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Die Gemeinheit der Diebe

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
240 Seiten
Deutsch
Hanser Berlinerschienen am19.02.20231. Auflage
'Ich bin begeistert, gerührt, aufgeregt. Jede Zeile ist brodelnd und wichtig.' Mely Kiyak
Smilja kommt als jugoslawische Gastarbeiterin nach Deutschland. Ihr Leben ist von Akkordarbeit in der Fabrik und den Gewaltausbrüchen ihres Partners Du?an geprägt. Als Du?an stirbt, gerät Smiljas Welt einmal mehr aus den Fugen. Nacht für Nacht hört sie ihn im Schrank klopfen und sucht Erlösung bei einem Wunderheiler. Gemeinsam mit ihrem Sohn Alem, den sie als Kind in eine deutsche Pflegefamilie gegeben hat, ringt sie um Fragen nach Herkunft und Heimat, Schuld und Vergebung.
Packend und schnörkellos erzählt Alem Grabovac die Geschichte seiner Mutter, die das Glück immer wieder knapp verfehlt und doch nie aufhört zu hoffen.

Alem Grabovac, 1974 in Würzburg geboren. Mutter Kroatin. Vater Bosnier. Er hat in München, London und Berlin Soziologie, Politologie und Psychologie studiert und lebt mit seiner Familie in Berlin. Als freier Autor schreibt er unter anderem für Die Zeit, Welt, taz. Bei hanserblau erschien 2021 sein vielbeachteter Debütroman Das achte Kind.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR17,99

Produkt

Klappentext'Ich bin begeistert, gerührt, aufgeregt. Jede Zeile ist brodelnd und wichtig.' Mely Kiyak
Smilja kommt als jugoslawische Gastarbeiterin nach Deutschland. Ihr Leben ist von Akkordarbeit in der Fabrik und den Gewaltausbrüchen ihres Partners Du?an geprägt. Als Du?an stirbt, gerät Smiljas Welt einmal mehr aus den Fugen. Nacht für Nacht hört sie ihn im Schrank klopfen und sucht Erlösung bei einem Wunderheiler. Gemeinsam mit ihrem Sohn Alem, den sie als Kind in eine deutsche Pflegefamilie gegeben hat, ringt sie um Fragen nach Herkunft und Heimat, Schuld und Vergebung.
Packend und schnörkellos erzählt Alem Grabovac die Geschichte seiner Mutter, die das Glück immer wieder knapp verfehlt und doch nie aufhört zu hoffen.

Alem Grabovac, 1974 in Würzburg geboren. Mutter Kroatin. Vater Bosnier. Er hat in München, London und Berlin Soziologie, Politologie und Psychologie studiert und lebt mit seiner Familie in Berlin. Als freier Autor schreibt er unter anderem für Die Zeit, Welt, taz. Bei hanserblau erschien 2021 sein vielbeachteter Debütroman Das achte Kind.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783446297845
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum19.02.2023
Auflage1. Auflage
Seiten240 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.12814911
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe




5


Meine Mutter wohnte im Arbeiterinnenwohnheim etwas außerhalb von Würzburg und sortierte Tag für Tag zehn Stunden lang in der Fabrik Pralinen in vorbereitete Schachteln. Sie musste oft daran denken, wie sie als Kind mit schmutzigen Klamotten und löchrigen Schuhen vor der Schaufensterscheibe von Herrn Mitanovics Lebensmittelladen gestanden und nahezu alles für ein kleines buntes Bonbon oder eine winziges Stück Schokolade getan hätte. Jetzt bekam sie die aussortierte Bruchware haufenweise geschenkt und konnte sich darüber hinaus ein paar gepflegte Winterstiefel, ein hübsches Kleid und sogar ein angenehm duftendes Parfüm leisten. Dennoch litt sie anfangs sehr in der Fremde. Das Zimmer im Wohnheim musste sie sich mit fünf anderen Frauen teilen. Alle stammten sie aus Südeuropa, kamen aus der Türkei, aus Griechenland, Portugal, Italien oder Jugoslawien. Sie versuchten sich mit Händen und Füßen zu verständigen, sehnten sich nach ihren Familien in der Heimat, waren oft unglücklich und hatten kaum Kontakt zu den Einheimischen. Meiner Mutter missfiel die Unordnung, die Enge, die üblen Gerüche, die Ausgangssperre ab 22 Uhr und die ständigen Streitereien zwischen den Frauen im Wohnheim bis spät in die Nacht sehr. Nach einem Jahr zog sie aus. Sie suchte sich ein kleines Zimmer mit Bad und Küche in der Innenstadt, lernte die neue Sprache, überwies Geld an ihre Eltern und arbeitete unermüdlich weiter.

