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Die Stunde der Narren

E-BookPDF1 - PDF WatermarkE-Book
287 Seiten
Deutsch
acabus Verlagerschienen am15.11.2021Originalausgabe
Das Mittelalter an der Schwelle zur Neuzeit: Bauern begehren gegen ihre Grundherren auf, die Kirche schürt den Hexenwahn, der Klimawandel führt zu Hungersnöten und Überschwemmungen. Inmitten dieser unruhigen Zeiten erwächst eine zarte Liebesbeziehung zwischen dem jungen Jakob, Sohn eines leibeigenen Bauern, und Begina, Novizin eines Klosters. Doch ihre Wege trennen sich allzu bald, denn Jakob wird für die Narrenschule auserwählt. Erst Jahre später begegnen sie sich in der Stadt wieder, wo Jakob inzwischen als Stadtnarr lebt. Als der Heilerin, deren Gehilfin Begina geworden ist, ein Hexenprozess droht und Jakob zum Hofnarren des Königs berufen wird, scheint es keine Zukunft mehr für die zwei zu geben. Doch dann nehmen die Narren das Heft des Geschehens selbst in die Hand und die Ereignisse überschlagen sich ... Nie zuvor war das Leben so von Spannungen, Gegensätzen und Umwälzungen geprägt wie im 15. Jahrhundert - kurz vor Erfindung des Buchdrucks und der Entdeckung der neuen Welt. Die Geschichte von Jakob und Begina führt die Leser*innen mitten hinein in ein pralles Panorama dieser Zeit, da man noch an Dämonen und Zauberei glaubte und die wahre Liebe sich ihr Recht erkämpfen musste.

Karsten Flohr war Tageszeitungsredakteur beim Hamburger Abendblatt, bevor er für verschiedene Zeitschriften tätig wurde. 2012 erschien sein erster Roman 'Zeiten der Hoffnung'. 2015 wurde im acabus Verlag 'Leah', die Geschichte einer jüdisch-arischen Liebe während der Nazi-Zeit, veröffentlicht. Weitere Romane (u.a. 'Die neun Tage des Ekels' und 'Hotel Savoy') folgten. Karsten Flohr lebt und arbeitet in Hamburg.
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Verfügbare Formate
BuchKartoniert, Paperback
EUR16,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99
E-BookPDF1 - PDF WatermarkE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextDas Mittelalter an der Schwelle zur Neuzeit: Bauern begehren gegen ihre Grundherren auf, die Kirche schürt den Hexenwahn, der Klimawandel führt zu Hungersnöten und Überschwemmungen. Inmitten dieser unruhigen Zeiten erwächst eine zarte Liebesbeziehung zwischen dem jungen Jakob, Sohn eines leibeigenen Bauern, und Begina, Novizin eines Klosters. Doch ihre Wege trennen sich allzu bald, denn Jakob wird für die Narrenschule auserwählt. Erst Jahre später begegnen sie sich in der Stadt wieder, wo Jakob inzwischen als Stadtnarr lebt. Als der Heilerin, deren Gehilfin Begina geworden ist, ein Hexenprozess droht und Jakob zum Hofnarren des Königs berufen wird, scheint es keine Zukunft mehr für die zwei zu geben. Doch dann nehmen die Narren das Heft des Geschehens selbst in die Hand und die Ereignisse überschlagen sich ... Nie zuvor war das Leben so von Spannungen, Gegensätzen und Umwälzungen geprägt wie im 15. Jahrhundert - kurz vor Erfindung des Buchdrucks und der Entdeckung der neuen Welt. Die Geschichte von Jakob und Begina führt die Leser*innen mitten hinein in ein pralles Panorama dieser Zeit, da man noch an Dämonen und Zauberei glaubte und die wahre Liebe sich ihr Recht erkämpfen musste.

