Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Im Spiegel des Vergessens

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
290 Seiten
Deutsch
Unionsverlagerschienen am20.12.20151. Auflage
St. Petersburg Ende der Vierzigerjahre: Nach einer langen Reise quer durch den Kontinent klopft der junge Tschuktsche Gemo naiv am Portal der Universität an, weil er dort studieren will. Weit war die Reise von der Halbinsel Tschukotka, fremd ist die russische Kultur, mühsam der Lebensunterhalt, das Schreiben tschuktschischer Lehrbücher. Schriftsteller will er werden, obwohl er den Stempel des kulturellen Außenseiters trägt und die Zensurbehörden mit den Geschichten über seine Heimat provoziert, trotzdem: Gemo gelingt als erstem Schriftsteller seines Volkes der Sprung in den Literaturbetrieb. Seine Herkunft und seine Vergangenheit lassen ihn jedoch nicht los.

Juri Rytchëu, geboren 1930 als Sohn eines Jägers in der Siedlung Uëlen auf der Tschuktschenhalbinsel im äußersten Nordosten Sibiriens, war der erste Schriftsteller dieses nur zwölftausend Menschen zählenden Volkes. Mit seinen Romanen und Erzählungen wurde er zu einem berufenen Zeugen einer bedrohten Kultur. Juri Rytchëu starb 2008 in St. Petersburg.
mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR9,90
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR8,99

Produkt

KlappentextSt. Petersburg Ende der Vierzigerjahre: Nach einer langen Reise quer durch den Kontinent klopft der junge Tschuktsche Gemo naiv am Portal der Universität an, weil er dort studieren will. Weit war die Reise von der Halbinsel Tschukotka, fremd ist die russische Kultur, mühsam der Lebensunterhalt, das Schreiben tschuktschischer Lehrbücher. Schriftsteller will er werden, obwohl er den Stempel des kulturellen Außenseiters trägt und die Zensurbehörden mit den Geschichten über seine Heimat provoziert, trotzdem: Gemo gelingt als erstem Schriftsteller seines Volkes der Sprung in den Literaturbetrieb. Seine Herkunft und seine Vergangenheit lassen ihn jedoch nicht los.

Juri Rytchëu, geboren 1930 als Sohn eines Jägers in der Siedlung Uëlen auf der Tschuktschenhalbinsel im äußersten Nordosten Sibiriens, war der erste Schriftsteller dieses nur zwölftausend Menschen zählenden Volkes. Mit seinen Romanen und Erzählungen wurde er zu einem berufenen Zeugen einer bedrohten Kultur. Juri Rytchëu starb 2008 in St. Petersburg.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293304550
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum20.12.2015
Auflage1. Auflage
Seiten290 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1888 Kbytes
Artikel-Nr.13418106
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



2


Die Umgebung des Moskauer Bahnhofs verblüffte Nesnamow. Vor allem sprang der Überfluss an Esswaren in die Augen, die in allen Kiosken, an Ladentischen, mitunter sogar von Hand zu Hand verkauft wurden - Brot, Wurst, Butter, verschiedene Spirituosen. Am Newski-Prospekt gab es zwar keinen so schwunghaften Handel, dafür überraschten die Aufdringlichkeit ausländischer Reklame und die blitzenden Schaufenster, die vielen Bistros und Restaurants. Da gab es sogar einen englischen Pub, ein Bierlokal, das von einfacheren Leuten offenbar kaum besucht wurde. Ein endloser Strom glänzender Autos erfüllte die breite Straße, erinnerte unwillkürlich an Berichte der wenigen sowjetischen Reisenden, die Gelegenheit gehabt hatten, mit eigenen Augen den Westen zu sehen. Es hatte gar nicht lange gedauert, und die Dichte des Autoverkehrs im ehemaligen Leningrad, dem jetzigen Petersburg, hatte das westliche Niveau erreicht und vielleicht sogar übertroffen. Ganz bestimmt aber der Gestank der Abgase.

Dennoch, wenn man den Blick hob und nach vorn sah - der Newski war nach wie vor die pfeilgerade Straße, die zum freien Wasser führte - zur Newa.

»Wie kommen wir dahin?« fragte Korawje, der jedes Mal zusammenzuckte und sich erschrocken umsah, wenn vom Stromabnehmer der Straßenbahn knisternd die Funken sprühten. Guchuge war darauf bedacht, möglichst am Rand des Bürgersteigs zu gehen, da er befürchtete, ihm könne von einem oberen Stockwerk etwas Schweres auf den Kopf fallen.