Nur hin und wieder ging sie mit einigen Kolleginnen aus der Fabrik am Wochenende aus. An einem dieser Abende lernte sie 1973 meinen Vater Emir, einen Bosnier, in einem Tanzlokal kennen. Emir hatte breite Schultern, große Augen, klobige Hände, war lustig und charmant und behauptete, als Automechaniker in einer Werkstatt zu arbeiten. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ein paar Monate später heirateten sie auf dem Standesamt in Würzburg. Eine kirchliche Trauung, die sich meine Mutter so sehr gewünscht hatte, war nicht möglich, da er ein muslimischer Bosniake war. Sie übernahm seinen Namen und hieß ab sofort Smilja Grabovac. Schon kurz darauf wurde ihr oft übel und manchmal musste sie sich sogar auf der Toilette übergeben. Als sie den positiven Schwangerschaftstest in ihren Händen hielt, sprang sie vor Freude in die Luft. Ich kam am 2. Januar 1974 im Würzburger Universitätsklinikum zur Welt.

Ihr Glück sollte nur von kurzer Dauer sein. Schnell fand sie heraus, dass Emir nicht die Person war, die er vorgegeben hatte zu sein. Er war ein kleinkrimineller Dieb, klaute Brieftaschen in der Straßenbahn, in Bussen und in der Einkaufspassage, ging keiner geregelten Arbeit nach, verjubelte sein Geld in Spielcasinos und Kneipen, schlief seinen Rausch oft bis in den Nachmittag aus und war notorisch pleite. Sie musste das Geld verdienen. Auf ihn konnte sie sich nicht verlassen. Aber wohin mit mir? Sie besaß weder Freunde noch Verwandte in Würzburg, bei denen ich hätte unterkommen können. Kindergartenplätze waren rar und die kurzen Öffnungszeiten bis zum Mittag hätten ihr auch nicht geholfen, da sie um diese Zeit noch in der Fabrik arbeiten musste. Auf staatliche Unterstützung durfte sie nicht hoffen. Das Frauenbild der Bundesrepublik war antiquiert. Es gab damals sogar ein Gesetz, in dem es hieß, dass Frauen nur arbeiten durften, wenn dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar war. In der Werkskantine saß sie oft mit hängenden Schultern und dem Monat für Monat runder werdenden Bauch vor ihrem Essen. AyÅe, eine junge türkische Kollegin, die von ihrem Mann verlassen worden war, hatte von ihrem Problem gehört. Sie erzählte meiner Mutter von der deutschen Pflegefamilie aus Gerchsheim, einem kleinen Dorf zwanzig Kilometer von Würzburg entfernt, bei der ihre Tochter Dilek unter der Woche lebte. Meine Mutter war sofort interessiert und besuchte die Pflegefamilie an einem Sonntagnachmittag gemeinsam mit AyÅe. Obwohl das Haus sehr gepflegt aussah und Marianne und Robert einen vertrauenswürdigen Eindruck machten, sträubte sich alles in ihr gegen diese Vorstellung. Letztendlich sah sie jedoch keinen anderen Ausweg. Als ich sechs Wochen alt war - mehr Elternzeit wurde ihr damals nicht zugestanden - kam ich zur Familie Behrens. Vater und Mutter sah ich jetzt nur noch an den Wochenenden. Es brach meiner Mutter beinahe das Herz, mich als Baby in die Hände einer fremden Frau geben zu müssen. Das Leben in Deutschland hatte sie sich anders vorgestellt.