Karsten Flohr war Tageszeitungsredakteur beim Hamburger Abendblatt, bevor er für verschiedene Zeitschriften tätig wurde. 2012 erschien sein erster Roman 'Zeiten der Hoffnung'. 2015 wurde im acabus Verlag 'Leah', die Geschichte einer jüdisch-arischen Liebe während der Nazi-Zeit, veröffentlicht. Weitere Romane (u.a. 'Die neun Tage des Ekels' und 'Hotel Savoy') folgten. Karsten Flohr lebt und arbeitet in Hamburg.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783862828166
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatPDF
Format Hinweis1 - PDF Watermark
FormatE107
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum15.11.2021
AuflageOriginalausgabe
Seiten287 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2868 Kbytes
Artikel-Nr.14281206
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
un will ich Euch die Geschichte erzählen von Jakob dem Narren, der ein ganzes Königreich ins Wanken brachte und von dem es heißt, es habe ihn nie gegeben, ihn nicht und seine Geschichte auch nicht. Die solches behaupten, haben entweder ihre Gründe, oder es gebricht ihnen an Fantasie, um sich die Ungeheuerlichkeiten vorzustellen, die sich vor nun bald 50 Jahren zugetragen haben, nämlich um das Jahr des Herren 1450. Und zwar eben hier, an den Ufern des Rheins, hinter der Mauern der Burg, die scheinbar so unverwundbar in den Himmel ragt, und hinter den Toren der Stadt, von wo aus unser aller Geschicke gelenkt werden. Ich will beide Orte nicht beim Namen nennen, um keinen Unschuldigen, der in die Geschehnisse verwickelt war, zu desavouieren. Ich will aber doch so wahrheitsgetreu und ehrlich berichten, wie es die Ereignisse verdienen. Denn vieles lässt sich lernen aus dem, was damals geschah, vieles, was noch nie zu Gehör gebracht, weil die Edlen nicht immer die Edlen und die Niederen nicht immer die Niederen sind. Also dann - worauf noch warten? Doch halt, verzeiht, eines noch vorweg: Woher ich das alles weiß und wer ich überhaupt bin? Nun, der geneigte Leser wird es beizeiten erfahren, wenn er genügend Aufmerksamkeit walten lässt und nicht der Ungeduld Opfer wird, die ja eine der neuen Todsünden unserer Zeit ist, sondern artig wartet, bis ich mich offenbare und ihm zu erkennen gebe. Jakob war wohl eben 15 Jahre alt, noch weit entfernt davon, ein Narr zu sein oder gar einer, der ein ganzes Reich aus den Angeln zu heben vermag, als er im Wald saß, an den Stamm eines Schlehenbaumes gelehnt und seine Nase tief in ein Buch steckte. Wie - ein Bauernjunge, der lesen kann? Gemach! Dazu später mehr. Was er da also aus einer losen Blättersammlung - ein Buch konnte man es nicht nennen - mühsam entzifferte, waren die ersten Worte der berühmtesten aller berühmten Ritter-Geschichten, nämlich die von Erec dem Unbesiegbaren1, der jedoch leider vor lauter Minne vergaß, dass er ein Krieger war und so zum Gespött der Ritterschaft des ganzen Landes wurde. Aber halt: So weit war Jakob noch nicht vorgedrungen, er lernte an diesem Tag den Tapfersten der Tapferen gerade erst kennen! Am Ostertag, so las er, zur Wiederkehr der schönen Jahreszeit, hielt König Artus in seinem Schloß Cardigan Hof; nie zuvor hatte man eine so herrliche Versammlung gesehen, denn viele treffliche Ritter waren dort vereinigt, unter ihnen auch Erec - kühn, immer zum Kampf bereit und stolz, sowie edle Damen und Jungfrauen, Königstöchter, schön und liebenswürdig. Ehe der Hof sich auflöste, erklärte der König seinen Rittern, er wolle den weißen Hirsch jagen, um die Sitte wiederzubeleben. Jakob hob den Kopf, als er ein Knacken im Unterholz