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Hohle Räume

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
237 Seiten
Deutsch
Matthes & Seitz Berlin Verlagerschienen am07.03.20241. Auflage
Als Helene ihre Eltern kurz vor Weihnachten besucht, wirken die Räume des vertrauten Hauses seltsam hohl, als ließen sie sich trotz aller Bemühungen nicht mit Leben füllen. Der Anlass für ihren Besuch ist die Scheidung der Eltern. Irritiert beobachtet die Tochter jede ihrer Regungen, seziert sie voller Sprachwitz und zerlegt sie in ihre Einzelteile, die sich zu einem Familienbild bürgerlicher Prägung zusammensetzen: Thomas, der Vater, ist Arzt, aber weil er keine Menschenkörper mag, berät er lieber ein Pharma-Unternehmen. Die Mutter Irene hat Lehramt studiert, um nach der Geburt der einzigen Tochter doch Haus und Herd zu ihrem Arbeitsfeld zu machen. Und Helene selbst ist erfolgreiche Künstlerin mit Einzelausstellungen in London und Kopenhagen, einer Assistentin und einem Galeristen. Jetzt soll sie dabei helfen, den Besitzstand genauso wie den emotionalen Ballast der vierzig Ehejahre zu sortieren. Doch dann stürzt die Mutter die Treppe hinunter, bricht sich die Hüfte und plötzlich taucht auch die verschwunden geglaubte Kindheitsfreundin Molly wieder auf.   Humorvoll und in starken Bildern erzählt Hohle Räume von der Familie nicht mehr als einem Ort psychologischer Abgründe, sondern als kleinstmöglicher sozialer Einheit, in der die Aufstiegsgeschichte der Babyboomer genauso zu erkennen ist wie der Klassenumstieg ihrer Kinder - und wo Sofas, Töpfe und Fensterläden nicht bloß Alltagsgegenstände sind, sondern subtil über Werte, Überzeugungen und Sicherheiten Auskunft geben. 

Nora Schramm, 1993 in der Südpfalz geboren, studierte Fremdsprachen und Kulturwissenschaften in Gießen sowie Theorien und Praktiken professionellen Schreibens in Köln.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR18,99

Produkt

KlappentextAls Helene ihre Eltern kurz vor Weihnachten besucht, wirken die Räume des vertrauten Hauses seltsam hohl, als ließen sie sich trotz aller Bemühungen nicht mit Leben füllen. Der Anlass für ihren Besuch ist die Scheidung der Eltern. Irritiert beobachtet die Tochter jede ihrer Regungen, seziert sie voller Sprachwitz und zerlegt sie in ihre Einzelteile, die sich zu einem Familienbild bürgerlicher Prägung zusammensetzen: Thomas, der Vater, ist Arzt, aber weil er keine Menschenkörper mag, berät er lieber ein Pharma-Unternehmen. Die Mutter Irene hat Lehramt studiert, um nach der Geburt der einzigen Tochter doch Haus und Herd zu ihrem Arbeitsfeld zu machen. Und Helene selbst ist erfolgreiche Künstlerin mit Einzelausstellungen in London und Kopenhagen, einer Assistentin und einem Galeristen. Jetzt soll sie dabei helfen, den Besitzstand genauso wie den emotionalen Ballast der vierzig Ehejahre zu sortieren. Doch dann stürzt die Mutter die Treppe hinunter, bricht sich die Hüfte und plötzlich taucht auch die verschwunden geglaubte Kindheitsfreundin Molly wieder auf.   Humorvoll und in starken Bildern erzählt Hohle Räume von der Familie nicht mehr als einem Ort psychologischer Abgründe, sondern als kleinstmöglicher sozialer Einheit, in der die Aufstiegsgeschichte der Babyboomer genauso zu erkennen ist wie der Klassenumstieg ihrer Kinder - und wo Sofas, Töpfe und Fensterläden nicht bloß Alltagsgegenstände sind, sondern subtil über Werte, Überzeugungen und Sicherheiten Auskunft geben. 

Nora Schramm, 1993 in der Südpfalz geboren, studierte Fremdsprachen und Kulturwissenschaften in Gießen sowie Theorien und Praktiken professionellen Schreibens in Köln.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783751809603
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum07.03.2024
Auflage1. Auflage
Seiten237 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse776 Kbytes
Artikel-Nr.14114160
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Die Eltern holen mich ab, beide, aber nicht gemeinsam, sie stehen so weit auseinander, dass man einfach durch ihre Mitte gehen könnte. An diesem Abstand erkenne ich sie von Weitem. Ich bleibe stehen, die Leute schieben sich an mir vorbei, und durch ihre Körper und Koffer und Gepäckwagen beobachte ich die Eltern als kleine Figuren. Der Vater bindet sich erst den einen Schnürsenkel, dann den anderen, wahrscheinlich hat er sie vorher gelöst, dass er sie jetzt binden kann. Er muss sich immer beschäftigen, Beschäftigtsein ist seine Art. Die Mutter kneift die Augen zusammen und starrt auf die Anzeigetafel.