Sie flehte Emir an, sich endlich einen anständigen Job zu suchen und Verantwortung für sein Kind zu übernehmen. Mein Vater war jedoch kein Familienmensch: Er lebte in den Tag hinein und drehte weiterhin seine krummen Dinger. Einmal brachte er einen großen Farbfernseher nach Hause. Vielleicht war er geklaut. Vielleicht auch nicht. Er wollte sich unbedingt den Boxkampf zwischen George Foreman und Muhammad Ali in Zaire zu nachtschlafender Zeit live und in Farbe in der kleinen Würzburger Wohnung anschauen. Meine Mutter schüttelte enttäuscht den Kopf. Anstatt mir Spielsachen oder Kleidung zu kaufen, hatte er mal wieder nur an seinen eigenen Spaß gedacht. Er schwor ihr, sich zu bessern, versprach ihr ständig den Himmel auf Erden, um sie im nächsten Moment schon wieder schamlos zu hintergehen. Sie verschloss die Augen vor der Wirklichkeit und hoffte darauf, dass er sich eines Tages ändern würde.

Zweieinhalb Jahre nach meiner Geburt verließ er uns eines Morgens Hals über Kopf. Er schuldete irgendwelchen Gangstern sehr viel Geld. Sie suchten nach ihm, bedrohten Mutter in ihrer Wohnung. Sie war nicht mehr sicher in Würzburg, musste weg, kaufte sich rasch überregionale Zeitungen, durchkämmte die Stellenanzeigen und fand schließlich durch Paulina, eine Arbeitskollegin, einen Job als Montagearbeiterin in Frankfurt. Marianne, meine Pflegemutter, die sich liebevoll um mich kümmerte, bot ihr an, dass ich so lange bei den Behrens in Gerchsheim bleiben könne, bis sie sich in Frankfurt eingelebt habe. Meine Mutter war vollkommen überfordert mit der Situation und nahm den Vorschlag dankend an. Niemand hätte damals damit gerechnet, dass aus dieser vorübergehenden Vereinbarung ein ganzes Leben werden würde. Meine Mutter besuchte ich jetzt nur noch an zwei Wochenenden im Monat. Ich war noch zu klein, um mich später an meinen Vater zu erinnern.

Emir sah meine Mutter nur noch ein Mal. Man hatte ihn 1980 wegen verschiedener kleinerer Delikte und, was noch schlimmer wog, Beleidigung des Staatspräsidenten zu drei Jahren Gefängnis in Goli Otok, dem wahrscheinlich brutalsten Umerziehungslager in ganz Jugoslawien, verurteilt. Goli Otok war eine Gefängnisinsel. Im Volksmund nannte man sie das »Alcatraz Jugoslawiens«. Titos Jugoslawien kannte kein Erbarmen mit Menschen, die sich nicht ins kommunistische System eingliedern ließen.

Emir war seit seinem überstürzten Aufbruch an jenem Morgen im Sommer 1976 wie vom Erdboden verschluckt. Meine Mutter erfuhr erst durch ein offizielles Schreiben der Gefängnisleitung von seiner Inhaftierung, verspürte den Drang, sich noch einmal mit ihm auszusprechen, reiste mit dem Bus an die adriatische Küste und wurde in einem Boot, das von Polizisten mit dunkel getönten Sonnenbrillen und Maschinengewehren eskortiert wurde, zur Insel gebracht. Mein Vater wartete bereits abgemagert und mit kurz geschorenen Haaren in der steinernen Besucherbaracke auf sie. Meine Mutter setzte sich mit zittrigen Beinen zu ihm, zeigte ihm Kinderfotos von mir, hörte sich all seine jämmerlichen Ausreden an und erzählte ihm schließlich, dass sie sich in einen anderen Mann verliebt habe. Daraufhin beschimpfte er sie als verfickte Schlampe und drohte ihr damit, eines Tages nach Deutschland zu kommen und mich, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen könne, zu sich nach Jugoslawien zu holen.

Sie war sehr verängstigt und geriet in Panik. Nie würde sie den Hass in seinen Augen vergessen. Sie log mich an, erzählte mir später, dass mein Vater ein rechtschaffener Bauarbeiter gewesen war und, einige Jahre nachdem er uns verlassen hatte, auf Montage in Jugoslawien bei einem Arbeitsunfall gestorben sei. Mit dieser Lüge wollte sie ihn und seine Drohung, mich eines Tages zu entführen, ein...


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Autor

Alem Grabovac, 1974 in Würzburg geboren. Mutter Kroatin. Vater Bosnier. Er hat in München, London und Berlin Soziologie, Politologie und Psychologie studiert und lebt mit seiner Familie in Berlin. Als freier Autor schreibt er unter anderem für Die Zeit, Welt, taz. Bei hanserblau erschien 2021 sein vielbeachteter Debütroman Das achte Kind.