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Die Erstausgaben der Gefühle

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
248 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am15.01.20241. Auflage
1961. Ein junger Mann Anfang 30. Sein erstes Buch, ein Erzählband, hatte Aufsehen erregt, die Kritik bescheinigte ihm Talent. Nun schreibt er an einem Rom-Buch. Es wird mit viel Vorschußlorbeeren bedacht, und ein bedeutender Literaturverlag will es herausbringen. Der Autor, der Beruf und Familie hinter sich läßt, um ganz im Schreiben aufzugehen, wähnt sich auf dem Olymp der deutschsprachigen Literatur. Als jedoch sein Buch 1963 erscheint, stößt es auf völliges Unverständnis. Den Autor, Paul Nizon, stürzt die Ablehnung seines furiosen Sprachkunstwerks Canto in eine Krise. Wie er sich daraus langsam wieder herauskämpft und in die deutsche Literatur zurückschreibt, davon handelt dieser Journalband.
Das Tagebuch aus den Jahren 1961 bis 1972 - der erste einer auf vier Bände angelegten Journalreihe - erzählt von den Versuchen Paul Nizons, sich gegen alle Widerstände seiner Identität als Schriftsteller zu vergewissern und diese Identität in der eigenen Existenz zu begründen. Vor dem Hintergrund der sechziger Jahre entfaltet es zudem die Stoffwelten und Formideen seiner Bücher von Canto bis Untertauchen. Aus diesem »Rohmaterial« seines gelebten Lebens, aus diesem »Stoff- und Gedankenspeicher«, der Werkstattbericht und Alltagsprotokoll in sich vereint, hat Paul Nizon nichts weniger erschaffen als einen Roman: den Roman seiner künstlerischen Heraufkunft.



Paul Nizon, geboren 1929 in Bern, lebt in Paris. Der »Verzauberer, der zur Zeit größte Magier der deutschen Sprache« (Le Monde) erhielt für sein Werk, das in mehreren Sprachen übersetzt ist, zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, u. a. 2010 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR36,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR35,99

Produkt

Klappentext1961. Ein junger Mann Anfang 30. Sein erstes Buch, ein Erzählband, hatte Aufsehen erregt, die Kritik bescheinigte ihm Talent. Nun schreibt er an einem Rom-Buch. Es wird mit viel Vorschußlorbeeren bedacht, und ein bedeutender Literaturverlag will es herausbringen. Der Autor, der Beruf und Familie hinter sich läßt, um ganz im Schreiben aufzugehen, wähnt sich auf dem Olymp der deutschsprachigen Literatur. Als jedoch sein Buch 1963 erscheint, stößt es auf völliges Unverständnis. Den Autor, Paul Nizon, stürzt die Ablehnung seines furiosen Sprachkunstwerks Canto in eine Krise. Wie er sich daraus langsam wieder herauskämpft und in die deutsche Literatur zurückschreibt, davon handelt dieser Journalband.
Das Tagebuch aus den Jahren 1961 bis 1972 - der erste einer auf vier Bände angelegten Journalreihe - erzählt von den Versuchen Paul Nizons, sich gegen alle Widerstände seiner Identität als Schriftsteller zu vergewissern und diese Identität in der eigenen Existenz zu begründen. Vor dem Hintergrund der sechziger Jahre entfaltet es zudem die Stoffwelten und Formideen seiner Bücher von Canto bis Untertauchen. Aus diesem »Rohmaterial« seines gelebten Lebens, aus diesem »Stoff- und Gedankenspeicher«, der Werkstattbericht und Alltagsprotokoll in sich vereint, hat Paul Nizon nichts weniger erschaffen als einen Roman: den Roman seiner künstlerischen Heraufkunft.



Paul Nizon, geboren 1929 in Bern, lebt in Paris. Der »Verzauberer, der zur Zeit größte Magier der deutschen Sprache« (Le Monde) erhielt für sein Werk, das in mehreren Sprachen übersetzt ist, zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, u. a. 2010 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518771143
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum15.01.2024
Auflage1. Auflage
Seiten248 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.13205540
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1963

April 1963, Zürich

Brief an Karl Markus Michel

Lieber Herr Michel,
endlich bekommen Sie das Manuskript, ich weiß nicht, ob ich verschlimmbessert oder verbessert habe, wirklich nicht, denn Distanz ist das keineswegs, mein jetziger Standort. Ich hoffe darauf, dass das andere Bild im Fahnenabzug mir eine letzte richtige Einstellung und Einschätzung vermittle.

Einige Überlegungen selbsttheoretischer Natur, die mir zwischenzeitlich durch den Kopf gingen, möchte ich Ihnen schnell unterbreiten. Nicht, daß ich auf deren Verwendung in einem Ankündigungstext aus wäre: Ich liefere Ihnen eigene Splitter als Diskussionspunkte, weiter nichts. Also:

Meine Sprache ist nicht eine sachbezeichnende. Sie bedient sich vielmehr irgendwelcher Stoffe, irgendwelchen Materials (Beschreibungs-/Einbildungsmaterial), um das ANDERE zu sagen. Sie armiert sich geradezu mit Realitätssplittern (Reisedingen, Straßeninventar etc.), aber es geht nicht ums Reisen, um die Straße, um Rom, um ein objektives Erfassen angeschlagener Motive. Vielmehr darum: mit diesen Gegebenheiten meine Melodie zu klimpern, mein Geheimnis zu pfeifen. Das Andere. Das Eigenste. Das Unfixierbare. Das Unbeantwortbare. Das Abstrakte als Thema?

