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Hiroshima Capriccios

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
330 Seiten
Deutsch
Otto Müller Verlagerschienen am29.09.2023
'Das neue Jahr tagt und die Spatzen erzählen alte Geschichtchen.' Das Neue und das Alte, das Zentrum und die Peripherie; das schrille, laute, das voll Urbane und die einsamen, weitläufigen Landschaften rund um Hiroshima: Leopold Federmair begibt sich als autobiografischer Erzähler seiner 'Capriccios' gehend, mit dem Fahrrad oder dem Boot auf 'Regionalreisen'. Das meist unbestimmte Ziel ist seine Stadt mit ihren Bezirken, Rändern, ihrem Außerhalb. Als 'Erforscher des Unscheinbaren' interessiert ihn das Normale und Kuriose im Alltäglichen. Das Frühere und Vergangene zu bewahren, gelingt ihm in vielfältigen Er-Gehungen, Er-Fahrungen: 'In Wort und Bild rette ich dies und jenes vor dem Verschwinden.' Der Blick des Europäers, der seit über 15 Jahren in Japan lebt, ist noch immer neu und neugierig. Er verzichtet auf Auto und Shinkansen, seine Welt ist langsam. Er lässt sich treiben, lässt den Zufall entscheiden, nimmt Abzweigungen und unbekannte Wege. Sein Schreiben tut es ihm gleich, es ufert aus, mäandert, kehrt zurück. Der literarische Ertrag dieser kleinen Unternehmungen sind die nunmehr vorliegenden 'Capriccios' - meist leichte, auch launische Stücke in Prosa und Lyrik.

Federmair, Leopold Geboren 1957 in Oberösterreich, Studium der Germanistik, Publizistik und Geschichte an der Universität Salzburg. Er ist als Schriftsteller, Essayist, Kritiker und Übersetzer tätig (Übersetzungen aus dem Französischen, Spanischen und Italienischen, u. a. Werke von Michel Houellebecq, José Emilio Pacheco, Francis Ponge). Ausgezeichnet u. a. mit dem Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung. Leopold Federmair lebt in Hiroshima, wo er an der Universität Deutsch unterrichtet.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR27,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR22,99

Produkt

Klappentext'Das neue Jahr tagt und die Spatzen erzählen alte Geschichtchen.' Das Neue und das Alte, das Zentrum und die Peripherie; das schrille, laute, das voll Urbane und die einsamen, weitläufigen Landschaften rund um Hiroshima: Leopold Federmair begibt sich als autobiografischer Erzähler seiner 'Capriccios' gehend, mit dem Fahrrad oder dem Boot auf 'Regionalreisen'. Das meist unbestimmte Ziel ist seine Stadt mit ihren Bezirken, Rändern, ihrem Außerhalb. Als 'Erforscher des Unscheinbaren' interessiert ihn das Normale und Kuriose im Alltäglichen. Das Frühere und Vergangene zu bewahren, gelingt ihm in vielfältigen Er-Gehungen, Er-Fahrungen: 'In Wort und Bild rette ich dies und jenes vor dem Verschwinden.' Der Blick des Europäers, der seit über 15 Jahren in Japan lebt, ist noch immer neu und neugierig. Er verzichtet auf Auto und Shinkansen, seine Welt ist langsam. Er lässt sich treiben, lässt den Zufall entscheiden, nimmt Abzweigungen und unbekannte Wege. Sein Schreiben tut es ihm gleich, es ufert aus, mäandert, kehrt zurück. Der literarische Ertrag dieser kleinen Unternehmungen sind die nunmehr vorliegenden 'Capriccios' - meist leichte, auch launische Stücke in Prosa und Lyrik.

Federmair, Leopold Geboren 1957 in Oberösterreich, Studium der Germanistik, Publizistik und Geschichte an der Universität Salzburg. Er ist als Schriftsteller, Essayist, Kritiker und Übersetzer tätig (Übersetzungen aus dem Französischen, Spanischen und Italienischen, u. a. Werke von Michel Houellebecq, José Emilio Pacheco, Francis Ponge). Ausgezeichnet u. a. mit dem Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung. Leopold Federmair lebt in Hiroshima, wo er an der Universität Deutsch unterrichtet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783701363100
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum29.09.2023
Seiten330 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4436 Kbytes
Artikel-Nr.13389871
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Hiroshima 2019
1

Erst wenn du etwas zu verlieren beginnst, entsteht eine Geschichte. Je mehr Verluste, desto mehr Erinnerung, desto mehr Erzählung. Was natürlich bedrückend, lebenshemmend wirken kann.
2

