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Stumme Zeit

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
400 Seiten
Deutsch
Dörlemann eBookerschienen am22.02.2024
Als Sönnich Petersen stirbt, ist niemand im Dorf am Watt traurig, am wenigsten seine Tochter Helma. Er war ein liebevoller Vater, der Krieg hatte ihn hart gemacht. Sein Tod fällt in eine Zeit, in der der aufkommende Tourismus neue Menschen und Gebräuche mit sich bringt. Immer mehr Inselbewohner wollen am Wohlstand teilhaben, auch Helma vermietet bald an Badegäste. Doch da ist noch etwas, was sie beschäftigt: Über ihre fru?h verstorbene Mutter wurde immer eisern geschwiegen. Auch um die Mutter ihres Kindheitsfreundes Rudi gibt es ein Geheimnis, sie wurde während des Krieges abgeholt und kam nie zuru?ck. Wie konnten die Frauen einfach so verschwinden? Warum fragte niemand nach ihnen? Die Suche nach Klarheit fu?hrt Helma und Rudi in die dunkelsten Kapitel der Geschichte ihrer Insel.

SILKE VON BREMEN, geboren 1959, wuchs auf einem Obsthof im Alten Land auf und lebt seit 1989 als G.stefu?hrerin auf Sylt. Die Autorin der Gebrauchsanweisung fu?r Sylt (Piper Verlag) bringt sich auf vielfältige Weise in das soziale, politische und kulturelle Leben der Insel ein. Ihr besonderes Engagement gilt seit Längerem dem Gedenken der Opfer der Sylter Wehrmachtsjustiz sowie dem bundesweit bekannten Bu?rgernetzwerk »Merret reicht's: Mitmachen, einmischen, anders denken, mit Spaß und Leidenschaft - aus Liebe zu Sylt«, das sich fu?r bezahlbaren Wohnraum fu?r Insulanerinnen einsetzt. Stumme Zeit ist ihr Debu?troman.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR25,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextAls Sönnich Petersen stirbt, ist niemand im Dorf am Watt traurig, am wenigsten seine Tochter Helma. Er war ein liebevoller Vater, der Krieg hatte ihn hart gemacht. Sein Tod fällt in eine Zeit, in der der aufkommende Tourismus neue Menschen und Gebräuche mit sich bringt. Immer mehr Inselbewohner wollen am Wohlstand teilhaben, auch Helma vermietet bald an Badegäste. Doch da ist noch etwas, was sie beschäftigt: Über ihre fru?h verstorbene Mutter wurde immer eisern geschwiegen. Auch um die Mutter ihres Kindheitsfreundes Rudi gibt es ein Geheimnis, sie wurde während des Krieges abgeholt und kam nie zuru?ck. Wie konnten die Frauen einfach so verschwinden? Warum fragte niemand nach ihnen? Die Suche nach Klarheit fu?hrt Helma und Rudi in die dunkelsten Kapitel der Geschichte ihrer Insel.

SILKE VON BREMEN, geboren 1959, wuchs auf einem Obsthof im Alten Land auf und lebt seit 1989 als G.stefu?hrerin auf Sylt. Die Autorin der Gebrauchsanweisung fu?r Sylt (Piper Verlag) bringt sich auf vielfältige Weise in das soziale, politische und kulturelle Leben der Insel ein. Ihr besonderes Engagement gilt seit Längerem dem Gedenken der Opfer der Sylter Wehrmachtsjustiz sowie dem bundesweit bekannten Bu?rgernetzwerk »Merret reicht's: Mitmachen, einmischen, anders denken, mit Spaß und Leidenschaft - aus Liebe zu Sylt«, das sich fu?r bezahlbaren Wohnraum fu?r Insulanerinnen einsetzt. Stumme Zeit ist ihr Debu?troman.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783038208969
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum22.02.2024
Seiten400 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1765 Kbytes
Artikel-Nr.13949261
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


 

Der Himmel hatte seit Tagen das undefinierbare Grau eines alten Feudels. Aber am Morgen frischte der Wind auf, zerriss den himmlischen Putzlappen und jagte bald darauf große, kompakte Wolken über die Insel.

