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Gezeichnet

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
160 Seiten
Deutsch
CulturBooks Verlagerschienen am25.11.2019
Eines der meistgelesenen japanischen Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Schriftsteller entschließt sich, drei Notizhefte, die ihm zugespielt worden sind, zu veröffentlichen. Es sind die hinterlassenen Aufzeichnungen eines genialen jungen Mannes, eines Comiczeichners, der schonungslos von seinem verpfuschten Leben berichtet: Frauen, Trunksucht, Drogen, Irrsinn - tatsächlich in vielem das Leben des Autors Osamu Dazai. Die packenden Skizzen einer conditio inhumana haben seit Erscheinen des Buches 1948 Generationen japanischer Leser fasziniert. 'Gezeichnet' ist ein Kultbuch, Dazai selbst ein Idol.

Osamu Dazai (1909-1948) zählt zu den bedeutendsten japanischen Schriftstellern. "Gezeichnet" (Originaltitel: Ningen shikkaku; wörtlich 'Als Mensch disqualifiziert') ist sein Hauptwerk. Im Juni 1948, noch vor Erscheinen des Buches, setzte Dazai gemeinsam mit einer Geliebten seinem Leben ein Ende.
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Produkt

KlappentextEines der meistgelesenen japanischen Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Schriftsteller entschließt sich, drei Notizhefte, die ihm zugespielt worden sind, zu veröffentlichen. Es sind die hinterlassenen Aufzeichnungen eines genialen jungen Mannes, eines Comiczeichners, der schonungslos von seinem verpfuschten Leben berichtet: Frauen, Trunksucht, Drogen, Irrsinn - tatsächlich in vielem das Leben des Autors Osamu Dazai. Die packenden Skizzen einer conditio inhumana haben seit Erscheinen des Buches 1948 Generationen japanischer Leser fasziniert. 'Gezeichnet' ist ein Kultbuch, Dazai selbst ein Idol.

Osamu Dazai (1909-1948) zählt zu den bedeutendsten japanischen Schriftstellern. "Gezeichnet" (Originaltitel: Ningen shikkaku; wörtlich 'Als Mensch disqualifiziert') ist sein Hauptwerk. Im Juni 1948, noch vor Erscheinen des Buches, setzte Dazai gemeinsam mit einer Geliebten seinem Leben ein Ende.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783959881616
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum25.11.2019
Seiten160 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.12649122
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Das erste Heft

Ich habe ein schändliches Leben geführt.

Was menschlich leben heißt, weiß ich nicht. Ich bin im Nordosten geboren, auf dem Lande, und eine Eisenbahn habe ich zum ersten Mal gesehen, als ich schon ziemlich groß war. Ich stieg die Überführung an der Station hinauf und wieder hinunter, ohne dass mir dabei in den Sinn gekommen wäre, dass es sich um eine Konstruktion handelt, die zum Überqueren der Gleise dient, glaubte, dies sei bloß eine Einrichtung, den Bahnhof komplex und vergnüglich, ihn modisch erscheinen zu lassen wie einen auslän­dischen Spielplatz. Und das glaubte ich ziemlich lange. Die Überführung hinauf- und hinunterzusteigen hielt ich für ein recht weltmännisches Spiel, die geschmackvollste aller Dienstleistungen, die die Eisenbahn bot, so dass ich, als ich später entdeckte, dass es sich nur um eine sehr praktische Treppe handelt, die den Fahrgästen ermöglicht, die Gleise zu überqueren, auf der Stelle jedes Interesse daran verlor.

Als Kind glaubte ich auch, dass Untergrundbahnen, wie ich sie in einem Bilderbuch gesehen hatte, nicht aus einer praktischen Notwendigkeit heraus erfunden worden waren, sondern dass es ein lustiges Vergnügen sei und abwechslungsreich, einmal mit Wagen nicht auf, sondern un­ter der Erde zu fahren.

Ich war von Kindesbeinen an kränklich und musste oft das Bett hüten, wo mir das Laken und der Bezug von Kopfkissen und Decke als höchst langweiliger Zierat erschienen; dass es sich dabei um durchaus nützliche Dinge handelt, ging mir erst auf, als ich fast zwanzig war, und ich war enttäuscht und traurig ob der Nüchternheit der Menschen.

