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Fangspiele

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
224 Seiten
Deutsch
Atlantis Literaturerschienen am20.03.2024
Ines und Lenni, eine über Jahrzehnte gefes­tigte Liebe, eine vertrauensvolle Partner­schaft. Sie Dermatologin und er Landarzt, leben sie mit ihrer Tochter, die Cello spielt, im Berliner Umland. Von ihrem Haus aus ist in der Senke der schieferfarbene See zu sehen, kein großer See, ein fehlendes Puzzle­teil, wie Ines immer sagt, als fehlte ausge­rechnet dort das letzte Puzzleteil der Erde. In ihr Leben, das der beste Freund eindeutig zu kitschig findet, platzt die charismatische Edda hinein. Mit ihrer Idee von absoluter Kunst wird sie für Ines zunehmend zum Faszi­nosum. Die spricht plötzlich von unerfüllten Jugendträumen und vernachlässigt alles, was ihr einmal wichtig war - ihre Tochter, ihren Beruf, Lenni. Als Edda sie für ein innovatives Theaterprojekt gewinnen will, lässt Ines ihr altes Leben fallen und stiehlt sich einfach davon.

Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, hat bisher fünf Romane veröffentlicht, u.a. ihr viel beachtetes Debüt Fliehende Wasser (2004), Außer sich (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis, und Gesund genug (2022). Die in der Märkischen Schweiz bei Berlin lebende Autorin wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt im Herbst 2022 mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen. Für Fangspiele erhielt sie einen Werkbeitrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia den Brandenburgischen Kunst-Förderpreis für Literatur.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR16,99

Produkt

KlappentextInes und Lenni, eine über Jahrzehnte gefes­tigte Liebe, eine vertrauensvolle Partner­schaft. Sie Dermatologin und er Landarzt, leben sie mit ihrer Tochter, die Cello spielt, im Berliner Umland. Von ihrem Haus aus ist in der Senke der schieferfarbene See zu sehen, kein großer See, ein fehlendes Puzzle­teil, wie Ines immer sagt, als fehlte ausge­rechnet dort das letzte Puzzleteil der Erde. In ihr Leben, das der beste Freund eindeutig zu kitschig findet, platzt die charismatische Edda hinein. Mit ihrer Idee von absoluter Kunst wird sie für Ines zunehmend zum Faszi­nosum. Die spricht plötzlich von unerfüllten Jugendträumen und vernachlässigt alles, was ihr einmal wichtig war - ihre Tochter, ihren Beruf, Lenni. Als Edda sie für ein innovatives Theaterprojekt gewinnen will, lässt Ines ihr altes Leben fallen und stiehlt sich einfach davon.

Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, hat bisher fünf Romane veröffentlicht, u.a. ihr viel beachtetes Debüt Fliehende Wasser (2004), Außer sich (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis, und Gesund genug (2022). Die in der Märkischen Schweiz bei Berlin lebende Autorin wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt im Herbst 2022 mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen. Für Fangspiele erhielt sie einen Werkbeitrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia den Brandenburgischen Kunst-Förderpreis für Literatur.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783715275321
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum20.03.2024
Seiten224 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1177 Kbytes
Artikel-Nr.14175712
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Ines´ Mantel! Er streicht mit der flachen Hand über die Zeitung. Wieder und wieder. Das Foto eines Mantels. Ausgebreitet liegt er auf einem Edelstahltisch. Derber Wollwalk, mittleres Blau. Ein öliger Fleck auf dem Papier, genau dort, wo der Kopf sein müsste. Küstriner Vorland. Auf freiem Feld, liest er, sei eine Frau gefunden worden, erfroren. Keine Hinweise auf Fremdverschulden, die Tote sei noch nicht identifiziert, es werde um Mithilfe der Bevölkerung gebeten, Alter um die fünfzig, sie habe diesen blauen Mantel getragen.

 

Bis auf die Virologen am Tisch neben der Salatbar und ihm ist noch niemand in der Kantine; um nicht die halbe Mittagspause an der Kasse anstehen zu müssen, kommt er gern früh, früher als die anderen. Unter lautem Palaver drängt soeben die Biomedizin durch die Tür, gleich dahinter folgen die Seltenen Erkrankungen.

Er hat ihr den Mantel zum dreißigsten Geburtstag geschenkt. Jeden Winter hat sie ihn getragen, alle Moden waren an ihm vorübergegangen; wie um die Jahre zu behexen, hat sie ihn getragen und getragen, bis er an manchen Stellen dünn, an anderen schon faserig, bald wirklich nur noch ein Lappen war. Gelegentlich zog sie ihn noch im Garten an - da sieht er sie im Beet stehen; den blauen Mantel offen, säbelt sie verdorrte Stängel ab. Ines, ruft er, dein Handy, er muss gar nicht sagen, wer dran ist. Sie richtet sich auf, fährt sich mit dem Unterarm über die Stirn, in der einen Hand das alte Brotmesser, in der anderen ein Bündel trockene Stängel. Er sieht ihr Gesicht aufleuchten. So hell, denkt er, hat ihr Gesicht schon lange nicht mehr geleuchtet.

