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Die goldene Stunde

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
240 Seiten
Deutsch
Verlag Klaus Wagenbacherschienen am01.02.2024
Mari, Ahmad und Tarik wissen nicht weiter. Alle drei sind auf der Suche nach Trost und Errettung und finden sie nicht. Ahmad ist vor dem Krieg in seiner Heimat geflohen, stieß in den Niederlanden jedoch auf neue Hindernisse. Mari wollte ihn beschützen und lieben, aber es gelang ihr nicht. Und der ehemalige Soldat Tarik hat sich in ein abgelegenes Grenzgebiet zurückgezogen, doch sein Gewissen nagt an ihm. Dort trifft er nun auf Mari, die mittlerweile ihr Zuhause hinter sich gelassen hat, nachdem ihr idealistisches Projekt katastrophal gescheitert ist. Die drei Leben sind auf fatale Weise miteinander verflochten, die Geschichte droht sich zu wiederholen - und dennoch gibt es Hoffnung. Wytske Versteeg verfügt über eine besondere Menschenkenntnis, große Empathie und Scharfsinn. So schafft sie es, in äußerst prägnanten Bildern und Dialogen die Konflikte unserer Zeit in einen reichen, vieldeutigen Roman zu verwandeln. Ein lange nachhallendes Leseerlebnis.

Wytske Versteeg, geboren 1983, Politikwissenschaftlerin, Essayistin und Romanautorin, schrieb ihr Debüt 2012. Ihr zweiter Roman »Boy«, in mehrere Sprachen übersetzt, erschien auf Deutsch bei Wagenbach. Für ihre Werke erhielt Versteeg zahlreiche Literaturpreise. Sie lebt in Delft.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR26,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR22,99

Produkt

KlappentextMari, Ahmad und Tarik wissen nicht weiter. Alle drei sind auf der Suche nach Trost und Errettung und finden sie nicht. Ahmad ist vor dem Krieg in seiner Heimat geflohen, stieß in den Niederlanden jedoch auf neue Hindernisse. Mari wollte ihn beschützen und lieben, aber es gelang ihr nicht. Und der ehemalige Soldat Tarik hat sich in ein abgelegenes Grenzgebiet zurückgezogen, doch sein Gewissen nagt an ihm. Dort trifft er nun auf Mari, die mittlerweile ihr Zuhause hinter sich gelassen hat, nachdem ihr idealistisches Projekt katastrophal gescheitert ist. Die drei Leben sind auf fatale Weise miteinander verflochten, die Geschichte droht sich zu wiederholen - und dennoch gibt es Hoffnung. Wytske Versteeg verfügt über eine besondere Menschenkenntnis, große Empathie und Scharfsinn. So schafft sie es, in äußerst prägnanten Bildern und Dialogen die Konflikte unserer Zeit in einen reichen, vieldeutigen Roman zu verwandeln. Ein lange nachhallendes Leseerlebnis.

Wytske Versteeg, geboren 1983, Politikwissenschaftlerin, Essayistin und Romanautorin, schrieb ihr Debüt 2012. Ihr zweiter Roman »Boy«, in mehrere Sprachen übersetzt, erschien auf Deutsch bei Wagenbach. Für ihre Werke erhielt Versteeg zahlreiche Literaturpreise. Sie lebt in Delft.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783803143884
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum01.02.2024
Seiten240 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse755 Kbytes
Artikel-Nr.13511419
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Tarik

Von seinem Haus, hoch über dem Dorf, konnte Tarik sie schon von Weitem sehen. Langsam nahm der Jeep die serpentinenreiche Schotterstraße und hinterließ eine Staubwolke, die sich erst allmählich wieder legte. Genau wie in den Western, die er früher gern gesehen hatte, erschien der Fremde in einer Staubwolke, war der Feind schon kilometerweit zu sehen. Aber anders als in diesen Filmen hatte Tarik an diesem Tag keinerlei Vorahnung, keine Vorstellung von den Veränderungen, die die Frau bewirken würde. Natürlich hatte man im Dorf über sie geredet, so wie es hier üblich ist. Jede Neuigkeit ist Teil eines Refrains, jedes Thema wird ständig wiederholt.

Es dauerte, bis er sich nach seiner Rückkehr wieder daran gewöhnt hatte. Mit fünfzehn war er nach Daresh zur Armee gegangen. Seine Mutter hatte ihm eine Tasche gepackt, ihm Brot, Eier und Datteln mitgegeben, ein Stück Schafskäse und in Seidenpapier gewickelte saubere Kleidung, die er nie tragen würde. Sie war hinter dem Pick-up hergerannt, um ihm nachzuwinken, winkte mit beiden Armen, bis sie aus seinem Blickfeld verschwand und vermutlich noch lange danach.