Helma lebte lange genug in ihrem Elternhaus, um zu wissen, dass es gleich wieder losgehen würde. Diesem jaulenden Pfeifton, der zuverlässig immer dann durch ihr altes Haus zog, kurz bevor der Wind auf Nordwest umschlug, war einfach nicht beizukommen.

Er ging ihr durch Mark und Bein. Das Schlimmste daran war, dass dieses unerträgliche Geräusch von ihr selbst Besitz ergriff. Reflexartig wurde ihre eigene Atmung flacher, der Ton schlug ihr auf die Lunge, und sie wusste, es war das Klügste, wenn sie das Weite suchte. Vielleicht war es auch das Haus selbst, das aus dem letzten Loch pfiff. Wie ein Asthmakranker schien es nach Luft zu ringen, während draußen der Wind an den Türen und Fenstern rüttelte.

Das Beste war, einfach selbst rauszugehen, sich dem Wind zu stellen. Sie hätte dieses Gefühl, das ihr den Brustkorb zuschnürte, nicht einmal schildern können. Und unerfreulicherweise ging es jedes Mal einher mit der Stimme ihres verstorbenen Vaters, den sie sagen hörte: »Riet di tosamen.« Reiß dich zusammen.

Dieser Stimme war ebenfalls kaum beizukommen, sie saß in ihrem Innersten und kommentierte ungefragt all ihr Tun und Handeln. Wenn es dafür einen Knopf gegeben hätte, hätte Helma ihn lieber gestern als heute auf »Aus« gedreht.

Sie zog sich ihren Wollmantel an. Er hatte schon bessere Zeiten gesehen. Das Garn hatte am Bund und an den Unterarmen kleine Knötchen gebildet. Die meisten Knöpfe saßen locker, hingen wie gesenkte Köpfe nach unten und zeigten damit offenherzig die verschiedensten Fäden, mit denen sie immer wieder angenäht worden waren. Der Kragen des Mantels war, obwohl sie keine Cremes oder Make-up benutzte, speckig, was auch die braune Farbe des Wollstoffs nicht mehr kaschieren konnte.

So ganz passten sie nicht mehr zusammen, sie und ihr Mantel, der sie seit vielen Jahren begleitete. In dem sie sich aber so wohlfühlte, dass sie ihn eher bewohnte, als ihn zu tragen. Doch sie war dünner geworden, der Stoff umspielte ihre schlanke Figur nicht mehr, sondern schlotterte um ihren Körper. Sie sollte sich angewöhnen, sagte sie sich, einen dicken Pullover unter dem Mantel zu tragen.

Helma knotete sich den grauen Strickschal um ihren schlanken Hals und trat aus der hinteren Klöntür, um auf der windabgewandten Seite nach draußen zu kommen. Wenn sie zurückkehrte, würde sich ihr Elternhaus, das seit über zweihundert Jahren die härtesten Stürme abwetterte, von der Atemnot erholt haben.

Die großen Bäume, die noch Teile ihres Laubes trugen, wurden vom Wind kräftig geschüttelt. Er wollte wie jedes Jahr nackte Äste schaffen. Die Blätter flogen durch den Garten, um wirbelnd im Windschatten zwischen Haus und Stall ein paar Kreise zu ziehen und dann auf dem mit kleinen Feldsteinen gepflasterten Boden liegen zu bleiben. Missmutig schaute Helma auf die vor ihre liegende Arbeit, bevor sie auf die schmale Straße trat.

