, der Drang hinaus, der Hunger nach Erfahrung, nach Freiheit.

Aber Heimat steht nicht zur Wahl. So wie Menschen nicht über ihre Geburt verfügen, so wenig ist ihnen freigestellt, über ihre Heimatwelt zu bestimmen. Die Rede von einer Wahlheimat suggeriert nur, man könne sich eine Heimat selbst einrichten. In die Heimat wird man hineingeboren, sie umgibt einen vom ersten Atemzug. Was sich in Hirn und Haut einprägt, was sich als Gewohnheit und Sitte sedimentiert, das wird nicht als Ergebnis eigenen Handelns erlebt, sondern als Gegebenheit, wenn nicht als Widerfahrnis.

Heimat ist vorgegeben, auferlegt. Sie ist ein Ort der Sicherheit, nicht der Freiheit. Gewiss kann man sich zu Hause zurücklehnen und den Blick aus dem Eckfenster genießen. Im Reich der Wiederholung kann man die Gedanken schweifen lassen; die Notwendigkeiten des Überlebens sind für einen Moment vergessen. Doch ist diese Entlastung nicht mit Wahlfreiheit zu verwechseln. Gewohnheiten erzeugen immer nur die Kopien ihrer selbst.

Die Einheimischen

Neben dem Sach- und Weltverhältnis hat Heimat eine soziale Bedeutung. Heimat ist keine Privatangelegenheit, sondern eine soziale Tatsache. Sie umfasst einen Kreis vertrauter Personen, der sich von anderen Gruppen abhebt. Hierzu gehören diejenigen, denen man regelmäßig wiederbegegnet, in Familie und Verwandtschaft, die Freunde, Nachbarn, Kollegen, Kumpel und Kumpane. Von der unmittelbaren Intimität über die vertrauten Nähkreise bis zu den bekannten Gesichtern im Supermarkt, im Café, der Firma reicht dieses soziale Feld. Jenseits der Grenze beginnt die Anonymität der Fremden. Auch wem man nur stumm jeden Morgen zugenickt hat, gilt als Einheimischer. Man vermisst ihn, wenn er plötzlich verschwunden ist. Sogar die Toten auf dem Friedhof gehören, obwohl sie nur noch in Gedanken gegenwärtig sind, zur heimischen Gesellschaft. Keineswegs beschränkt sich die soziale Heimat auf die Primärgruppe. Sie findet ein stabiles Fundament in Institutionen und Organisationen: in Ehe und Familie, im Kindergarten und in der Schule, der Peergroup, der Kirchengemeinde, dem Heimatverein, Ortsverband, dem Sportclub.

Regelmäßige Begegnungen erzeugen soziale Bande, die über bloße Zugehörigkeit hinausweisen. Das Gefühl heimatlicher Verbundenheit beruht nicht auf Kontrakt, Kalkül, Strategie, sondern auf dem Alltag einer Lebensform. Der Einheimische ist kein Mitglied . In die heimische Gesellschaft tritt niemand ein so wie jemand einer Partei, Sekte oder Gemeinde beitritt. Hier teilt man dieselbe Sprache, die Mundart, die lokalen Gepflogenheiten beim Essen, Trinken, Reden, Denken, Glauben, die verbindlichen Vorlieben für Kleidung, Abzeichen, Idole und Überzeugungen. Nachahmung und Ähnlichkeit sind der Kitt dieser sozialen Welt, nicht Werte, Normen oder Leitregeln. Recht und Verfassung stiften keine Heimat. Vielmehr sorgen eingeübte Gemeinsamkeiten für das exklusive Wir . Der Grad der Teilhabe an Mentalität und Lebensstil mag variieren, doch jeder Einheimische kennt die Grenzen, die ihn von Außenseitern oder Fremden trennen. Wer anders redet, anders aussieht, anders denkt, der gehört nicht dazu, gehört nicht zu dem Kollektiv, in dem sich die Einheimischen vereint wissen. Das Gefühl der Trennung ist gegenseitig. Die Fremden fühlen sich ihrerseits fremd, weil sie die Welt der Etablierten nicht teilen, weil sie eine andere Heimat haben, in der sie sich mit anderen Menschen verbunden fühlen.

Aus Sicht des Wir gehören alle anderen Menschen zum Bereich des Ihr oder Sie . Man kennt sie nicht persönlich, sondern nur als Typus, als Zeitgenossen. Auch Landsleute rechnen nicht zu den Einheimischen. Mit den Friesen, Sachsen oder Schwaben teilen Pfälzer keine Heimat. Weder Volk noch Nation sind Heimatbegriffe. Der Normalzustand von Gesellschaft ist das Nebeneinander, Übereinander oder Gegeneinander...
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