Wie hätte er ahnen können, dass alles bereits in Unordnung war. Wäre sie einfach verliebt gewesen. Eine Verliebtheit, einen Seitensprung hätten sie mit links überstanden. Aber es war viel simpler und zugleich viel komplizierter als das.

 

Warm ist ihm plötzlich, zu warm, zu eng, er zieht sich den Kittel aus, den Pullunder unter dem Kittel, knöpft das Hemd auf. Quatsch, denkt er, warum sollte diese Frau ausgerechnet Ines sein. Zuhauf solcher Mäntel gibt es vermutlich da draußen, blaue Mäntel mit breitem Kragen und Perlmuttknöpfen. Weil sie es tatsächlich sein könnte, wird ihm erschrocken bewusst, diese unbekannte Tote könnte Ines sein.

Einen Schlussstrich hat er gezogen.

Für Lea und für sich selber.

Neubeginn. Nichts als ein schlechtes Foto von einem alten blauen Mantel braucht es offenbar, und alles kommt wieder hoch. Er trennt die Seite aus der Zeitung heraus, faltet sie, schiebt sie in seine Kitteltasche. Hätte er etwas tun können, hätte er mehr tun können? Was hat er übersehen? Wie ist es gewesen, wirklich gewesen. Von Anfang an. Oder hat alles ohne Anfang angefangen?

 

 

Verbirgst du etwa auch etwas vor mir, fragt Ines mit einem schelmischen Seitenblick, das alle unsere gemeinsamen Jahre, schnippt sie mit den Fingern, in nichts auflöst? Kurz nach eins ist es, als sie an der Aral-Tankstelle in Strausberg vorbeikommen, Lea schläft bei Peggy, sie haben Besorgungen in der Stadt gemacht, sind essen und hinterher im Kino gewesen, 45 Years, vielleicht stöbere sie dann auch mal in seinen alten Kartons und entdecke einen ihr vollkommen fremden Lenni. Mach nur, lacht er. Aber Charlotte Rampling ist einfach toll, sagt sie. Bumm, bumm, bumm. Was ist das? Und so viel Verkehr um die Zeit? Dieses Techno-Festival, sagt er, drüben auf dem Flugplatz, ziemlich groß, glaube ich, er schließt das Fenster. Schon seit Wochen war vor der Praxis ein Stromkasten mit den Plakaten überklebt gewesen.

Gleich nach dem Ortsausgangsschild gibt er Gas, was meinst du, sagt er, was Pablo und Monika wohl machen? Mitte der Neunziger hatten sie zusammen viele Nächte in Techno-Clubs verbracht, die damals wie Pilze aus dem Boden schossen, Praxis Dr Mc Coys, Tresor, Der Eimer, und wie sie alle hießen, wahrscheinlich fällt ihm deswegen Pablo jetzt ein, wegen der Musik, schon damals hat er diese Musik nicht leiden können. Ines auch nicht. Aber sie wollten dabei sein, teilhaben an diesem verheißungsvollen Aufbruch, der wohl jeden in der Stadt erfasst hatte. Die letzten Straßenlaternen bleiben zurück, vor ihnen liegt die Landstraße, die schnurgerade Strecke bis zum Wald, eine Kette entgegenkommender Lichter, er muss sich konzentrieren, mehrere haben nicht abgeblendet. Wir wollten sie doch längst mal besuchen, sagt Ines, wie oft haben wir das jetzt schon verschoben. Ja, ich weiß, sagt er ... und sieht das Warnlicht. Hinter dem Wald, schon oben auf der Höhe, steht mitten auf der rechten Spur ein Auto, daneben eine kurze, stämmige Person, ein Mann? Oder eine Frau? Er bremst. Was ist, fragt Ines, du willst doch jetzt hier nicht anhalten? Aber statt den Blinker links zu setzen und wieder Gas zu geben, bleibt sein Fuß auf der Bremse, sachte rollt der Wagen auf dem Grasstreifen aus. Du kannst ja sitzen bleiben, sagt er. Sie steigt trotzdem mit aus. Eben rasen mehrere Autos vorbei, offene Fenster, voll aufgedrehte Stereoanlage, johlende Menschen.