Auch Hunger habe ich nie gekannt. Damit meine ich nicht, dass ich in einer Familie aufwuchs, die keine materiellen Sorgen hatte, nichts so Einfältiges, nein: Ich hatte einfach keine Ahnung, was für ein Gefühl das ist, »Hunger«. Es mag komisch klingen, aber ich merkte nichts, auch wenn ich nichts im Bauch hatte. Wenn ich aus der Schule kam, aus der Grundschule, aus der Mittelschule, ging s zu Hause los: Na, du hast bestimmt Hunger, wir kennen das, wenn man aus der Schule kommt, hat man mächtigen Hunger, wie wär s mit kandierten Bohnen? Oder Sandkuchen? Brot haben wir auch. Mit dem kriecherischen Geist, der mir eigen ist, murmelte ich dann, Mensch, hab ich Hunger, und schob mir eine Handvoll Bohnen in den Mund, obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, was das sein könnte: Hunger.

Natürlich esse auch ich alles mögliche, kann mich aber kaum erinnern, jemals gegessen zu haben, weil ich Hunger gehabt hätte. Ich esse das, was als ausgefallen gilt. Ich esse das, was als luxuriös gilt. Ich esse meistens auch das - selbst wenn ich mich überwinden muss - was mir an fremden Tischen vorgesetzt wird. Das Schlimmste in meiner Kindheit waren mithin die Mahlzeiten daheim.

In unserer über zehnköpfigen Familie auf dem Land wurden die Esstischchen, jeder hatte sein eigenes, in zwei Reihen einander gegenüber aufgestellt, wobei mir als Kleinstem natürlich ein Platz ganz am Ende der Reihe zukam; das Esszimmer war düster, und wenn wir zehn oder zwölf beim Mittagessen beispielsweise dahockten und jeder stumm für sich sein Essen aß, überlief mich jedesmal eine Gänsehaut.

Da wir eine bodenständige Landfamilie waren, stets also mehr oder weniger das Gleiche aufgetragen wurde und ausgefallene oder luxuriöse Gerichte nicht zu erwarten waren, bekam ich am Ende regelrecht Angst vor den Mahlzeiten. Warum, dachte ich manchmal sogar, auf meinem Platz am Ende der Reihe in dem düsteren Zimmer, gleichsam vor Kälte zitternd, einen winzigen Bissen zum Munde führend, schluckend, warum müssen denn die Menschen dreimal täglich essen, dreimal, und alle mit so feierlicher Miene, warum muss die Familie sich dreimal, dreimal täglich zu festgesetzten Zeiten in dem düsteren Zimmer versammeln, die Tischchen korrekt ausrichten und, Hunger oder nicht, schweigend ihr Essen kauen, gesenkten Blickes, vielleicht ist es eine Art Ritual, um die Geister der Toten zu besänftigen, die im Hause spuken.

Wer nicht isst, stirbt! Der Satz klang mir stets als bloß widerwärtige Drohung in den Ohren. Gleichwohl versetzte mich sein Aberglaube (den ich noch heute irgendwie für Aberglauben zu halten nicht umhin kann) immer in Angst und Schrecken. Der Mensch stirbt, wenn er nicht isst, deshalb - denn essen muss er - arbeitet er: Worte, die dunkler, die enigmatischer und von gleicher Bedrohlichkeit gewesen wären, gab es für mich nicht.

Und anscheinend weiß ich, um es kurz zu machen, immer noch nicht, was es heißt, sich als Mensch zu gerieren. Die Unsicherheit, dass mein Begriff von Glück grundverschieden sein könnte von dem aller anderen Menschen, hat mich ganze Nächte nicht schlafen lassen, hat mich winseln gemacht, hat mich fast in den Wahnsinn getrieben. Bin ich glücklich? Tatsächlich hat man mir von klein auf oft gesagt, ich sei ein Glückskind; mir aber kam es immer wie die Hölle vor, mir schien ganz im Gegenteil, dass es denen, die sagten, ich sei ein Glückskind, unvergleichlich viel besser ging als mir selbst.

Ich habe mir sogar schon vorgestellt, dass mir zehn Übel anhafteten und dass nur eines davon meinem Nachbarn, hätte er es zu tragen, Grund genug wäre, sich das Leben zu nehmen.