Da ich keine Fabeln habe und kein Interesse daran, aber Besessenheit, mich auszudrücken, nehme ich irgendeine Situation oder Fiktion und tauche mich wie einen Reagenzstoff da hinein, beobachte mein Strampeln und Fortbewegen und dies in der Hoffnung, es lasse sich in Worten, Sätzen, Phrasen die Gestik und Gestikulation eines Individuums gewinnen. Die Parodie, meinetwegen, einer Individuumsgangart.

Ein alter Wunsch von mir: die Wortparade. Wortgestikulation. Den Stummfilm mit Worten.

In solchem stummfilmhaften Wortgebrauch müßte sich doch auch eine Individuumshaltung und eine Weltoptik evozieren lassen.

Denn es stimmt, daß ich mir eigentlich keiner Überzeugungen bewußt bin. Daß keine Zentralhaltung (einer Figur) zustande kommt, daß ich pluralistisch denke, fühle, einsetze. Daß äußerlich thesenartig höchstens eine Unzufriedenheitsdeklaration aus dem Buch resultiert. Aber im Spannungsverhältnis der stummen Gesten, der Ichs, der Rollen siedelt vielleicht doch ein vom Leser reproduzierbarer Mensch.

Ich bin mir bewußt, als Stilmittel das Leiern und Verseln, die Wiederholung, den Parallelismus zu gebrauchen. Das sind lauter Vorschiebungen halbwacher Phrasen, vorhandener populärer Tonarten, da ein Direktgefühlsausdruck nicht möglich ist. Das ist ein Kaschieren, ein Verschlüpfen, um dennoch mich äußern zu können.

Ja, ich arbeite sogar mit Klischees. Ich verwende »ewige« Situationen, spiele mit dem Kitsch (so in der Maria-Story). Ob das herauskommt? Auch das ist Vorschiebung = Kaschierung.

Mit Robert Walser fühle ich mich tatsächlich in einzelnem sehr verwandt. Ich sagte Ihnen schon, daß ich völlig unliterarisch heranwuchs, aber sehr früh den ganzen erhältlichen Walser las und sehr liebte.

Ich bin froh, das Buch bei Ihnen in sehr guten Händen zu wissen. Schreiben Sie doch auch wieder. Auch von Ihrem jetzigen Eindruck.

Herzlich

29. April 1963, Zürich

Nachtrag zum Brief an Karl Markus Michel

Ich bin ernsthaft unterwegs. Das ist sicher. Ich bin ein Schiff, das nicht nur Takelage putzt und pflegt: das wirklich alles hißt und ausläuft, Wasser zu durchpflügen, unterwegs zu sein, vielleicht ein falsches Westindien zu sichten, jedenfalls aber etwas zu entdecken. Das abstößt, alle Segel setzt, alles setzt, fährt. Alles mitnimmt. Das sich wendet, bäumt, zerschlissen und gehoben sein will und auch das Fallen nicht fürchtet. Anders wiederzukommen.

Hatte keinen Plan, keine Kuppel, keinen Hut. Also blieb ich immer in der grotesken Situation, Lehmkügelchen zu kneten, Fäden in Maschen zu knüpfen und nicht zu wissen wozu. Wozu dies, wenn man beim besten Willen keine erzählenswerte Story, kein vertretenswertes Manifest, keine lebenswerte Idee hat und finden kann? Tausendmal sagte ich mir, ich sei kein Schriftsteller und die Passion, die mich vor Einzelnem, Kleinstem wie vor einem Weltwunder erstarren ließ, neugierig, anbetend, es wiedermurmelnd, es drehend, knetend, spitzend, zungenschlagend, kostend, erprobend, ergreifend, die Passion an Einzelheiten, nach denen ich griff wie ein Ertrinkender, aber auch wie ein Lüstling, Genießer, der das Wunder des Klangs erfährt, den verheißenden Zupflaut einer Geigensaite ... diese Passion sei der Schabernack eines Schöpfers, der sich den Spaß leistete, einen armen einzelnen ungenügend ausgerüstet, aber hochalarmiert loszuschicken.

Diese Passion blieb. Und dazwischen blieben die klaffenden

Fragen, die Ratlosigkeit. Blieben die Löcher. Ich hatte eigentlich nie Zeit zu was Rechtem, war immer präokkupiert oder nachhängend. Wie das alles erschwert hat! Das Studium, die Werkstudentenjobs, die erste Berufstätigkeit als Familienvater.

Kam nicht zum Zug im Brotberuf und kam nicht vom Fleck mit meiner Passion. Zwischen zwei Stühlen, selber bloß eine Rauchringefolge.