Wie immer überfällt mich das schlechte Gewissen, weil ich die Eltern nie besuche und sie irgendwann unauffindbar sein werden. Die Eltern werden nicht sterben, sie werden einfach immer weiter schrumpfen, bis es sie nicht mehr gibt. Ich erinnere mich, dass ich müde werde, wenn ich bei den Eltern bin, wie unter einem leichten Stoff. Noch bin ich wach, spüre die Haarspange etwas zu fest am Kopf, die Stiefel an den Füßen etwas zu schwer, und ich sehe die beiden wie durch einen Tunnel oder eher ein Mikroskop, klar und fokussiert und hell beleuchtet. Die kleine Mutterfigur winkt plötzlich von der Petrischale und zupft an der Schulter der Vaterfigur, sie wippt auf ihren Füßchen vor und zurück, als wäre ich es, die sie nicht erkannt hat. Der Vater richtet sich von seinen Schnürsenkeln auf und tritt einen Schritt zurück, um ihre Hand nicht ins Gesicht zu bekommen. Ich winke zurück, ziehe fest an meinem Koffer und ich werde wieder zielstrebig, es wird schon werden, es ist okay, alles auf dem Weg, und die Herbert-Grönemeyer-Songs rollen mir durch den Kopf, wie immer, wenn ich die Eltern sehe, das ist einfach so, und der Mensch heißt Mensch.

Sie stehen hinter der Absperrung aus schwarzem Band, das man einfach aus den Metallständern herausheben könnte, und beobachten mich aus schnellen aufgeregten Augen und würden niemals irgendein Band aus irgendeinem Ständer heben. Sie sprechen zueinander. Ich als Überbleibsel gebe ihnen eine Sicherheit, über den Abstand hinweg raunen sie sich zu, ob ich blass geworden bin oder dick oder dünn oder glücklich, sie stellen Ferndiagnosen über mich an, um in der Nähe nicht den Überblick zu verlieren. Die Mutter hat bereits die getönten Gläser meiner Brille bemerkt, sie fragt sich bereits, warum immer dieses riesige schwarze Ding mitten im Gesicht, sie sorgt sich bereits um die Gesundheit meiner Augen. Ich gehe weiter auf sie zu, als Versicherung, als Beweis für was mal war, und keiner ist sich so ganz sicher, was mal war, vor allem nicht, wie es eigentlich wirklich und ehrlicherweise mal war, aber ich, die ich blass geworden bin und zielstrebig meinen Koffer über den polierten Boden des Stuttgarter Flughafens ziehe, bin offensichtlich real, bin offensichtlich ein Produkt, und zwar von dem, was mal war, und das tut gut zu wissen.

Die Mutter legt mir die Arme um den Hals und zieht meinen Kopf zu sich herunter, Wirbel für Wirbel legt sie mich an sich wie eine Perlenkette, und ich sehe, wie der Vater hinter uns steht und in den Jackentaschen kramt und alte Kassenzettel auseinanderfaltet. Dann umarme ich ihn, er klopft mein Schulterblatt, wie man ein Pferd klopft, als käme Staub aus mir heraus. Er nimmt mir den Griff des Koffers aus der Hand, und die Mutter sagt, das schafft sie ja wohl allein, den ganzen Weg hat sie geschafft, und zwinkert mir zu, als wäre es ein Necken gewesen und kein Gekeife.

Sie haben sich beide gemerkt, wo das Auto steht. Der Vater verlässt sich in solchen Gedankendingen eigentlich auf die Mutter, aber jetzt weiß er ganz genau, auf welchem Deck und welche Parkplatznummer, er geht voraus mit meinem Koffer hinter sich, als würde er sich auf das Alleinsein vorbereiten. Ich denke an Männerseminare im Wald, wo sie in Gruppen das Überleben und die Unabhängigkeit generell trainieren und dafür frisch erschlagenen Kaninchen das Fell abziehen und ihnen einen Stock in den After einführen, um sie ins Feuer zu halten und die Haut zu beobachten beim Blasenschlagen und in das eigene Überleben hineinzuspüren. Das ist dann der Ort, an dem das Selbstbewusstsein gefunden wird und kultiviert. Ich stelle mir den Vater an einem Lagerfeuer sitzend vor, so, wie er immer sitzt, zweifach geknickt, in der Brustwirbelsäule und im Nacken, und ein Jochen würde versuchen, ihm Haltung beizubringen. Der Vater bleibt nie allein über Nacht weg, der Vater würde nie auf so ein Wochenende, auch wenn er gern auf den Feldwegen und im Stadtwald ist, joggen, der Vater wird weiterhin nie allein über Nacht wegbleiben, er bleibt ab jetzt immer allein, aber nicht weg. Der Vater bleibt da.

Wir stehen vor dem Passat. Der Vater kramt in seinen Jackentaschen, Jeanstaschen, und die Mutter zieht die Augenbrauen hoch. Er wendet sich nicht der Mutter zu, ob sie nicht den Schlüssel habe, ob er ganz sicher nicht vorhin ihr den Schlüssel gegeben habe, der Vater sucht und schweigt. Er weiß, dass er der Mutter nichts mehr aus reiner Gewohnheit herüberreicht, damit sie es einsteckt, sondern dass es jetzt darum geht, die Güter voneinander zu trennen, die Gegenstände zu zählen, eine Art Inventur der letzten vierzig Jahre durchzuführen, und die Jahre selbst sind Gegenstände geworden und müssen ausgemessen werden.

