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Austral

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
192 Seiten
Deutsch
Verlag Klaus Wagenbacherschienen am14.03.2024
Es beginnt mit einer Rückkehr und einem rätselhaften Manuskript: Julio hat die Schriftstellerin Aliza seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Und doch soll gerade er, ein Costa Ricaner, der schon lange in den USA lebt, nach ihrem Tod entscheiden, was mit Alizas letztem Buch geschieht. Gebannt und bald nicht mehr nur lesend folgt Julio den Fährten, die er in dem Manuskript zu erkennen glaubt. Seine Suche gerät zur Reise quer durch Lateinamerika und tief hinein in die Geschichte: von der völkischen Kolonie Nueva Germania in Paraguay, gegründet von Elisabeth Förster-Nietzsche, über einen indigenen Stamm im Amazonas, der mitsamt seiner Sprache ausgelöscht wird, bis hin zu den Bürgerkriegen in Guatemala und Nicaragua, die europäische Rucksacktouristen und Hippies hautnah miterlebten - auch Aliza. »Austral« ist literarische Spurensicherung und Expedition zugleich: Carlos Fonseca entfaltet einen Echoraum, in dem sich historische und fiktive, aber immer wahre Geschichten kreuzen - über den Süden als Ort europäischer Faszinationen, Enttäuschungen und Ausbeutungen. Ein brillanter politischer Roman über die Spiralen der Erinnerung und die Frage: Wie lässt sich erzählen, was für immer verschwunden ist?

Carlos Fonseca, 1987 in San José/Costa Rica geboren, ist in Puerto Rico aufgewachsen, hat bei Ricardo Piglia in Princeton promoviert und lehrt lateinamerikanische Literatur an der University of Cambridge. 2021 wählte ihn die Zeitschrift Granta unter die 25 wichtigsten jungen Erzähler der spanischsprachigen Welt. »Austral« ist Fonsecas dritter Roman, der unter anderem ins Englische und Französische übersetzt wird, und seine erste Veröffentlichung auf Deutsch.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR18,99

Produkt

KlappentextEs beginnt mit einer Rückkehr und einem rätselhaften Manuskript: Julio hat die Schriftstellerin Aliza seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Und doch soll gerade er, ein Costa Ricaner, der schon lange in den USA lebt, nach ihrem Tod entscheiden, was mit Alizas letztem Buch geschieht. Gebannt und bald nicht mehr nur lesend folgt Julio den Fährten, die er in dem Manuskript zu erkennen glaubt. Seine Suche gerät zur Reise quer durch Lateinamerika und tief hinein in die Geschichte: von der völkischen Kolonie Nueva Germania in Paraguay, gegründet von Elisabeth Förster-Nietzsche, über einen indigenen Stamm im Amazonas, der mitsamt seiner Sprache ausgelöscht wird, bis hin zu den Bürgerkriegen in Guatemala und Nicaragua, die europäische Rucksacktouristen und Hippies hautnah miterlebten - auch Aliza. »Austral« ist literarische Spurensicherung und Expedition zugleich: Carlos Fonseca entfaltet einen Echoraum, in dem sich historische und fiktive, aber immer wahre Geschichten kreuzen - über den Süden als Ort europäischer Faszinationen, Enttäuschungen und Ausbeutungen. Ein brillanter politischer Roman über die Spiralen der Erinnerung und die Frage: Wie lässt sich erzählen, was für immer verschwunden ist?