vernahm, und nachdem sein Blick sich geschärft hatte, stand scheinbar zum Greifen nah vor ihm ein Hirsch, mit zitternden Nüstern Witterung aufnehmend. Wieder das Knacken im nahen Gestrüpp - und der Hirsch war mit drei mächtigen Sätzen verschwunden und gab den Blick frei auf einen gebeugten, zerlumpten Alten, der in der Hand einen Korb hielt und Jakob entsetzt anstarrte. »Ich bin es nur«, sagte Jakob, der wusste, dass der Alte kaum noch sehen konnte, »brauchst dich um deine Beeren nicht zu sorgen, niemand wird davon erfahren, dass du sie dem Herrn gestohlen hast.« Der Alte trat heran und blieb auf seinen Stecken gestützt dicht vor Jakob stehen. Der musste all seine Beherrschung aufbringen, um wegen des strengen Geruchs, den der Alte verströmte, nicht das Gesicht zu verziehen. »Reiche Ernte?«, fragte Jakob und deutete auf den Korb mit den Blaubeeren. Der Alte grummelte etwas, erwiderte: »Und du?«, und zeigte dabei mit krummem Finger auf das Säckchen, das neben Jakob im Gras lag, »Schlehenzweige? Für den Gevatter?« Sein trüber Blick wanderte den Stamm des Busches empor, den Jakob zuvor abgeerntet hatte. Jakob nickte. »So haben wir denn beide unser Geheimnis, oder?«, entgegnete er. »Und so soll es auch bleiben«, murmelte der Alte und setzte sich schlurfend in Bewegung. »Stolpere nicht - sonst musst du sie alle von Neuem auflesen!«, rief Jakob ihm nach und lachte. Mit einer wegwerfenden Handbewegung verschwand der Alte im Unterholz. Heute würden er und seine noch ältere Frau, die sich nur noch auf allen Vieren in ihrer Hütte fortbewegen konnte, nicht mit leerem Bauch einschlafen müssen. Jakob seufzte. War es wegen des Gedankens an die bittere Armut der beiden, an der gemessen er und seine sechs Geschwister, sein Vater und seine beiden Mütter wie Könige lebten, oder war es, weil er die Seiten schweren Herzens einsteckte und das Weiterlesen auf einen anderen Tag verlegte? Es war höchste Zeit, den Rückweg durch den Wald zum heimischen Hof anzutreten. Wahrscheinlich seufzte er wegen beidem. Nun ja - Hof. War es ein Hof? Der Grundherr nannte es so. Und deshalb wurden alle Steuern, Abgaben und Frondienste erhoben, die ein bäuerlicher Hof zu entrichten hatte, damit die Herren in der Burg genug zu essen und zu trinken auf den Tisch bekamen. Und nicht nur die: Auch die umliegenden Klöster wollten versorgt und beköstigt sein. Der Großvater, den Jakob nicht mehr leibhaftig kennengelernt hatte, war eigenhändiger Erbauer des Hofes gewesen: ein Lehmhaus auf einem Fundament aus Holz mit einem Dach aus Gras und Stroh. Darin ein Raum für die menschlichen Bewohner und auf der Rückseite ein Raum für die tierischen Bewohner, der den Menschen zugleich als Abort diente. Auf dem Stückchen Land hatten Jakobs Vorfahren seit Menschengedenken gelebt und sich von dem ernährt, was sie mit ihrer Hände Arbeit dem Boden abringen konnten. Das war oftmals mehr als genug, sodass man anderen, denen es nicht so gut ging, weil sie zum Beispiel schwach oder krank waren oder keine Kinder bekamen, abgeben konnte. Bis dann die anderen kamen, auf Streitrossen reitend und mit Schwertern bewehrt, und ihnen mitteilten, was man ihnen, den neuen Besitzern, wann und in welchen Mengen abzuliefern hätte. Hin und wieder musste man dann auch bei ihnen arbeiten, ihre Gärten anlegen und ernten oder für sie in einen Krieg ziehen, wenn sie nach mehr Landbesitz trachteten. Und um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, kamen sie hin und wieder und erschlugen diesen oder jenen, der ihnen über den Weg lief, um allen zu zeigen, wie es dem ergeht, der ihnen nicht gehorcht. Jakob freute sich jedes Mal, wenn er - so wie jetzt - aus dem Wald heraustrat und das Haus auf der nahezu kreisrunden Lichtung vor sich sah. Auf der Rückseite, nach Süden hin, ein kleiner Gemüsegarten und einige Obstbäume, und hinter dem Knick, der das Grundstück begrenzte, die Viehweide und das Getreidefeld. »Bring sie ins Haus«, sagte der Vater, der gerade dabei war, einen neuen Brunnen auszuheben, als er Jakob mit dem Sack voll Schlehenzweigen sah, »und leg sie unters Bett. Ich seh' sie mir später an.