Der Vater weiß, dass er sich an jede Transaktion mit der Mutter erinnert, und wenn er sich nicht erinnert, hat es keine Transaktion gegeben, er muss den Schlüssel also noch irgendwo haben. Er findet ihn schließlich ganz unten in der Tasche der Funktionsjacke, den Schlüssel mit dem länglichen Filzanhänger, auf dem Weltenbummler steht. Der Vater wird das Auto behalten und die Mutter wird der Fairness halber etwas Gleichwertiges bekommen. Die Eltern sind und bleiben fair, das ist ihnen wichtig, Gerechtigkeit, zumindest in privaten Angelegenheiten. Der Vater fährt seit Jahren, weil die Mutter Angst vor den Fahrrädern in der Stadt hat, ruckzuck hast du einen umgefahren, da wirst du deines Lebens nicht mehr froh. Ich frage mich, wie es für sie gewesen wäre, hätte der Vater einen umgefahren. Wir fahren an den Fabriken vorbei, die Wolken aus Rasierschaum in den Himmel spritzen und nie damit aufhören, die Betontürme haben völlig sinnlose Rasierschaumvorräte angelegt. Sonst ist alles flach und die Farben sind wie eingestaubt, als stünde die ganze Landschaft schon viel zu lange hier herum. Die Dunkelheit deutet sich an und sie kommt als Erleichterung, dass das Licht endlich aufhören kann, so angestrengt durch die graue Decke zu bohren. Jetzt kann sich das Licht einfach oben auf dem Abend ablegen und seine Ruhe haben.

Ob ich gut geflogen bin, fragt die Mutter und dreht sich zu mir um, legt ihre Hand auf mein Knie und ich sehe ihre Adern, die sich als Gebirgszüge auf dem Handrücken verzweigen, und die Ringe. Einen am Daumen und einen am Ringfinger, aber der schlichte Ring, der keine Verzierung braucht, der fehlt. Ich kann mich nicht erinnern, ob sie ihren Ehering früher getragen hat. Ich weiß nicht, ob sie ihn vor Kurzem ausgezogen hat, als symbolischen Akt, und dabei irgendwas verbrannt, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, wobei die Mutter natürlich weiß, dass man Bücher nicht verbrennt, vielleicht also einen Brief des Vaters, falls es so etwas gegeben haben sollte, vielleicht wenigstens eine Postkarte, aber der Vater bleibt ja nie über Nacht weg, der Vater geht samstags auf den Markt und sonntags auf den Trimm-dich-Pfad, vielleicht einen Einkaufszettel. Wahrscheinlicher ist, dass sie den Ring schon seit Jahren nicht mehr trägt. Wegen des Spülwassers oder den dicker werdenden Gelenken.

Ob ich schon wisse, wie lange ich bleibe, fragt die Mutter, ich sage, ich habe eine Bahn für nächsten Samstag. Nächsten Samstag, ruft die Mutter und meint damit, dass zehn Tage viel zu kurz ist, während ich meine, dass zehn Tage zu lang ist, zehn Tage scheinen also ein gelungener Kompromiss. Immer, wenn ich zu den Eltern fahre, habe ich die Rückfahrt bereits gebucht, es ist ein heimliches Gesetz. Direkt nach Hause, fragt der Vater, und die Mutter sagt, wohin denn sonst. Vielleicht können wir kurz am Kiosk halten, sage ich, um der Mutter zu widersprechen. Sie dreht sich wieder um und legt ihre zweite Hand auch noch auf mein Knie, hier gar kein Ring, was brauchst du denn, Maus, wir haben alles da. Sonst können wir auch was bestellen. Die Mutter hat noch nie was bestellt, die Mutter hat immer etwas vorgekocht, sie hat etwas eingefroren, was besser ist als aus der Dose, vom Vitamingehalt her, sie kennt Gerichte, die sie in zehn Minuten zubereiten kann, aber wie man Essen bestellt, das weiß sie nicht und das ist ihr auch nicht geheuer, weil sie den Leuten, die für Geld kochen, alles zutraut, beziehungsweise nichts. Ich sage, Zigaretten, die Mutter sagt, aber du rauchst doch gar nicht. Na und, sage ich. Die Mutter lacht hell aus ihrem Glockenkörper, der Vater versteht nicht, was das für ein Gespräch ist, hält den Blick auf der Straße, vor den Scheinwerfern quillt der Nebel. Ich spüre die Hände der Mutter auf meinem Knie und bilde mir ein, sie wären feucht, aber auf eine zähe, schleimige Art, aufdringlich wie eine aufgeschnittene Aloe-Vera-Pflanze, und...
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Autor

Nora Schramm, 1993 in der Südpfalz geboren, studierte Fremdsprachen und Kulturwissenschaften in Gießen sowie Theorien und Praktiken professionellen Schreibens in Köln.
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Schramm, Nora