Carlos Fonseca, 1987 in San José/Costa Rica geboren, ist in Puerto Rico aufgewachsen, hat bei Ricardo Piglia in Princeton promoviert und lehrt lateinamerikanische Literatur an der University of Cambridge. 2021 wählte ihn die Zeitschrift Granta unter die 25 wichtigsten jungen Erzähler der spanischsprachigen Welt. »Austral« ist Fonsecas dritter Roman, der unter anderem ins Englische und Französische übersetzt wird, und seine erste Veröffentlichung auf Deutsch.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783803143907
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum14.03.2024
Seiten192 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2451 Kbytes
Artikel-Nr.14136085
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



Der Brief war vor einer Woche gekommen, zusammen mit dem Schnee. Der Herbst hatte sich länger als üblich hingezogen, der Winter ließ bis in den Dezember hinein auf sich warten. Doch Mitte des Monats zeigte er sich endlich, und mit der Kälte kam dieser Brief, der dazu angetan war, die nutzlosen Abschweifungen von Julio Gamboa ein für alle Mal zu beenden. Er saß in seinem Büro auf dem Campus der Universität, an der er die letzten zwanzig Jahre verbracht hatte, vor einem Zettel, auf dem das Wort Arktis unterstrichen war, und kaute nachdenklich auf dem Bleistift herum, als jemand mehrmals an die Tür klopfte und ihm schlagartig die Absurdität seiner Tätigkeit klar wurde. Wozu schrieb er Listen? Vielleicht weil er zu diesem Zeitpunkt, anders als andere, die unter vergleichbaren Umständen einen Ausweg in Affären oder im Alkohol suchten, zu der Einsicht gelangt war, dass es ihm über solche Listen gelänge, die Ordnung jener Welt aufrechtzuerhalten, die ihm allmählich entglitten war.


»Wenn ich schon durchdrehe, dann wenigstens mit Methode«, schien er sich zu sagen, während er die Sekretärin mit der Post unterm Arm hereinkommen sah.

Das Gleiche wie immer: Schreiben des Dekans, Zeitschriften, die er niemals lesen würde, Rechnungen, Kontoauszüge. Inmitten des Erwartbaren aber erkannte er einen ungewöhnlichen Umschlag. Humahuaca, die Anschrift kam ihm so unbekannt, fern und rätselhaft vor wie der Name der Absenderin: Olivia Walesi. Unter einer Briefmarke, auf der eine Schlucht voller Kakteen zu sehen war, stand sein Name.

»Da ist bestimmt ein anderer Gamboa gemeint«, sagte er lachend, ohne zu merken, dass die Sekretärin den Raum schon wieder verlassen hatte.

Und das dachte er auch noch, als er den Anfang des Briefs las, in dem sich Walesi zunächst als Mitglied einer Künstlerkolonie im wüstenartigen argentinischen Norden vorstellte. Was folgte, machte der Verwirrung jedoch ein Ende. Er sah Alicia Abravanels Namen mit derselben stummen Regung, mit der man nach vielen Jahren dem Haus entgegentritt, in dem man als Kind gelebt hat, eine Mischung aus Freude, Erstaunen und Wehmut. Doch er wollte sich auf die Spiele der Erinnerung nicht einlassen. Er legte den Brief beiseite und lenkte sich ab, indem er beobachtete, wie die Studenten den Winter willkommen hießen. Es mochte dauern, bis die Kreise sich schlossen, aber letztlich taten sie es doch mit unerbittlicher Präzision.

Aliza Abravanel. Er nahm einen Kugelschreiber, strich das i und tauschte das c, das ihm immer schon seltsam vorgekommen war, gegen ein z. So hatte er es in den letzten dreißig Jahren immer gemacht, wenn ihm der Name in irgendeiner Kulturbeilage oder Zeitung begegnet war. Es fühlte sich für ihn nicht so an, als ob ihr gemeinsames Jugendabenteuer schon drei Jahrzehnte zurücklag. Die Zeit konnte seinem Zwang nichts anhaben, sie mit dem Namen sehen zu wollen, unter dem er sie kennengelernt hatte. Sie selbst hatte ihn, als sie sich ihm vorstellte, mit diesem Akzent, den er erst später als eindeutig britisch identifizieren sollte, auf dieses kleine Detail hingewiesen.