Sie komme gerade aus Polen, sagt die Person, habe sich verfahren, und jetzt auch noch ... der Motor sei ausgegangen, einfach so, sie scheint ehrlich entrüstet zu sein über die Unzuverlässigkeit des Motors. Selbst hier sind die Bässe der Musik noch zu hören, oder eher zu spüren, Fichtner und Eppert, stellt er sie beide vor, Edda Pratt, sagt die Frau. Das sei wirklich nett, dass sie angehalten hätten, aber unnötig, sie habe schon den Pannendienst gerufen. Er ist sich nicht sicher, ob man einen solchen Satz arrogant sagen kann, kurz ist ihm so, und gleichzeitig fragt er sich, warum er nicht einfach vorbeigefahren ist. Doch, doch, sagt er, das sei nötig bei dem Verkehr, und vor allem sollten sie den Wagen von der Straße schieben. Okay, sagt Frau Pratt jetzt sehr freundlich, wenn sie ehrlich sei, sei sie doch ganz froh, nicht allein hier warten zu müssen. Irgendwie erleichtert nimmt er ihre Freundlichkeit zur Kenntnis. Sie setzt sich hinters Steuer, löst Handbremse und Gang, Ines und er schieben das kleine Auto hinter ihres. Liegt es am Blinken des Pannenlichts, liegt es an ihrem Kurzhaarschnitt, eine Art Undercut - jedenfalls fällt ihm plötzlich Tilda Swinton ein, er hat sie vor Jahren einmal auf dem roten Teppich auf der Berlinale gesehen, eine verblüffende Ähnlichkeit, allerdings ganz ohne Tilda Swintons Eleganz und Schönheit.

Sie plaudern noch dies und das, soso, Dermatologin, sagt Frau Pratt, das treffe sich gut, sie habe da einen Ausschlag am Hals. Er wundert sich, dass Ines sich die Stelle ansieht; wenn sie sonst privat um medizinischen Rat gefragt wird, kann sie zuweilen sogar schroff werden, aber vielleicht tut ihr die Frau einfach leid. Bei diesem Licht könne sie leider nicht wirklich was sehen, sagt sie und kramt eine ihrer Visitenkarten aus der Jackentasche, kommen Sie doch einfach zu mir in die Praxis, hier, sie tippt auf die Karte, Marzahn, direkt neben dem UKB, dem großen Krankenhaus. Sobald der Pannendienst mit seinen orange kreiselnden Leuchten am Waldrand auftaucht und sich schnell nähert, verabschieden sie sich.

 

 

Jasper sitzt am Mikroskop und telefoniert, doch, sagt er, in der aktuellen Kohorte haben wir eine signifikante ... Er selbst klemmt sich hinter den PC. Unter endlose Zahlenkolonnen schreibt er weitere Zahlen, eine ausufernde, eine langweilige Arbeit, normalerweise macht das der Assistent, der aber liegt mit einer Grippe im Bett.

Hätte er doch auf Ines gehört in jener Sommernacht. Wenn er auf Ines gehört hätte, wäre all das nicht passiert. Nein, fahr weiter, hört er sie sagen, ich will nach Hause. Den Bruchteil einer Sekunde nur hat es gebraucht, diese Entscheidung zu treffen, die er den Rest seines Lebens bereuen würde. Wie oft hat er die letzten hundert Meter Strecke vor dieser Stelle in Gedanken schon durchkämmt, jedes Detail ließ er sich durch den Kopf gehen, wie oft schon hatte er nicht angehalten, wenn jemand irgendwo liegen geblieben war, warum, warum denn ausgerechnet in jener Nacht? Bevor er aussteigt, haargenau sieht er die Szene noch vor sich, legt er Ines seinen Handrücken an die Wange, ein kurzer Blick. Sie nimmt seine Hand, zieht sie vor den Mund und drückt einen Kuss auf seine Finger. Ich bin nicht sauer, bedeutet diese Geste, nur müde. Du kannst ja sitzen bleiben, sagt er leise. Oder: Bleib doch sitzen.

 

Er hebt den Blick. Weit sieht er nicht. Auf die Fassade des Gebäuderiegels auf der anderen Seite des Innenhofes. Die Sicht aufs Wasser ist wichtigeren Disziplinen vorbehalten. Lichter brennen in den Büros, es wird früh dunkel zu dieser Jahreszeit, ihm genau gegenüber liegt das Sekretariat der Virologie; die junge Frau, die seit zwei Wochen dort arbeitet, steht am Kopierer. Lea, warum hat Lea ihm keine Nachricht geschickt, den ganzen Tag noch nicht, er ruft sie an. Am Morgen hatte sie verschlafen, zweimal ist er in der Nacht aufgestanden, weil sie wieder diesen Albtraum hatte. Sie stürze, immer sei es der gleiche Traum, sie fliege, über Land, über die Stadt, und dann gerate sie in diese Stromleitungen, und die Stromleitungen seien eigentlich Saiten, Cellosaiten. Nach dem fünften Klingeln geht sie ran, ob alles in Ordnung sei, ob es noch gereicht habe am Morgen, fragt er. Gerade so, sagt sie. Ich mache heute etwas später Feierabend, schaffst du das allein? Papa! Sie ist sechzehn, fast siebzehn.

 

Krampfhaft versucht er, den Mantel zu vergessen. Sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er reibt sich die Stirn, die Augen, streckt sich. Zieht dann die...
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Autor

Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, hat bisher fünf Romane veröffentlicht, u.a. ihr viel beachtetes Debüt Fliehende Wasser (2004), Außer sich (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis, und Gesund genug (2022). Die in der Märkischen Schweiz bei Berlin lebende Autorin wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt im Herbst 2022 mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen. Für Fangspiele erhielt sie einen Werkbeitrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia den Brandenburgischen Kunst-Förderpreis für Literatur.