Noch vor einigen Jahren war es ein einfacher Sandweg gewesen, der direkt an ihrem Wall vorbeiführte. Lediglich dieser alte Steinwall und ein Stück Garten standen zwischen dem Weg, der vom Dorf zur Kirche führte, und ihrem Haus, dessen schmale Westseite zur Straße zeigte. Vor der langen Südwand, hinter deren Fenster sich seit eh und je die Wohnräume befanden und auch der Haupteingang ihres Hauses, lag ein einfaches Rasenstück, bestanden mit zwei großen Ulmen. Die alte Hauswand war mit Backsteinen und Muschelkalk aufgemauert. Wenn die Sonne auf die Wand schien, leuchteten die Steine in den verschiedensten Rottönen und wurden nur unterbrochen von regelmäßig gesetzten Kopfsteinen, die einen eigenwilligen dunklen Grünschimmer besaßen, wie man es bei anderen Häusern im Dorf nur selten fand. An ihrem Haus fanden sich links und rechts des Eingangs sogar Rautenmuster aus diesen Steinen, die sich im Giebel über der Tür noch einmal wiederholten. Was immer sich der frühere Baumeister dabei gedacht hatte, Helma gefiel es, dass sich ihr Haus dadurch von den anderen abhob. Der Wind schob sie förmlich vor sich her. Den Weg zur Kirche, der leicht anstieg, hätte sie blind zurücklegen können, er war ihr ein fast tägliches Ritual geworden. Um diese Tageszeit konnte sie damit rechnen, niemandem mehr zu begegnen. Die Saison war zu Ende, das Dorf hatte sich geleert und die Einheimischen hatten wenig Grund, bei aufkommendem Sturm vor die Haustür zu gehen. Es sei denn, man lebte in einem Haus, das offensichtlich Asthma hatte.

Die Kirchenpforte schwang im Wind hin und her und gab dabei einen leicht wimmernden Ton von sich. Helma musste sie nur anstoßen, um auf den Friedhof zu treten.

Familienbesuche nannte sie diese Spaziergänge. Ihre Familie schien auf die Welt gekommen zu sein, um diesen Friedhof zu bevölkern. Aber auch hier war die alte Ordnung durcheinandergeraten. Als Gunther Straubing, ein Zugezogener, auf den Friedhof ziehen musste, bekam er einen Platz direkt neben dem Eingang der Kirche.

Das war Helma wie ein Menetekel vorgekommen. Jahrhundertelang war es Sitte gewesen, dass um die Kirche herum die alten Familien des Dorfes lagen. Brodersen, Petersen, Johannsen, Nielsen, Janssen, Erken, Friedrichsen, Paulsen.

Die Wischkowskis, Tscherwonkas, Krokowiaks, Gniffkes, Zuntrums, Kruschkes, Milkereits und Straubings hatten am äußeren Rand zu liegen. Dort hätte er hingehört. Aber der neue Pastor wusste nichts von den alten Traditionen. Sie hatte auch keine Lust, ihm das zu verklaren. Er würde sowieso bald weiterziehen. Sollte er hier überraschend sterben, würde er in die äußere Reihe gehören. Aber was sich gehörte, wussten nur noch wenige.

Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrem kräftigen, dunkelblonden Dutt im Nacken gelöst und tanzte vor ihrer Nase herum. Die Taschen ihres alten Mantels waren glücklicherweise ein Quell an Schätzen und Fundstücken, die sich im Laufe der Zeit dort angesammelt hatten. Das Klemmchen war zwar schon verbogen, aber es war eines mit Rillen, das hielt viel besser. Während sie mit der einen Hand die Strähne stramm nach hinten zog, um sie zu bändigen, und mit der anderen Hand die Haarnadel unter ihre gerade gewachsenen Vorderzähne schob, um diese aufzubiegen, erinnerte sie sich daran, wie sie es letzten Winter neben einer Bank gefunden hatte. Irgendwann konnte man alles brauchen. Bei ihr kam jedenfalls nichts weg. Was manche Menschen alles so wegwarfen und liegenließen, konnte sie nicht verstehen.

