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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Matthes & Seitz Berlin Verlagerschienen am02.11.20231. Auflage
Mit ebenso scharfem Blick wie Verstand, einer Vorliebe für das Wider- und Hintersinnige und einer unbändigen Sehnsucht nach Wahrheit wagt sich Annie Dillard an Fragen kosmischen Ausmaßes wie: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Und was zum Himmel machen wir hier überhaupt? Auf der Suche nach Antworten folgt sie dem jesuitischen Paläontologen Teilhard de Chardin in die chinesische Wüste, beschreibt die ekstatischen Gotteserfahrungen des chassidischen Judentums, die regelhafte Bandbreite menschlicher Geburtsfehler, die Heerschar von Terrakotta-Soldaten, die das Grab des chinesischen Kaisers Shihuangdi bewachen, das schwindelerregende Schauspiel der Wolken ebenso wie das epische Drama bei der Entstehung von Sand. So entlegen die Schauplätze und so disparat die Themen auf den ersten Blick scheinen, beschwört Annie Dillard nichts Geringeres als die gewaltig-gewalttätige Großartigkeit all dessen herauf, was sich unserem Verständnis auf verstörende Weise entzieht. In der Zwischenzeit ist ein Buch wie ein langes Gebet, eine unerschrockene Meditation über Leben und Tod, Gut und Böse, Glauben und Wissen, ein Buch, das unsere Fähigkeit schult, Wunder in den abgelegensten - und oft auch abgründigsten - Winkeln der Welt zu entdecken.

Annie Dillard, geboren 1945 in Pittsburgh, Pennsylvania, als Tochter eines Industriellen, ist Dichterin und Essayistin. Ihr Anglistikstudium beschloss sie mit einer Arbeit über Henry David Thoreaus Lebenszyklus Walden. Seither hat sie sich, der Tradition der Transzendentalisten folgend, in zahlreichen Texten mit den Themen Natur und Spiritualität befasst. Für ihre Werke erhielt sie zahlreiche Preise und Ehrendoktorwürden, zuletzt der National Humanities Medal. Ihre zu einer Chronik der Jahreszeiten verdichteten Aufzeichnungen aus den Bergen Virginias sind 1974 unter dem Titel Pilgrim at Tinker Creek erschienen und wurde mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR25,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR18,99

Produkt

KlappentextMit ebenso scharfem Blick wie Verstand, einer Vorliebe für das Wider- und Hintersinnige und einer unbändigen Sehnsucht nach Wahrheit wagt sich Annie Dillard an Fragen kosmischen Ausmaßes wie: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Und was zum Himmel machen wir hier überhaupt? Auf der Suche nach Antworten folgt sie dem jesuitischen Paläontologen Teilhard de Chardin in die chinesische Wüste, beschreibt die ekstatischen Gotteserfahrungen des chassidischen Judentums, die regelhafte Bandbreite menschlicher Geburtsfehler, die Heerschar von Terrakotta-Soldaten, die das Grab des chinesischen Kaisers Shihuangdi bewachen, das schwindelerregende Schauspiel der Wolken ebenso wie das epische Drama bei der Entstehung von Sand. So entlegen die Schauplätze und so disparat die Themen auf den ersten Blick scheinen, beschwört Annie Dillard nichts Geringeres als die gewaltig-gewalttätige Großartigkeit all dessen herauf, was sich unserem Verständnis auf verstörende Weise entzieht. In der Zwischenzeit ist ein Buch wie ein langes Gebet, eine unerschrockene Meditation über Leben und Tod, Gut und Böse, Glauben und Wissen, ein Buch, das unsere Fähigkeit schult, Wunder in den abgelegensten - und oft auch abgründigsten - Winkeln der Welt zu entdecken.