»Aliza, ja, ohne i und mit z, nicht c.«

Als Jahre später in der Presse die ersten Texte über ihre Bücher erschienen und überall von einer Alicia Abravanel die Rede war, hatte er sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass es sich schlichtweg um einen Fehler der Journalisten handelte. Daran änderte sich auch nicht wirklich etwas, als er ein Interview las, in dem die Schriftstellerin über die Gründe, ihren Namen zu ändern, sprach und erklärte, dass die Entscheidung für die Latinisierung des Namens mit einer anderen, bedeutenderen einhergehe: der, ihre Romane künftig auf Spanisch zu schreiben. Sie war immer noch dasselbe junge Mädchen, das ihn eines Nachmittags in der Buchhandlung angesprochen und um ein Exemplar des Romans gebeten hatte, der bei ihrer jugendlichen Rebellion gegen die Welt zu ihrem Talisman werden sollte.

»Hast du Unter dem Vulkan auf Spanisch?«, hatte sie gesagt. Und dann hinzugefügt:

»Von Lowry, dem Irren.«

Mehr als dreißig Jahre war das her. Sich unter ihrem ursprünglichen Namen an sie zu erinnern war seine Art, eine Nähe lebendig zu erhalten, die unter dem Schutz der Bücher entstanden war und nun durch Bücher überdauerte, selbst jetzt, da ein Brief aus einer abgelegenen argentinischen Provinz ihn darüber informierte, dass Alicia, seine Aliza, vor Kurzem verstorben war - nach einem zehn Jahre währenden Kampf gegen eine Krankheit, die sie nahezu verstummen ließ, sie aber nicht vom Schreiben hatte abhalten können.

Vollkommen klar, bis ganz ans Ende, hatte Olivia inmitten ihrer Ausführungen zu Alizas letztem schriftstellerischen Projekt geschrieben, und letztlich war es dieser Satz gewesen, der ihn bewegte, wie es nur die Erinnerung vermag. Die Erwähnung der Klarheit, die bei einer Aphasikerin seltsam anmutete, holte einen anderen Ausdruck aus dem Vergessen, den er und Aliza einst von Lowry abgekupfert hatten: perfectly drunk, perfectamente borracho, wie sich der alkoholisierte Protagonist von Unter dem Vulkan gegenüber den Behörden definiert. Der Satz in seiner äthylischen Vollkommenheit erinnerte ihn daran, dass die Verbindung mit der jungen Engländerin anfangs vor allem ein Akt der Rebellion, eine Flucht gewesen war. Eine Möglichkeit, der Angst zu entkommen, er könnte die Erwartungen seiner Eltern enttäuschen.

Sein Vater hatte nicht viel besessen. Kaum mehr als einen bescheidenen Lebensmittelladen, den er von einem entfernten Onkel geerbt hatte, und eine Paranoia, die aus den prekären Lebensumständen erwuchs.

»Eines Tages werden uns die Amis vergessen, und dann sind wir richtig aufgeschmissen«, pflegte er zu sagen, wenn der Alkohol ihn in Wallung brachte.

»Also schön fleißig lernen, verdammt«, fügte seine Mutter dann mit einem halben Lachen hinzu.

So überzeugt davon, wie sie waren, dass die große Katastrophe kurz bevorstand und Mittelamerika bald im tiefsten Chaos versinken würde, hatten sie all ihre Hoffnungen in ihre beiden Söhne gesetzt. Sein Bruder, sechs Jahre älter, hatte sie als Erster enttäuscht. Als er begriffen hatte, dass die Schule nichts für ihn war, hatte er auf der Straße nach den Chancen gesucht, die ihm das Klassenzimmer nicht bieten konnte, allerdings mit dem Pech, dass die Polizei ihn inmitten eines Überfalls erwischte, als er zusammen mit ein paar Freunden gerade einen Kleinbus voller Touristen ausrauben wollte.