Nur Gemo blieb zumindest äußerlich ruhig. Er erinnerte sich noch gut an die Hinweise erfahrener Leute, wie man sich in der Stadt orientieren müsse, mit welcher Straßenbahn oder welchem Trolleybus sie zu der auf einer Insel gelegenen Universität kämen. Die erste Orientierungshilfe war schnell gefunden - der pfeilgerade Newski mit seinen funkelnden Lichtern und den dröhnenden Straßenbahnen, auf dessen nassem, feuchtem Asphalt sich ein Regenbogen spiegelte - es regnete!

»Sollten wir nicht lieber zu Fuß zur Universität gehen?« schlug Korawje bedachtsam vor. »Das ist irgendwie gewohnter und sicherer.«

»In der Straßenbahn könnte uns sogar ein Stromschlag treffen - wie das blitzt!« Gemo zeigte auf einen Funken sprühenden und dröhnenden Wagen, der soeben vorbeibrauste.

Er erinnerte sich an den Stromschlag, der ihn damals in der Schule durchzuckte, als er die Hand in eine leere Lampenfassung steckte: Die Elektrizität bezogen sie von einem Windmotor, aber die Glühbirnen reichten nicht, einige schwarze Fassungen hatten leer dagehangen und Neugierige verführt.

Da war es nun, Leningrad, sein langjähriger Traum noch aus Schulzeiten, da der Lehrer für Literatur und russische Sprache, Lew Wassiljewitsch Belikow, ihnen von dieser wunderschönen Stadt erzählt hatte - voll herrlicher Paläste, mit Flüssen, deren Ufer in Granit gefasst sind, und mit den in den Himmel ragenden goldenen Spitzen der Admiralität und der Peter-und-Pauls-Festung. Jetzt verbargen sich die Spitzen hinter den Wolken eines tief hängenden, regnerischen Himmels. Die Stadt machte einen zwiespältigen Eindruck: Zu lange hatte Gemo von einer Begegnung mit ihr geträumt, hatte er die wenigen Bilder in Büchern betrachtet, sich ihr Aussehen aufgrund der Erzählungen seiner Lehrer in der Fantasie ausgemalt. In Wirklichkeit war Leningrad ganz anders, fremd, feucht und kalt. Viele Häuser, deren Putz abgebröckelt war, machten einen jämmerlichen Eindruck. Ganze Stadtviertel waren von schmutzigen Bretter- und Sperrholzzäunen eingefasst, aus den Torbögen stank es nach saurem Essen und feuchten Fußlappen. Die von der langjährigen Belagerung, von Artilleriebeschuss und Bomben stammenden Kriegswunden waren nur notdürftig übertüncht worden - mit Farbe, die schon wieder abblätterte.

Als die Jungen die verräucherten Arkaden des Kaufhofs »Gostiny dwor« hinter sich gelassen hatten, schnupperte Korawje plötzlich und sagte: »Ich rieche ein großes Wasser.«

Doch vor ihrer Begegnung mit der Newa tauchte rechter Hand der in vielen Büchern über die Revolution abgebildete Bogen des Generalstabsgebäudes auf. Er war nicht zu verkennen. Durch ebendiese steinerne Enge hatten die Matrosen- und Rotgardistenscharen zum Sturm auf das Winterpalais, den Stammsitz der Monarchen, angesetzt. Das Palais selbst wirkte durch den Regenschleier erstaunlich niedrig, nicht so beeindruckend, wie sie erwartet hatten.

Alle hielten unwillkürlich inne, da aber rief Gemo: »Schaut nur, die große Brücke vorn!«

Die Newa verblüffte sie durch ihre gewaltigen Wassermassen und ihre Majestät. Allenfalls der große tschuktschische Fluss Anadyr hielt einem Vergleich mit ihr stand. Die Brücke wirkte unendlich lang, sie dröhnte und bebte unter der Last einer darüber fahrenden Straßenbahn. Darunter brodelte schwarzes Wasser, das den Geruch von feuchter Frische verbreitete. Gemo glaubte sogar einen Fischgeruch wahrzunehmen, wie er für das braune Wasser des Anadyrer Limans charakteristisch ist. Vielleicht schwammen auch hier, tief im dunklen Wasser, Schwärme unbekannter russischer Fische, die es zu den Wassern des Baltischen Meeres zog.

Jenseits der Brücke bogen sie nach links ab, und vom Flussufer kamen sie zu Häusern, die so eng aneinander gedrängt standen, als hätte beim Bauen der Platz nicht gereicht. Mächtige Steintreppen führten hinauf zu einer unermesslich großen Tür, die für gigantische Tiere oder Riesen bestimmt zu sein schien.

Vor dem gläsernen Haupteingang zur Universität, einem, wie sich herausstellte, niedrigen, in fernes feuchtes Dunkel führenden, zweistöckigen Gebäude, brannte eine Laterne.

»Wir sind da!« rief Gemo müde und zufrieden und nahm den tüchtig ramponierten Sperrholzkoffer von der Schulter, den er in der Tischlerei der Anadyrer Pädagogischen Lehranstalt eigenhändig gezimmert hatte.