Wenn ich zwischendurch eine Stille hatte, ausfiel aus dem Betrieb, überkam mich die Ahnung, mein Beruf könnte sein, so taugenichtisch vor der Arena der Erscheinungen zu sitzen, den Schienensträngen zum Beispiel, dem rostbetäubten Schotter mit den Funken, den Rauchstößen und -schwänzen der Lokomotiven, vor diesem zuckenden Vielgeflecht, am Rand der Fußgängerstraße, ihren Stoßzeiten, selber geschützt durch eine Hecke, die vielleicht den halbprivaten Park zu Füßen des Gerichtsgebäudes einfaßt, die aber auch Blicke erlaubt zu Balkonen von Häusern, die unten city wärts sich wolkenkratzerartig in den Himmel stemmen, Balkonen, hinter denen man Ehezwistgezische im Zigarettenrauch mitzubekommen wähnt, während das Fuhrwerk der Güterzustellung wie ein Nomadengefährt den Berg hinanächzt, Erscheinungen, Nebeneinander, das in Atem hält, das ein angespanntes Beobachterauge am Leben erhält, den Taugenichts in den Zeugenstand und Beruf des Zeugen hebt, wer hat sonst Zeit? Wer ist ebenso unparteiisch wie er? Wer läßt die Hauptsachen, in denen die einzelnen wie in Gummizellen rasen ... wer sonst kann diese Hauptsachen entschärfen, diese scharf ragenden Wichtigkeiten niederstoßen in die Teppichebene des Vielgeflechts, kann den Teppich weben? Wenn nicht er. Ein Beruf. Dies. Diese Ahnung. Damals.

Ging folgerichtig vielerlei Berufen nach, als Gymnasiast schon, nach dem Abitur, als Werkstudent später. Nicht unbedingt aus Geldnot, diese empfand ich nie als echtes Problem, mehr aus Neugierde. Die Welt des Bauplatzes, die Welt als Verwaltergehülfe des Baumaterialienlagers, als Nachtarbeiter auf dem Bahnhof, Bahnpostgehülfe, als Eilbote und Zeitungsausträger, die Stadt immer aus anderer Perspektive, zu ungewohnten Zeiten, die gleiche Stadt in immer anderen Aspekten. Hunger nach Tuchfühlung. Genugtuung damals, knapp nach Absolvierung des Gymnasiums, wenn ich die ehemaligen Kameraden neu ausstaffiert, linkisch in der Paraderolle des frischgebackenen Studenten passieren sah, und ich: als Bauhandlanger unterwegs. Wollte nicht an die Universität, erarbeitete ein Sümmchen, um nach Kalabrien auszureisen, Schriftsteller-Initiation, aber auch Werker unter Landleuten, so was schwebte mir vor, und es sollte weitab sein, am Meer, anderen Kontinenten gegenüber, gleichviel, man würde weitersehen, auf Wanderschaft gehen. Mißglückte kläglich, also kehrte ich heim. Zwei Jahre später nahm ich ein Studium auf, ein geschichtliches sollte es sein, das mir ein Koordinatensystem liefern würde, das allernötigste Wissen. Hatte bis dahin keine Augen, sah nichts, hörte nur Klänge, Lauschen in eigenen Mauern, im Sodbrunnen des Selbst. Und nun Kunstgeschichte. Ich lernte schauen, entwikkelte den Augensinn. Wurde gar Kunstkritiker, zuerst nebenamtlich, neben einer Assistentenstelle, die ich an einem historischen Museum innehatte. Aber der Nebenberuf kräftigte die Eigenperson im Beamten, und das Formulieren war befriedigend, jedesmal ein Sieg, wenn etwas zusammen- und zustandekam, ein sprachlich geschlossenes Stück. Ja, und dann ging das eigene Schreiben los. An einem größeren Plan, der »Bericht aus einer Stadt« heißen sollte, scheiterte ich. Griff deshalb auf meine Einzelheiten zurück, griff einige heraus, sah zu, wohin das führte, wie so ein Kuchen aufging. So entstanden Die Gleitenden Plätze, der Erstling.

Nachtrag zum Brief: Zwei Skizzen aus dem Rom-Jahr

Venedig

Bin abwesend und auch in Venedig gewesen.
Nach laubbimmelnden Ebenen, verstaubt, setzt sich immer stärker Gleißen durch in der Luft, saugt die Weite des Landes auf, und jetzt das Meer. Metallreflexe schaukeln auf Wellentellern, golden funkelndes Wasser. Die Stege zum Vaporetto am Canal, die über Wasser schaukelnden Koffer, das Schaukeln, Wiegen jeglichen festen Dings auf immerbewegten Wasserschalen, auf die die Lichtspeere stechen. Geschmeidegefunkel, dazu das Tönedurcheinander. Und dann auf dem Markusplatz, auf der königlichen Rampe, die dich die paar Bühnenschritte tun läßt. Über...
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Autor

Paul Nizon, geboren 1929 in Bern, lebt in Paris. Der »Verzauberer, der zur Zeit größte Magier der deutschen Sprache« (Le Monde) erhielt für sein Werk, das in mehreren Sprachen übersetzt ist, zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, u. a. 2010 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.