Julio war damals kaum zehn Jahre alt, aber der Anblick seines Bruders in Handschellen war eine Demütigung gewesen, die er niemals vergessen sollte. Er fand eine Zuflucht in den Büchern. Von Natur aus schüchtern, fand er in ihnen ein Zuhause, ohne zu ahnen, dass ihm ebendiese Bücher eines Tages die Möglichkeit geben würden, fortzugehen. Als er sieben Jahre später den Brief erhielt, in dem ihm ein Stipendium für ein Studium in Michigan angeboten wurde, wusste er nicht recht, wie er sich fühlen sollte.

»Hau ab, solange du noch kannst. Dieses Land ist schon auf dem besten Wege, einzugehen«, erklärte ihm sein Vater stolz.

Für ihn jedoch klang das nicht nach einem Ausweg: Es klang, als folgte er dem Traum eines anderen. Er war damals noch ein Jugendlicher, aber hinter seiner Schüchternheit zeichnete sich allmählich der Ehrgeiz ab, die ausgetretenen Pfade verlassen zu wollen. Eine Woche später lernte er Aliza kennen.

Wenn Michigan für die weite Welt stand, verkörperte Aliza eine andere mögliche Welt, jenseits der Erwartungen seiner Eltern. Für Julio war sie, der Punkfan, der behauptete, die Sex Pistols und die Ramones live gesehen zu haben, das junge Mädchen, das schwor, Sid Vicious geküsst zu haben, der Leuchtturm, der ihm ein unbekanntes, furchteinflößendes Universum vor Augen führte. Eine Aristokratin, die mit siebzehn von zu Hause und vor allen mit ihrem Namen verbundenen Verpflichtungen abgehauen war, um sich in den dunklen Straßen eines mittelamerikanischen Landes zu verlieren, in dem gerade die ersten schrillen Punk-Akkorde ertönten.

Zwischen den Seiten hatte Olivia, angeheftet an eine Postkarte, ein Foto von Aliza beigefügt. Man sah darauf ihr Gesicht, wie er es von Pressebildern kannte, von der Seite, ihr Profil hatte mit den Jahren an Strenge und Persönlichkeit gewonnen und strahlte das ungeheure Selbstvertrauen aus, das man schon in der Jugend bei ihr hatte erahnen können. Das schwarze Haar als Kontrast zu der weißen Ebene im Hintergrund, die markante Nase, der starr geradeaus gerichtete Blick. Auf der Rückseite stand: Salinas Grandes, Argentinien, 2008.

Julio wandte sich wieder dem weißen Blatt Papier zu, das vor ihm lag. »Aliza«, schrieb er, ohne groß darüber nachzudenken. Darunter notierte er eine seiner Listen: »Thomas, Cardenal, Williams, Parra, Truffaut, Naranjo, Bernhard.«

Er sah sie vor sich, wie sie, jung und nicht greifbar, auf dem Sofa in seiner Wohnung saß, während auf dem Fernseher ein Marathon mit Stan-Brakhage-Filmen lief. Er sah sie in einer verruchten Kneipe, wo sie Gedichte von William Carlos Williams rezitierte, während alle um sie herum sie versunken anstarrten, ohne zu verstehen, was genau sie sagte. Er rief sich ihr Gesicht an einem lang zurückliegenden Abend in Erinnerung, am Steuer des alten Jeeps seines Vaters, während sie Grenzen überquerte, als existierten sie nicht. Sie waren auf dem Weg nach Guatemala gewesen, daran erinnerte er sich, aber warum sie sich am Ende der Reise getrennt hatten, das wollte ihm nicht mehr einfallen. Soweit er sich entsann, hatte der Roadtrip länger gedauert als...
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Autor

Carlos Fonseca, 1987 in San José/Costa Rica geboren, ist in Puerto Rico aufgewachsen, hat bei Ricardo Piglia in Princeton promoviert und lehrt lateinamerikanische Literatur an der University of Cambridge. 2021 wählte ihn die Zeitschrift Granta unter die 25 wichtigsten jungen Erzähler der spanischsprachigen Welt. »Austral« ist Fonsecas dritter Roman, der unter anderem ins Englische und Französische übersetzt wird, und seine erste Veröffentlichung auf Deutsch.