« »Sie sind gut«, sagte Jakob, »der ergiebigste Strauch, den ich bislang hatte.« »Das ist gut, aber sprich nicht so laut darüber!«, sagte der Vater und beugte sich wieder über den Brunnen. Das Jutehemd, das er zum Schutz gegen die Mücken trug, spannte über seinem muskulösen Oberkörper. Eigentlich war es ein zu heißer Tag, um bekleidet in der Sonne zu schuften, aber er legte sein Hemd nie ab. Nur manchmal, ganz kurz, wenn die Mutter es ausgewaschen hatte, und danach zog er es sich sofort wieder nass über seinen Körper. »Nein, ich bin ganz leise«, sagte Jakob, der wusste, dass ein Sack voller Schlehenzweige für den Vater so viel Wert besaß wie für andere eine Kiste voll Gold. Denn er beherrschte die Kunst, aus der Rinde Tinte zu pressen. Heimlich natürlich, denn alles, was im Wald wächst, gehört dem Grundherrn, nur Feuerholz dürfen die Bauern sammeln, und das auch nur dann, wenn sie zuvor den Grundherrn beliefert haben und dieser der Meinung ist, dass er nun genügend davon hat. Und da es bisher nicht gelungen war, einen Busch am Haus anzupflanzen, musste die Rinde weiterhin heimlich im Wald geschält werden. Drinnen war es wie immer dunkel. Egal wie hell die Sonne vom Himmel brannte - drinnen musste eine Kerze entzündet werden, um etwas zu sehen, denn zu klein waren die Fensteröffnungen, zu wenig Licht ließen die gegerbten Rinderhäute durch, mit denen sie bespannt waren2. Eine Kerze brannte auf einem Holzklotz in der Mitte des Raumes, und nachdem Jakobs Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, sah er seine Mutter. Sie lag im Bett und schlief, wie sie es meistens tat. Es hieß, bei Jakobs Geburt sei in ihrem Kopf etwas geschehen, etwas sei kaputtgegangen, weshalb sie dem Vater nun keine Frau mehr sein konnte. So lag sie im Bett, man fütterte sie, wusch sie und wartete, wann sie zu sprechen begann. Denn das tat sie manchmal, wenn sie ihre Visionen hatte. Dann wurde ganz schnell der Pfarrer aus dem Nachbardorf geholt. Jakobs Mutter hatte Marien-Erscheinungen. Der Pfarrer schrieb begeistert alles auf und berichtete dann in der Kirche davon, im Gottesdienst. Jakobs Mutter war eine Art Berühmtheit in der Gegend, wenngleich kaum jemand wusste, wie sie aussah, lag sie doch seit fünfzehn Jahren im Bett in der Dunkelheit. Nun hatte sie offenbar gerade keine Erscheinung, sie atmete gleichmäßig und rührte sich nicht. Jakob, nachdem er das Säckchen mit der Dornrinde unter das Bett geschoben hatte, setzte sich neben sie und legte seine Hand auf die ihre. Nie hatte ihm jemand gesagt, was während der Geburt geschehen war, trotzdem hatte er das Gefühl, dass es mit ihm zu tun hätte, mit seinem Eintritt in die Welt. In den ersten Jahren danach soll die Mutter ihren einzigen Sohn hin und wieder angesehen und dabei gelächelt haben, wurde berichtet. Doch je weiter ihr Geist sich von der Welt entfernte, desto seltener geschah dies. Wäre nicht der Bruder des Vaters bald darauf verstorben - er geriet unter die Hufe seiner wild gewordenen Rinder -, hätte der Vater sich wohl eine neue Frau