Doch ungeachtet der Erleichterung, dass sie nun am Ziel waren, spürte er plötzlich Unruhe. Alles war ganz anders, als er es sich vorgestellt und erträumt hatte.

Hinter dunklem Glas war die Gestalt eines Menschen zu erkennen. Guchuge, der besonders gute Augen hatte, schaute hin und sagte: »Er sieht aus wie der Kapitän vom Eisbrecher Jossif Stalin .«

Und wirklich, die Gestalt hinter der Tür trug eine Kapitänsmütze mit funkelndem vergoldetem Rand, und die Ärmel des Uniformmantels waren von breiten gelben Streifen gesäumt.

Guchuge klopfte zaghaft. Die Tür öffnete sich schwer und langsam, aber ohne zu knarren, und durch einen Schnurrbart ertönte eine volle, tiefe Stimme: »Wer seid denn ihr? Abiturienten?«

Abiturienten ... Das Wort kannten die Jungen noch nicht. War es vielleicht die Bezeichnung für irgendein Volk?

»Wir ... wir sind Tschuktschen«, antwortete Guchuge.

Der Wachmann zögerte erst und sagte dann gedehnt: »Ach, Tschuktschen!« Die Tür ging langsam wieder zu.

Schweigend blieben die müden Weggefährten einige Minuten vor der geschlossenen Tür stehen.

»Na, hör mal!« tadelte Korawje seinen Kameraden. »Du hättest sagen sollen, wir sind zum Studium hergekommen. Und dann - was bist du schon für ein Tschuktsche? Du bist doch ein Eskimo, ein Inuit!«

»Das ist doch egal!« Guchuge spuckte enttäuscht aus. »Da hast du deine viel gepriesene russische Gastfreundschaft! Was machen wir jetzt? Ob wir noch mal klopfen?«

»Nein«, entschied Gemo. »Klopfen werden wir nicht mehr. Wir verbringen irgendwo die Nacht. Dieser Mann ist ein Schweizer, ein Wachmann.«

»Offenbar holte man die ersten dieser Wachleute aus der Schweiz«, vermutete Korawje, der Geschichte studieren wollte.

Die ganze Luft war von Feuchtigkeit durchtränkt, die ihnen von überall her zusetzte. Richtige Regentropfen, wie sie es gewohnt waren, gab es aber nicht. Nachdem sie eine Weile auf der Uferstraße herumgeschlendert waren, immer darauf bedacht, nicht in die Steinschluchten der Straßen einzutauchen, ließen sich die Jungen unter den ägyptischen Sphinxen gegenüber der Akademie der Künste nieder.

Gemo fand fast keinen Schlaf. Er dachte darüber nach, wie für ihn im Morgengrauen, das mühsam durch den feuchten Schleier drang, nicht nur ein neuer Tag beginnen würde, sondern auch ein völlig neues Leben, dem früheren im alten Uëlen gar nicht mehr ähnlich.

In der Fakultät für die Völker des Nordens entfiel für deren Zugehörige der Ausscheidungskampf, das Aufnahmeexamen war eher eine Formalität als eine strenge Prüfung. Nach der Immatrikulation wurden die drei wie alle ersten Semester zum Ernteeinsatz beordert.

Im Dorf kamen sie nachts an, und gegen Morgen vernahm Gemo durch die dünnen Wände des Heuschuppens plötzlich einen gellenden Schrei, als wäre es ein Hilferuf. Er trat hinaus in die Morgendämmerung und erblickte auf einem schiefen Zaun einen bunten, seltsam gefärbten Vogel. Mit weit geöffnetem Schnabel schrie er immer wieder, und Gemo erriet sogleich, dass es der in der russischen Literatur so schön beschriebene Hahn sein müsse und sein Schrei das berühmte Krähen ... Er lachte laut auf, der Hahn schielte beleidigt zu ihm hin, schüttelte seinen roten Kamm und krähte lauter als zuvor. Die jungen Burschen arbeiteten nur zwei Tage auf dem Dorf.

Der zum Kutscher bestimmte Korawje fürchtete sich, den Pferden nahe zu kommen, und Guchuge versteckte sich, um einer Begegnung mit den Kühen zu entgehen,...


mehr

Autor

Juri Rytchëu, geboren 1930 als Sohn eines Jägers in der Siedlung Uëlen auf der Tschuktschenhalbinsel im äußersten Nordosten Sibiriens, war der erste Schriftsteller dieses nur zwölftausend Menschen zählenden Volkes. Mit seinen Romanen und Erzählungen wurde er zu einem berufenen Zeugen einer bedrohten Kultur. Juri Rytchëu starb 2008 in St. Petersburg.

Bei diesen Artikeln hat der Autor auch mitgewirkt