An der Bushaltestelle kaufte ihm sein Vater eine Fahrkarte und gab ihm förmlich die Hand, bevor er zum Pick-up zurückging. Er wartete nicht, bis der Bus kam. Tarik erinnert sich noch an seinen kleiner werdenden Rücken, an das Hemd und die Weste, die er trotz der Hitze noch darüber trug, an die Mütze über seinem gebräunten Nacken; er erinnert sich an den Abgrund, der sich unter seinen Füßen auftat, an die plötzliche Gewissheit, ihn nie mehr wiederzusehen. An den kindlichen Impuls, ihm nachzurennen, etwas zu rufen, was seinen Vater dazu bewegen würde, sich umzudrehen und ihm noch etwas zu sagen: dass er ruhig fortgehen dürfe, dass es ihm freistehe, das Dorf zu verlassen und in die weite Welt hinaus zu ziehen, dass ihn die Bäume nicht bräuchten, dass sie zu Hause auch ohne ihn klarkämen. Gleich darauf wünschte er sich genauso inständig das Gegenteil: dass sein Vater sich umdrehen und ihm die Busfahrkarte aus der Hand reißen würde, weil er unentbehrlich war. Dass er ihn wieder mit nach Hause nähme, wo seine Mutter bereits auf ihn warten und ihn umarmen würde, ohne sich auch nur eine Sekunde zu wundern. Ein Bus wurde angekündigt, aber nicht der seine, ein Mann mit großen Taschen hastete an ihm vorbei, und als er aufsah, war sein Vater verschwunden, die Menge hatte sich wieder geschlossen. Einmal, vor vielen Jahren, war er mit dem Vater in den Bergen unterwegs gewesen und weit zurückgefallen. Bei diesen Touren durfte er nie fragen, wie weit es noch war oder wohin sie gingen. Er durfte weder sagen, dass er Durst hatte, noch über seine schmerzenden Füße klagen. Er musste zeigen, dass er ein Mann war. Der Vater tippte mit seinem Stock gegen jeden Felsen, an dem sie vorbeikamen, die metallische Spitze machte ein kurzes klirrendes Geräusch. Anfangs liefen sie stets nebeneinander her, doch bald ging sein Vater vor, und der Abstand vergrößerte sich zunehmend. Eines schrecklichen Freitags verloren sie sich aus den Augen, bei jeder Kurve redete er sich ein, den Vater hinter der nächsten wiederzusehen, bestimmt würde er dort auf ihn warten. Aber da war niemand, nur Stille und eine große Angst - jetzt, wo er vollkommen allein war. Dieselbe Angst beschlich ihn jetzt, denn hier kannte ihn niemand und niemand würde ihn retten. Also setzte er sich auf den Rand des Bürgersteigs, den Rucksack neben sich, einen Arm schützend darum gelegt, bis Stunden später endlich sein Bus kam.

Der Bus war eine Klapperkiste, die ein reicheres Land ausrangiert hatte. Beim Anfahren stieß er dicke schwarze Abgaswolken aus. Der Kunstledersitz wurde in der Sonne ganz heiß und blieb an seinen Beinen kleben. Das machte bei jeder Bewegung ein peinliches Geräusch, weshalb er möglichst still sitzen blieb. Unterwegs bemutterte ihn eine alte Frau. Während sie durch die Berge fuhren, ließ sie ihn saure Drops lutschen, und bevor sie ausstieg, strich sie ihm aufmunternd über die Hand. Er lehnte den Kopf gegen die Scheibe und spürte, wie sein Gesicht vibrierte. Manchmal wurden die Straßen zu schlecht, die Schlaglöcher zu groß, um so zu verharren. Olivenbaumskelette standen in der Landschaft, von wer weiß was für einem Unglück getroffen. Er drückte sich die Nase an der Scheibe platt, sah Händler am Straßenrand, Männer, die lässig eine Zigarette im Mundwinkel hängen hatten, Dörfer, die seinem ähnelten. Bestimmt hundert Mal sah er unterwegs sein Leben an sich vorbeiziehen - so viele Leben, dass ihm ganz schwindelig wurde. Je näher sie Daresh kamen, desto grüner wurde die kahle braune Landschaft. Die hartgekochten Eier, die seine Mutter ihm mitgegeben hatte, begannen in der Hitze zu stinken, ein Geruch, von dem ihm übel wurde. Er war froh, dass der Bus anhielt und er kurz aussteigen konnte, um frische Luft zu schnappen. Hier roch es anders, nicht so staubig wie zu Hause. Er hatte eine Heidenangst, allein zurückzubleiben, behielt den Fahrer krampfhaft im Auge, schlenderte nur um den Bus herum, damit man keinesfalls ohne ihn abfuhr. Weil er sich nicht traute, irgendwo reinzugehen, pinkelte er in den Straßengraben. Eine alte Frau schüttelte missbilligend den Kopf. Er sah einen kleinen Jungen in einem Mantel, der ihm bis zu den Füßen reichte, daneben einen Hund, fast so groß wie das Kind. Auf Bienenkörben am Straßenrand lagen verrostete Soldatenhelme, ein Obdachloser schlief unter einer mannshohen Werbetafel für Olivenöl.