Annie Dillard, geboren 1945 in Pittsburgh, Pennsylvania, als Tochter eines Industriellen, ist Dichterin und Essayistin. Ihr Anglistikstudium beschloss sie mit einer Arbeit über Henry David Thoreaus Lebenszyklus Walden. Seither hat sie sich, der Tradition der Transzendentalisten folgend, in zahlreichen Texten mit den Themen Natur und Spiritualität befasst. Für ihre Werke erhielt sie zahlreiche Preise und Ehrendoktorwürden, zuletzt der National Humanities Medal. Ihre zu einer Chronik der Jahreszeiten verdichteten Aufzeichnungen aus den Bergen Virginias sind 1974 unter dem Titel Pilgrim at Tinker Creek erschienen und wurde mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783751860017
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum02.11.2023
Auflage1. Auflage
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse7443 Kbytes
Artikel-Nr.12648467
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

ZWEITES KAPITEL

GeburtIn dem Buch Memoirs of a Cape Breton Doctor wird neben vielen anderen dramatischen Ereignissen die Entbindung eines quer liegenden Kindes geschildert. »Ich kümmerte mich um das Kind [...]. Ich glaube, am meisten Sorge machte mir die Tatsache, dass ich es so lange künstlich beatmen musste. Ich habe nicht darauf geachtet, wie lange die Mund-zu-Mund-Beatmung dauerte, aber ich weiß noch, dass ich die letzten paar Minuten dachte, es sei zwecklos. Doch ich machte weiter und wurde zu guter Letzt belohnt, als Anna MacRae aus Middle River in Victoria County zum Leben erwachte.« Sie erwachte zum Leben. Erst war sie ein blaues, babyförmiges Zellbündel in Dr. C. Lamont MacMillans Händen und dann ein Mensch mit einem Namen und einem Geburtstag, wie wir alle. Als Erbgut bekam sie, wie wir alle, genau eine von 8,4 Millionen möglichen Kombinationen der Gene ihrer Mutter und ihres Vaters mit. Anna MacRae erwachte am 1. Dezember 1931 zum Leben. Wie viele hundert Jahre müsstest du alt werden, um das Staunen über dieses und tausend ähnliche tagtägliche Ereignisse zu verlernen?

Wir befinden uns in einem städtischen Krankenhaus an einem Montagmorgen. Dies ist die Entbindungsstation. Die Ärzte, Schwestern und Pfleger tragen rote, blaue oder grüne Kittel und weiße Turnschuhe. Die Schildchen an ihren Brusttaschen weisen sie als Geburtshelfer, Gynäkologin, Kinderarzt, Lernschwester und Kinderschwester aus. Sie konsultieren einander im Vorübergehen. Sie haben Klemmbretter in der Hand und eilen Flure entlang. Sie drücken Knöpfe mit Zahlen an Wandtafeln, und Türen öffnen sich.

Es könnte gut einen gestrengen Engel geben, der diese Station bewacht, oder einen Drachen oder eine hoch aufschäumende Meeresströmung, die Schiffe an Felsen zerschmettert. Es könnte gut ein altes Hügelgrab auf dem Flur bei den Fahrstühlen geben oder einen Brunnen oder eine verfallene Kirchenmauer, wo die Leute noch Glocken hören. Sollten wir nicht die Schuhe ausziehen, Elixiere trinken, Waschungen vollziehen? Denn dies hier ist gewiss der wildeste Tiefseeschlot auf Erden: Wir sind an dem Ort, wo die Menschen auf die Welt kommen.

Hier auf der Entbindungsstation gibt es ein kleines Zimmer mit einer Doppelspüle - ein Chromwasserhahn und zwei Waschbecken mit Abfluss, wie in einer gewöhnlichen Einbauküche. Links und rechts je eine lange Wickelfläche. Darüber hängt eine lange Wärmelampe, die beide Flächen und das Waschbecken beleuchtet und beheizt.

Hier werden die Neugeborenen gewaschen wie Geschirr. Eine Schwester, mal die eine, mal die andere, verbringt den größten Teil ihrer Achtstundenschicht an diesem Waschbecken.

Andere Schwestern bringen die Neugeborenen herein, eins nach dem andern, und legen sie auf die Wickelfläche links vom Waschbecken. Die Neugeborenen sind in Flanelltücher gehüllt. Teetassengroße Strickmützchen verrutschen ständig auf den nassen Köpfchen. Die Gesichter haben alle Farben von Violett über Rot zu Rosa und Beige.