Sie wechselte gerne die Wege zwischen den Friedhofsreihen, um zur Grabstelle ihrer Eltern zu kommen. Meine Güte, sah das schluderig aus. Kopfschüttelnd registrierte sie, dass Böteführs Tochter gar keine Ordnung hielt. Die Topfpflanzen waren vertrocknet, und die Grabvase war trotz Erdspieß umgefallen. So waren die Schnittblumen längst verdurstet und lagen braun und welk vor dem Grabstein. Kein Wunder, denn seit die Tochter auf dem Festland wohnte, kam sie kaum noch auf die Insel. Aber auf dem Friedhof nicht für Ordnung zu sorgen, nein, das gehörte sich in Helmas Augen nicht.

Sie selbst hatte letztes Mal Herbstastern eingepflanzt. Die waren nun auch braun geworden, aber für Tannenzweige und Weihnachtsgestecke war es noch viel zu früh.

Die große Grabplatte ihrer Familie war aus hellem Sandstein und so hoch, dass man sie trotz Hecken und Büschen schon aus der Ferne sehen konnte. Aufgestellt vom Erbauer ihres Hauses, der sicher auch für die Inschrift verantwortlich war: »Mit Gott fang du die Arbeit an, mit Gott sie auch vollende, wer seine Pflicht hat treu getan, der freue sich am Ende.« Warum er sich gerade für diesen Spruch entschieden hatte, wusste keiner mehr. Aber er schien für ihre Familie wie gemacht zu sein, Pflichterfüllung war keine Option, sondern Gesetz im Hause Petersen.

Als der alte Grabstein auch auf der Rückseite keinen neuen Namen mehr fassen konnte, hatte ihr Vater einen neuen Stein aufstellen lassen. Helma hatte keinerlei Erinnerung an ihre Mutter Karen, die hier seit knapp vierzig Jahren lag, weil sie die Geburt ihrer Tochter nicht überlebt hatte.

Oma Gondel war der zweite Name auf dem neuen Stein. Und ihr Vater ließ damals, wenn man schon mal dabei war, auch gleich den Namen seines Bruders Uwe, an den Helma sich kaum erinnerte, in den Stein schlagen.

Oma Gondel hatte die Vermisstenmeldung offenbar bis zum Schluss als Versprechen genommen, ihr Zweitgeborener würde irgendwann aus diesem letzten Krieg wieder heimkehren. Mit dieser Hoffnung hatte sie bis an ihr eigenes Ende gelebt, und Helma hoffte, dass sie ihren Uwe oben im Himmel wiedergefunden hatte.

 

Karen Petersen geb. Peters

7. 4. 1904 - 7. 3. 1936

Uwe Petersen

25. 5. 1906 - seit 1944

 

vermisst in Frankreich

Gondel Petersen geb. Nissen

6. 6. 1883 - 26. 2. 1955

Sönnich Petersen

22. 8. 1903 - 9. 12. 1970

 

Der Familiengrabstein musste nur noch für ihren Namen reichen. Danach kam niemand...

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Autor

SILKE VON BREMEN, geboren 1959, wuchs auf einem Obsthof im Alten Land auf und lebt seit 1989 als G.steführerin auf Sylt. Die Autorin der Gebrauchsanweisung für Sylt (Piper Verlag) bringt sich auf vielfältige Weise in das soziale, politische und kulturelle Leben der Insel ein. Ihr besonderes Engagement gilt seit Längerem dem Gedenken der Opfer der Sylter Wehrmachtsjustiz sowie dem bundesweit bekannten Bürgernetzwerk »Merret reicht"s: Mitmachen, einmischen, anders denken, mit Spaß und Leidenschaft - aus Liebe zu Sylt«, das sich für bezahlbaren Wohnraum für Insulanerinnen einsetzt. Stumme Zeit ist ihr Debütroman.