Noch heute erinnert er sich, wie der Bus in Daresh ankam: an die wild hupenden Autos im Stau, an die Eisverkäufer mit ihren glänzenden Karren an jeder Straßenecke, an den Hochzeitskorso aus geschmückten Autos, an die aus den Fenstern lehnenden Menschen und an die allerschönste Braut, die er je gesehen hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er seine Schritte selbst lenken, selbst vorausgehen und woanders ankommen. Endlich hatte er die ausgetretenen Pfade um sein Dorf verlassen, wo sich alle gegenseitig belauerten, weil es sonst nichts zu sehen gab. Schon morgen würde er mit seiner Ausbildung beginnen, den alten Tarik abstreifen wie eine zu eng gewordene Haut. Er hatte jetzt eine neue Haut: eine Uniform. Im Dorf sprach man abschätzig über Menschen, die aus dem Nichts kamen, die ihre Wurzeln und damit auch ihre Pflichten vergessen hatten. Jetzt stand er selbst kurz davor, sich in jemanden zu verwandeln, der aus dem Nichts kam. Er sagte es leise vor sich hin - nicht abschätzig, sondern bewundernd, ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen und versuchte zu glauben, dass sie ihn meinten. Dieser junge Mann da? Dieser junge Mann kommt aus dem Nichts.

Der junge Mann aus dem Nichts war von der Armee verschluckt worden. Ehe er sich s versah, hatte sich die weite Ebene zu einem Ort ohne Aussicht, weit außerhalb der Stadt verengt, zu einem namenlosen Ort, es sei denn, man ließ Lager 33 als Name gelten. Zu viel der Ehre für etwas, was man nicht eindeutig als Ort bezeichnen konnte. Als er Jahre später von dort zurückkehrte, fühlte er sich wie jemand, der nach langer Krankheit erstmals wieder einen Fuß vor die Tür setzt. Die Stadt wirkte auf ihn anfangs viel zu laut und grell.

Dann die Zeit mit Karima, ein unverhofftes Geschenk. Immer wieder tat sich etwas auf, das auf keinen Fall verpasst werden durfte, immer wieder etwas Neues. Da war der Film, den sie unbedingt sehen mussten, die befreundete Band, die in einem verrauchten Kellerlokal spielte, das neu eröffnete Café, Diodatiboulevard/Ecke Straße der Revolution, oder eine Aufführung, bei der alle Tänzer Augenbinden trugen und sich trotzdem nicht anrempelten. Vieles davon war für einen normalen Menschen völlig unverständlich, war langweilig oder prätentiös, und manchmal schlief er mittendrin ein. Seltsamerweise änderte das nichts an seinem Staunen, seiner Verzückung darüber, dass es so etwas überhaupt gab: diese ganz eigene, ihm bis dahin völlig unbekannte Welt.

Aber die Verbindung hielt nicht, weil er nicht die richtigen Worte, die richtige Einstellung fand. Er wusste, dass er nicht an seine dunkle Seite rühren durfte. Die Erinnerung an das, was er in Lager 33 getan hatte, hatte er tief vergraben wie ein Hund seine Ausscheidungen, in einer Zone, die man nicht betreten durfte. Diese Zeit hatte eine ohrenbetäubende Stille in seinem Gedächtnis hinterlassen. Die Ironie, dass ausgerechnet er, der damals die Macht gehabt hatte, jetzt in dieser Zeit gefangen war, entging ihm nicht. Dass er Lager 33 genauso wenig verlassen konnte wie diejenigen, die er bewacht hatte.

Er verabschiedete sich nicht von Karima. Sie schlief noch, als er ging. In der Tür blieb er kurz stehen, um sich dieses Bild genauestens einzuprägen: ihr aufgefächertes Haar auf dem bestickten Kissen, ihre leicht geöffneten Lippen, das Zittern ihrer Wimpern und die Fältchen unter ihren Augen. Leise zog er die Tür hinter sich zu. Er verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen, und ging auf direktem Weg zum Bahnhof. Es war früh am Morgen und noch nicht allzu heiß. Die Straßenkehrer fegten träge mit ihren Strohbesen, die Händler waren damit beschäftigt, ihre Waren auszubreiten. Am Bahnsteig kaufte er einen Kaffee und eine Zugfahrkarte, die ihn über die Grenze bringen würde, er konnte es kaum erwarten, sein Land zu verlassen. Sein Rucksack war leicht, er besaß nicht viel, und was er besaß, hatte er bei Karima zurückgelassen. Er hatte ihr eigentlich einen Brief schreiben, ihr erklären wollen, warum er gehen musste. Er hatte sie um Verzeihung bitten, ihr schriftlich mitteilen wollen, was er nicht herausbrachte. Aber als er sich mit einem leeren Blatt Papier und einem Stift hingesetzt hatte, kamen...
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Autor

Wytske Versteeg, geboren 1983, Politikwissenschaftlerin, Essayistin und Romanautorin, schrieb ihr Debüt 2012. Ihr zweiter Roman »Boy«, in mehrere Sprachen übersetzt, erschien auf Deutsch bei Wagenbach. Für ihre Werke erhielt Versteeg zahlreiche Literaturpreise. Sie lebt in Delft.

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