An keinem Ort habe ich so lange gelebt wie in Hiroshima. Dreizehn Jahre, kein Jubiläum, keine runde Zahl - ich hätte mit dieser Erzählung hier warten können, bis es fünfzehn oder zwanzig Jahre sind. Aber ob ich dann noch hier sein werde? Ob ich dann noch lebe? Der Lauf der Geschichte oder des Zufalls will es, daß dieses Datum, das Gegebene , mit einem anderen Datum zusammenfällt, einem Ende und Neubeginn. Nach dreißig Jahren geht die Amtszeit des alten Tenno zu Ende, ein neuer tritt an. Es war die versprochene Friedenszeit ( Heisei ), aber auch eine deprimierende Zeit, eine verewigte Krise ohne große Hoffnung auf eine Lösung; die jungen Leute haben mehr Angst vor der Zukunft als Vertrauen in sie. Vor kurzem wurde Shoko Asahara gehängt, der Guru einer religiösen Sekte, verantwortlich für das Giftgasattentat 1995 in der U-Bahn von Tokyo, bei dem zwölf Menschen starben und hunderte verletzt wurden. Nach dem Erdbeben und Tsunami in Tohoku, mit der drohenden Atomkatastrophe, hatten wir Angst, das Land könnte zerbrechen. Letztes Jahr ging in unserer Gegend ein schwerer, schier endloser Regen nieder, neben unserem Haus rutschte, vom Gipfel weg, ein ganzer Berghang herunter, die Spuren sind unübersehbar, ich muß mich nur umwenden: Blick durch das Balkonfenster, wie damals, als ich, schlaflos im Morgengrauen, das große Grollen gehört hatte und sofort aufgesprungen war.

Heisei. Reiwa. å¹³æã 令åã Geht mich das etwas an? Schwer zu sagen, was die neue Maxime - wenn es eine ist und sein soll - eigentlich bedeutet. Zwei Schriftzeichen aus einem alten japanischen Gedicht, dem Lied von der Pflaumenblüte, die man in Kyoto oder Hiroshima schon kurz nach Neujahr sehen kann, die erste Baumblüte und deshalb besonders herzerfreuend, hoffnungsvoll. Früher stammten die kaiserlichen Maximen aus alten chinesischen Texten, die die Frühzeit der japanischen Kultur prägten. Gut so; eine nationalistische Geste, wie sie das mißtrauische Kommentatorenvolk zu erkennen glaubte ( Japan snubs China at dawn of new imperial era , lautete die Schlagzeile in der Japan Times), kann ich darin nicht sehen. Auch die japanische Hymne ist ja ein recht friedliches Gedicht aus dem zehnten Jahrhundert, ohne Kriegsgetrommel (aux armes citoyens, the bombs bursting in the airâ¦), ohne Prahlerei (das begnadete Volk großer Söhne und, neuerdings, Töchter).

Wir wohnen fern von der Stadt, mehr oder weniger auf dem Land, in einer administrativen Zone, die sich Higashi-Hiroshima nennt, früher eine Handvoll verstreuter Ansiedlungen von Reisbauern, Sakeproduzenten und Fischern, heute von Universitäten, Forschungszentren und Zulieferfirmen für den Autohersteller Matsuda durchsetzt. Immer noch viele Reisfelder, auch Sakebrauereien, bewaldete Berge, weiter unten, in westlicher Richtung, dann Kure mit seiner Werft und den Kriegsschiffen, die die US-Streitkräfte damals nicht mit der Atombombe belegten, sie zogen es vor, ihren Little Boy über dichtbesiedeltem Gebiet abzuwerfen. Dorthin, in die Stadtmitte von Hiroshima, komme ich selten, gebildet wird sie vom Friedenspark, über dem am Morgen des 6. August 1945 der große Wolkenpilz aufstieg und der schwarze Regen fiel, und der vom Park abgehenden Einkaufsstraße, die am Parco-Gebäude endet, einem ewig-jugendlichen Einkaufspalast für mehr oder minder schicke Kleider - dahinter beginnt das eher schmuddelige Vergnügungsviertel.

Ich komme selten hin, aber das hat Vorteile, zumindest den, daß ich die Stadt immer wieder wie zum ersten Mal sehe, mit dem aufmerksamen, staunenden Blick. Neulich, am ersten Tag des ersten Jahres der Reiwa-Ära, zu Beginn des Wonnemonats Mai, das Staunen über die Bäume, die Leuchtkraft des hellgrünen Blattwerks der kusunoki, der Kampferbäume (häßlicher Name, der so gar nicht der Sache gleicht), und den Kontrast der dunklen, fast schwarzen Äste, die es tragen. Ein Gespräch über Bäume ist fast ein Verbrechen - an diese Gedichtzeile Bertolt Brechts mußte ich denken, als ich das erste Mal hierherkam, und später immer wieder der Gedanke: Aber es ist kein Verbrechen und schließt auch kein Schweigen ein. Diese Bäume wurden kurz nach der Katastrophe gepflanzt, damit neues Leben entstehe trotz all des Grauens, und die Leute, die sie gepflanzt haben, sind mit ihnen älter geworden, einige von ihnen, schon gebückt, pflegen sie noch heute, und wenn ich diese alten Männlein und Weiblein sehe, sechzehn Jahre nach meinem ersten Spaziergang hier, kann ich nicht umhin, mich zu fragen, ob in zehn, zwanzig Jahren noch jemand kommen wird, um den Boden um die Stämme herum zu harken. Die Frau, die ich einmal hier in der Nähe, in einem St-Marc-Café, getroffen und befragt habe, 1945 war sie eine sechzehnjährige Schülerin, die zwischen Trümmern nach ihren Eltern und Geschwistern suchte und verstrahlt wurde, diese Frau wird bald neunzig sein. Nein, ein Gespräch über Bäume ist kein Verbrechen, wie nach Auschwitz ja auch weiterhin Gedichte geschrieben wurden, und zwar keineswegs von Barbaren, und es immer noch ein richtiges Leben im falschen gibt. Gedichte, Gespräche: keine Un-, sondern Wohltat.