Ich habe, mit anderen Worten, keine Ahnung, wie und woran mein Nachbar leidet. Ich weiß es einfach nicht. Vielleicht hat er praktische Sorgen, Sorgen, die verfliegen, wenn er nur zu essen hat, vielleicht hat er furcht­bare Pein zu erdulden, grässliche Höllenqualen, gegen die meine zehn Übel geradezu verblassen, ich weiß es nicht - doch geht es ihm, wenn er sich dennoch nicht das Leben nimmt, wenn er nicht verrückt wird, wenn er über Politik schwa­droniert, wenn er nicht verzweifelt, wenn er unverzagt den Kampf des Lebens fortsetzt, geht es ihm dann wirklich schlecht? Ist er nicht egoistisch - und hält das für die natürlichste Sache der Welt? Hat er sich jemals selbst in Frage gestellt? Das wäre in der Tat bequem - nur: ob alle so sind und, wenn ja, es nicht das beste wäre, weiß ich nicht ... Schlafen sie nachts tief und fest, stehen morgens frisch und munter auf? Wovon träumen sie? Woran denken sie, wenn sie durch die Straßen gehen, an Geld? Nein, das allein kann es nicht sein, der Mensch lebt, um zu essen, das habe ich, scheint mir, schon gehört, doch dass er des Geldes wegen lebte, ist mir noch nicht zu Ohren gekommen, das heißt, andererseits ... Nein, ich weiß es nicht ... Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger verstehe ich es, desto stärker die so ganz andersartige Unsicherheit und Angst, die nur mich allein zu befallen scheint. Mit meinem Nachbarn kann ich mich kaum unterhalten. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.

So verfiel ich auf die Clownerie.

Es war mein letztes Mittel, um Liebe zu werben. Denn es wollte mir, obwohl ich die Menschen in höchstem Maße fürchtete, einfach nicht gelingen, mich von ihnen abzukehren. Die Clownerie erlaubte mir schmalen Kontakt. Nach außen trug ich immerfort ein entgegenkommendes Lächeln zur Schau, ein desperates Unternehmen, das ständig um Haaresbreite, muss man sagen, zu kippen, zu scheitern drohte, das mich innerlich den Schweiß der Verzweiflung kostete.

Von Kindheit an hatte ich nicht die geringste Vorstellung davon, woran die Mitglieder meiner eigenen Familie wohl litten, was sie Tag um Tag dachten, ich hatte nur Angst, fühlte mich dem nicht gewachsen und wurde deshalb schon früh ein guter Clown. Ich war, mit anderen Worten, unmerklich zu einem Kind geworden, das nie, nie sagte, was es meinte.

Auf Familienphotos aus dieser Zeit machen alle im­mer ein ernstes Gesicht, nur ich allein ziehe unweigerlich eine Grimasse und lache. Auch das war ein Mittel meiner kindlich-traurigen Clownerie.

Kein einziges Mal auch habe ich, wenn mir etwas vor­ge­worfen wurde, Widerworte gegeben. Den kleinsten Ta­del empfand ich wie einen Donnerschlag, der mich in Wahnsinnsangst versetzte, so dass ich nicht nur keine Widerworte geben konnte, sondern mich im festen Glauben, dieser Tadel sei eine ewige, den Menschen seit Äonen überkommene »Wahrheit«, fragte, ob ich, da mir die Kraft fehlte, mich dieser Wahrheit entsprechend zu verhalten, überhaupt geeignet sei, mit Menschen zusammen­zuleben. Mit Worten streiten oder mich rechtfertigen konnte ich deshalb nicht. Wenn ich von jemandem beschimpft wurde, hatte ich das Gefühl, ich, ich allein und niemand sonst hätte einen furchtbaren Irrtum begangen und nahm, inner­lich halb wahnsinnig vor Angst, die Attacke schweigend hin.

Niemandem gefällt es wohl, kritisiert oder gescholten zu werden; ich aber sah im Gesicht des Menschen, der mich schalt, immer das fürchterliche Wesen eines Tieres, schlimmer als das eines Löwen, eines Krokodils, eines Drachens. Wenn ich sah, wie dieser wahre, furchtbare Charakter des Menschen, den er normalerweise verbirgt, bei irgendeiner Gelegenheit im Zorn und so plötzlich, wie ein phlegmatisch auf der Weide dösendes Rind mit dem Schweif die Bremsen auf seinem Bauch erschlägt, zum Vorschein kam, überlief mich jedesmal ein Schauer, der mir die Haare zu Berge stehen ließ, und der Gedanke, dass auch dies wahrscheinlich ein Wesenszug sei, der den Menschen erst befähigte, das Leben zu meistern, nahm mir für mich selbst alle Hoffnung.

Menschen gegenüber empfand ich immer nur Angst und Furcht, und da ich in mein eigenes Verhalten als Mensch nicht das geringste Vertrauen haben konnte, verschloss ich meine ureigenen Qualen im Herzen, verbarg und versteckte meine Melancholie und meine nervöse Angst, kleidete sie mit Hingabe in einen arglosen Optimismus und vervollkommnete mich...

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