Schwester Pat Eisberg trägt ihre lockigen blonden Haare hinten kurz; als sie sich nach dem nächsten Bündel zur Linken umdreht, beugt sich ihr schlanker Hals aus einem kragenlosen blauen Kittel. Das Gesicht des Neugeborenen ist rot.

»Jetzt du«, sagt sie mit freundlicher Stimme und ernster Miene zu ihm. Sie zieht es zu sich heran, nimmt ihm das Mützchen ab, wickelt es aus und lässt das Flanelltuch unter ihm liegen. Dieses Kind ist am ganzen Leib rot. Sein Kaulquappenbauch ist rot; sein pflaumengroßer Hodensack ist so hochrot, dass man meint, er werde gleich explodieren. Sein Kopf sieht aus wie eine Eselskappe; der Junge hat einen sogenannten Spitzschädel. In den Armen der Schwester blickt er aufmerksam umher. Die helle Wärmelampe scheint seine Augen nicht zu irritieren, ebenso wenig wie die Silbernitrattropfen gegen Gonorrhö. Sein zwei Finger breites Namensarmband aus Plastik bedeckt seinen Unterarm zu gut einem Drittel. Irgendwer hat ihm seine blaue Nabelschnur - das noch verbliebene fünf Zentimeter lange Stück - nach oben an den Bauch geklebt. Das Ende ist mit einer schwarzen Klammer abgeklemmt, sodass die Schnur aussieht wie ein Starthilfekabel.

Die Schwester wäscht diesen kleinen Jungen; sie taucht einen dünnen Waschlappen immer wieder in warmes Wasser. Sie reinigt Kopf und Gesicht und achtet sorgsam darauf, dass sie in jede Windung seiner Ohrmuscheln kommt. Sie wischt die hellen Käseschmierestreifen aus den Falten an seiner Leiste und unter seinen Achseln. Sie nimmt ein schlaffes Ärmchen und ein schlaffes Beinchen und dreht ihn auf den Bauch; dann wäscht sie seinen Rücken und zuletzt den After. Sie hat jeden Zentimeter seiner roten Haut gewaschen und abgespült. Die Wärmelampe hat ihn gleich wieder getrocknet. Im Koran heißt es, Allah habe den Menschen aus geronnenem Blut erschaffen. Das rote Baby ist ein Blutklumpen, den Allah nass gemacht und in den er geblasen hat. So wie ein Clown ein paar dünne Ballons aufpustet und daraus flugs ein Häschen, einen Hund, eine Giraffe dreht.

Schwester Pat Eisberg lässt das Wasser ablaufen. Sie wirft das alte Tuch und das Mützchen in einen Wäschepuff, nimmt sich ein neues Flanelltuch und ein neues Mützchen von dem Stapel zu ihrer Rechten und legt den roten Säugling auf die rechte Fläche. Sie wickelt ihn. Sie hüllt ihn in das Tuch: Sie faltet die rechte Ecke des Tuchs über ihn und rollt ihn zur Seite, um es festzuklemmen; sie legt ihm die untere Ecke des Tuchs auf die Brust; sie wickelt das linke Ende rundherum, und da er auf dem Rücken liegt, wird es durch sein Gewicht gehalten. Jetzt ist er ein sauberes, handliches Paket von der Größe einer Thermosflasche. Die Schwester setzt ihm eine Mütze auf den Spitzschädel und schiebt das Paket ans Ende der Reihe zu den anderen eben gewaschenen Babys.

Das rote Neugeborene schaut auf und betrachtet seine Umgebung, wach, augenscheinlich zufrieden und außergewöhnlich ruhig, wie bezaubert.

»Wir bewegen uns zwischen zwei dunklen Polen«, schrieb E. M. Forster, »[...] und die zwei Wesenheiten, die uns aufklären könnten, der Säugling und der Leichnam, sind nicht dazu in der Lage.«

Wie ich Leonardo da Vincis früheste Kindheitserinnerung liebe! »Mir war immer so, als sei zu der Zeit, da ich noch in der Wiege lag, ein Weih zu mir gekommen und habe mir den Mund mit seinem Schwanz geöffnet und mich dann mehrere Male mit dem Schwanz auf die Lippen geschlagen.« Der Weih, womit hier der Rotmilan gemeint sein dürfte, ist sechzig Zentimeter lang und hat einen tief gegabelten Schwanz. Er segelt wie eine Schwalbe und stößt dann wie ein Falke hinab, um Reptilien zu erbeuten; er frisst auch Aas.