Auf der Terrasse des Cafés am Rand des Parks, auf der anderen Seite des Flusses Motoyasugawa, bin ich manchmal gesessen, aber jetzt ist es mir zu überlaufen, und außerdem verwenden sie für den Orangensaft Früchte aus Kalifornien, obwohl die ganze Gegend der Setonaikai voll ist von Zitrusfrüchten, die gar nicht alle geerntet werden können. Pedantisch erheben sich die Orangenpyramiden mit den winzigen Aufklebern vor dem Lokal; als ich den Geschäftsführer einmal zur Rede stellte, gab er vor, nicht zu begreifen, wovon die Rede war, und entschuldigte sich fünfmal, sumimasen. Zuerst die Bombe, dann die Orangen. Und großspurige Touristen, aber diesen Sarkasmus ersparte ich ihm.

Ja, die Flüsse, sieben an der Zahl. Von Zeit zu Zeit nehme ich eines der Boote, die hier ablegen, fahre durch das Flußsystem hinaus auf das offene Meer und weiter nach Miyajima, wo ich unseren heiligen Berg besteige, den Misen, nicht ohne zuvor den finsteren Tunnel unter dem Daisho-in durchquert und meine Sicht der Dinge gereinigt zu haben, um für die Helle empfänglich zu sein - eine wahre Wiedergeburt. Die vielen Flüsse, Kanäle und Rinnsale, die die Stadt durchziehen, hatten am 6. August 1945 die Lage der Bewohner zusätzlich verschärft, weil das Wasser heiß und verseucht war (was sie nicht wußten) und die Brücken zerstört, so daß viele eingeschlossen waren, Fluchtwege versperrt. Heute gehören die Spaziergänge an den Ufern, wo sich winzige Krebse tummeln, zum Schönsten, auch der Geruch nach Schlamm und Salzwasser in den Stunden der Ebbe, wenn sich das Meer zurückgezogen hat, und ebenso die zitternden Lichter auf der Wasseroberfläche, nachts, wenn das Meerwasser wiedergekehrt ist und sacht an die Wandungen schlägt.

Und die Stadtberge, der Hijiyama, für mich das, was in meiner Salzburger Zeit der Mönchsberg war. Diese kräftige, aber nicht gar zu arg wuchernde Natur, gewiß auch vermenschlichte Natur. Ich erinnere mich an einen Tag Ende August, zwei Wochen vor der Geburt meiner Tochter, als ich zum ersten Mal Bekanntschaft mit der hiesigen Feuchthitze machte, umherziehende Hitzeschwaden, denen man körperlich begegnet und denen man nicht ausweichen kann, weil sie unsichtbar sind und außerdem schon die nächste folgt. Tapfer bin ich trotzdem weitergegangen, wie immer die Weite und mögliche Grenzen ausloten wollend, und stieß an der Südspitze des, ja, schiffsförmigen Berges auf einen buddhistischen Friedhof, an dessen Ende sich der Blick weitete und die Stadt unter mir lag und der Hafen in der Ferne und die Setonaikai und die Inseln, rechts hinten auch Miyajima. Ein kleiner Obelisk erinnerte an sieben französische Marinesoldaten, die im Jahr 1900 hier oder auch in China, wo sie mit einem Expeditionscorps während des Boxeraufstands im Einsatz waren, ihr Leben ausgehaucht hatten. Die Inschrift dankt den Japanern, die ihre Landsleute (compatriotes), die schwerverletzten Franzosen, so aufopfernd gepflegt hätten. Etwas abseits noch ein fremdes Grabmal, darauf nur ein Name und die Eckdaten: O. Pape, geb. 5. Feb. 1885, gest. 18. März 1918 . So steht es da in deutschen Kürzeln, Gott sei der unbekannten Seele gnädig.*

Damals, und heute wieder, nahm ich den Weg an der Vorderseite des Berges, der Stadtmitte entgegen, vorbei an den hübschen tonnenförmigen, weiß und hellrosa gestrichenen Gebäuden des Zentrums zur Erforschung der Auswirkungen atomarer Bestrahlung, das die Amerikaner in der Besatzungszeit hier gegründet hatten, nachdem sie ihre neue...
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Autor

Federmair, Leopold

Geboren 1957 in Oberösterreich, Studium der Germanistik, Publizistik und Geschichte an der Universität Salzburg. Er ist als Schriftsteller, Essayist, Kritiker und Übersetzer tätig (Übersetzungen aus dem Französischen, Spanischen und Italienischen, u. a. Werke von Michel Houellebecq, José Emilio Pacheco, Francis Ponge). Ausgezeichnet u. a. mit dem Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung. Leopold Federmair lebt in Hiroshima, wo er an der Universität Deutsch unterrichtet.