suchen müssen, obwohl die alte ja noch lebte. Ob der Grundherr das genehmigt hätte - wer weiß? Bei Hochzeiten ihrer Leibeigenen sind die Herren oft kleinlich, so als nähme man ihnen persönlich etwas weg. So jedoch zog die Frau des Bruders des Vaters ins Haus und brachte ihr Neugeborenes mit. Inzwischen hatte sie fünf weiteren Kindern das Leben geschenkt, die Jakob, da er der älteste von ihnen war, wie einen Vater ansahen. Das war dem Vater sehr recht, hatte er doch genug mit dem Hof zu tun, als dass er sich auch noch um Kinder kümmern könnte, wie er sagte. Insgeheim wunderte Jakob sich darüber manchmal, hatte doch die Frau das Getreide zu dreschen, das Brot zu backen, die Kühe zu melken, den Gemüsegarten zu pflegen, die Kleidung zu nähen, die Feuerstelle Tag und Nacht zu bewachen, weshalb sie fast immer entzündete Augen hatte, Obst einzukochen, Bier zu brauen, das Essen zu machen und den Liebestrank für den Gatten zuzubereiten, für den sie täglich Löwenmaul, Tulpenzwiebeln, Lauch, Disteln, Kichererbsen und Fenchel frisch zubereitete. Dass Jakob ein wenig hinkte und für sein Alter etwas zu klein war - was alle auf die schwere Geburt zurückführten - störte die Kinder nicht und auch sonst niemanden. Man kann im Gegenteil sagen, dass alle, auch die Bewohner der umliegenden Höfe, die zusammen das Dorf bildeten, ein Lächeln auf dem Gesicht hatten, wenn sie Jakob sahen. Er brauchte gar nichts Besonderes zu tun, seine bloße Anwesenheit wirkte erheiternd. Irgendetwas ging von ihm aus, was die Leute fröhlich stimmte, ohne dass sie es merkten. Und wenn er dann doch etwas tat, wurde es richtig lustig. Jakob konnte nämlich vieles, was die meisten nicht können. Er konnte auf den Händen laufen, an manchen Tagen sogar auf einer Hand, er konnte die unmöglichsten Grimassen ziehen, er konnte schielen in beide Richtungen, und was die Leute am meisten verblüffte: Er konnte mit den Ohren wackeln. Manchmal, bei Zusammenkünften der Dorfgemeinschaft, wenn zum Beispiel über die Anlage des neuen Dorfangers geredet wurde, konnte er seine Ohren in die Richtung desjenigen drehen, der gerade das Wort hatte. Und wenn zwei gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen sprachen, konnte er die Ohren in verschiedene Richtungen drehen. Damit hatte er schon manchen Zwist beigelegt, weil alle, auch die ärgsten Streithähne, vor Lachen nicht mehr sprechen konnten. An diesem Abend würde der Vater ihn zu einer Versammlung mitnehmen, bei der ein neuer Schulze3 gewählt werden sollte, und wie üblich schien es der reichste Bauer werden zu sollen. Es gab aber auch die Gegenmeinung, dass der Schulze eben nicht der Reichste von allen sein solle, um gar nicht erst in Versuchung zu kommen, die Nähe zum Grundherrn zu suchen und mit diesem gemeinsame Sache zu machen. »Das hat man nämlich schon oft genug erlebt«, schimpfte der Vater. »Wir brauchen einen Dorfobersten«, erklärte er, »der sich für sein Dorf einsetzt und keinen, der sich als Handlanger der adligen Herren aufführt und am liebsten selbst einer von denen wäre.« Aber das sagte er nur leise und nur zu Jakob.mehr

Autor

Karsten Flohr war Tageszeitungsredakteur beim Hamburger Abendblatt, bevor er für verschiedene Zeitschriften tätig wurde. 2012 erschien sein erster Roman "Zeiten der Hoffnung". 2015 wurde im acabus Verlag "Leah", die Geschichte einer jüdisch-arischen Liebe während der Nazi-Zeit, veröffentlicht. Weitere Romane (u.a. "Die neun Tage des Ekels" und "Hotel Savoy") folgten. Karsten Flohr lebt und arbeitet in Hamburg.

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