Alle paar Minuten kommt eine andere Schwester herein und holt den Säugling ab, der ganz vorn in der Reihe liegt. Die Schwester liefert das Paket wieder bei seiner Mutter ab. Als der rote kleine Junge dran ist, gehe ich mit.

Die Mutter sitzt kissengestützt in einem sauberen Krankenhausbett. Sie wirkt ein wenig matt. Als ich vor ein paar Stunden auf der Station war, hörte ich sie leise jammern, aaah! - bis die Schwester die Tür schloss. Jetzt ist die Mutter weiß wie das Laken, Anfang dreißig, verquollen, hübsch und vollkommen erschöpft. Sie nimmt die Komplimente für das Kind mit einem liebenswürdigen Lächeln entgegen, das sie viel Mühe kostet, sodass es ratsam scheint, sie nicht weiter anzusprechen. Sie sieht aus wie die Zeichentrickfigur Road Runner, nachdem sie von einer Dampfwalze überrollt wurde.

Der spillerige Vater schneidet seinem Sohn Grimassen. Er sieht in einem fort auf die Uhr. »Du bist jetzt dreißig Minuten alt«, erklärt er ihm. Die Schwester hat den Kleinen auf den Rücken in ein Rollbettchen gelegt. In den USA legt man Säuglinge derzeit auf den Rücken - niemals auf den Bauch, damit sie nicht im Schlaf ersticken. Vor zehn Jahren legte man Säuglinge auf den Bauch - niemals auf den Rücken, damit sie nicht im Schlaf erstickten.

Wir sind zu sechst im Raum - die Eltern, das Baby, zwei Schwestern und ich. Vier von uns sind um das Baby versammelt. Die Mutter liegt abseits und stiert vor sich hin; ihre Augen sind geöffnet und ohne jede Regung. Winterlicht flutet durch ein großes Fenster neben ihrem Bett. Alle andern stehen in der Nähe der Tür und reden über das Kind.

Eine Schwester wickelt den Kleinen aus. Das gefällt ihm nicht; er mag nicht ausgewickelt werden. Er ist immer noch rot. Seine winzigen Fingernägel sind rot, als hätte jemand Nagellack draufgetupft. Seine Fußnägel sind rot. Die Schwester zeigt dem Vater, wie man ihn in das Tuch hüllt.

»Du bist erst vierzig Minuten alt«, sagt der Vater, »und hast schon was zu jammern?«

»Aaah«, sagt das Baby.

»Von mir aus muss ich das nicht noch mal durchmachen, nie wieder«, sagt die...
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Annie Dillard, geboren 1945 in Pittsburgh, Pennsylvania, als Tochter eines Industriellen, ist Dichterin und Essayistin. Ihr Anglistikstudium beschloss sie mit einer Arbeit über Henry David Thoreaus Lebenszyklus Walden. Seither hat sie sich, der Tradition der Transzendentalisten folgend, in zahlreichen Texten mit den Themen Natur und Spiritualität befasst. Für ihre Werke erhielt sie zahlreiche Preise und Ehrendoktorwürden, zuletzt der National Humanities Medal. Ihre zu einer Chronik der Jahreszeiten verdichteten Aufzeichnungen aus den Bergen Virginias sind 1974 unter dem Titel Pilgrim at Tinker Creek erschienen und wurde mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Karen Nölle, 1950 geboren, lebt als Lektorin, Autorin und Literaturübersetzerin in der holsteinischen Schweiz. Sie schreibt Reisebegleiter, leitet Seminare für Übersetzer und Autoren und beschäftigt sich mit weiblichem Schreiben. 2019 erschien ihre Tiergeschichte Ollis Fest. Bei Matthes & Seitz Berlin erschien in ihrer Übersetzung Annie Dillards Pilger am Tinker Creek (2016).