Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Stillstände

E-BookEPUBDRM AdobeE-Book
124 Seiten
Deutsch
Lindemannserschienen am09.12.2020
Dieses Buch ist dem Gedächtnis der 'wahren' Kriegskinder gewidmet: den zwischen 1930 und 1940 Geborenen. Aus der Perspektive eines solchen Kriegskindes erzählt Götz Großklaus vom Ausnahmezustand der Kriegszeit und von Schlüsselerlebnissen der Nachkriegsjahre. Er berichtet von lebens- und zeitgeschichtlichen Ereignissen, die exemplarisch sind für diese Generation, und erinnert sich an historische Zäsuren und Wendepunkte in der Zeit von 1939 bis 1989, vom Kriegsausbruch bis zum eigentlichen Kriegsende, der deutschen Wiedervereinigung.

Götz Großklaus war Professor für Neuere Deutsche Philologie an der Universität Karlsruhe und für Mediengeschichte an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Als Literaturwissenschaftler mit Schwerpunkt Mediengeschichte und Medientheorie hatte er Gastprofessuren in Kairo, Melbourne und Istanbul inne.
mehr
Verfügbare Formate
E-BookEPUBDRM AdobeE-Book
EUR9,99
E-BookPDFDRM AdobeE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextDieses Buch ist dem Gedächtnis der 'wahren' Kriegskinder gewidmet: den zwischen 1930 und 1940 Geborenen. Aus der Perspektive eines solchen Kriegskindes erzählt Götz Großklaus vom Ausnahmezustand der Kriegszeit und von Schlüsselerlebnissen der Nachkriegsjahre. Er berichtet von lebens- und zeitgeschichtlichen Ereignissen, die exemplarisch sind für diese Generation, und erinnert sich an historische Zäsuren und Wendepunkte in der Zeit von 1939 bis 1989, vom Kriegsausbruch bis zum eigentlichen Kriegsende, der deutschen Wiedervereinigung.

Götz Großklaus war Professor für Neuere Deutsche Philologie an der Universität Karlsruhe und für Mediengeschichte an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Als Literaturwissenschaftler mit Schwerpunkt Mediengeschichte und Medientheorie hatte er Gastprofessuren in Kairo, Melbourne und Istanbul inne.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783963081088
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisDRM Adobe
FormatE101
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum09.12.2020
Reihen-Nr.366
Seiten124 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2822 Kbytes
Artikel-Nr.14297121
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



Die bleierne Zeit :
Deutschland - Trümmerland

1945 - 1947

Das Hintergrundrauschen der Kriegsjahre war verstummt: das erschreckende auf- und abschwellende Geheul der Alarmsirenen, der gleichmäßig tiefe, die Rückkehr zur Normalität vortäuschende Ton der Entwarnungs-Sirenen, das bedrohliche Dröhnen der Bomberpulks, das pfeifend-fauchende Geräusch der niedergehenden Bomben, das hysterische Geschrei des Diktators aus dem Volksempfänger, der betörend falsche Singsang der Zarah Leander, die verzerrt übertragenen Klänge des sonntäglichen Opern-Rundfunkkonzerts, die geheimnisvolle, verbotene, nächtliche Stimme Hugh Carlton Greens der British Broadcasting Company aus dem Feindesland . Jetzt im ersten Sommer nach der Kapitulation glaubte man in der von Flüchtlingen überfüllten Stadt einen befremdlichen, anonymen stöhnenden Klagelaut vernehmen zu können, der von einer Masse verstörter Menschen auszugehen schien wie von einem verwundeten Tier. Zu Tausenden waren sie, aus dem Osten kommend, in die kleine Stadt am Harz geflüchtet: Frauen und Kinder, wenige alte Männer. Auch der Großvater war in seinem Haus unter Frauen und Kindern der einzige Mann - ebenso im ganzen Wohnviertel -, nur der vom Wahnsinn getriebene Schneider Böck rannte als Kaiser von China die Straße auf und ab und musste von seiner Frau wieder eingefangen werden. Die Väter blieben verschwunden, nur die Mütter waren am Ort und besorgten das Überleben. Beim Holzsuchen in den Wäldern stieß der Enkel auf die weggeworfenen Gewehre und Stahlhelme der verschwundenen Soldaten. Die Tante vermisste ihren Sohn, seinen Vetter, der noch kurz vor Kriegsende als sog. Flakhelfer eingezogen worden war; auch seine Stimme war verstummt, die über eine geheime Frequenz im Volksempfänger zu hören gewesen war, wenn er die Einflugbewegungen der Bomberverbände im Netz der Planquadrate, die das deutsche Land überzogen, von einem Flak-Sender verbreitet, verlesen hatte. Bei Ida-Berta-Fünf erreichten die einfliegenden Bomberverbände die Harzregion, und die Großmutter verließ als Erste mit gepacktem Köfferchen das Haus, um in den als Luftschutzraum ausgewiesenen fürstlichen Felsenkeller zu fliehen. Die todbringenden fliegenden Festungen am Himmel lösten bei dem Enkel widersprüchliche Gefühle von Angst, Schrecken und Faszination aus. In der Weite des Himmels, in der Entfernung von mehreren tausend Meter Höhe bildeten die fliegenden Pulks einen fliegenden Teppich silberner Punkte. Während der Tagesalarme hatte er die fremden Flugzeuge durch das Fernglas des Großvaters sehen und dingfest machen können; etwas anderes war es mit den unsichtbar bleibenden, dröhnenden Bomberströmen in der Nacht: ein metallisches Gewitter, dem nicht zu entkommen war und das in ihm ein Gefühl der Gefahr auslöste, das sich zu panischer Angst steigern konnte, da die Gewalt von überall auszugehen schien und sich körperlos allein dem Gehörsinn mitteilte.

In diesen Kriegsjahren war des Öfteren abends ein älteres Ehepaar durch die verdunkelte Stadt ins Haus des Großvaters zum Kartenspiel gekommen und musste wegen der häufigen Nachtalarme länger ausharren bis es den Heimweg antreten konnte. Der Enkel bekam sie selten zu Gesicht; etwas geheimnisvoll erschienen ihm die Besucher; mehrmals begleitete sie ein junger Mann, was auch die Mutter merkwürdig fand. Junge Männer vermutete man damals eher an der Front. Irgendwann hörten die Besuche auf. Später glaubte die Mutter, dass die abendlichen Besucher oder der junge Mann Juden gewesen sein könnten. Dass sie möglicherweise die Bomberpulks und ihr Vernichtungswerk gutgeheißen hätten und dass die todbringende Gefahr für sie in jedem Augenblick zu jeder Minute und Stunde auf ganz andere und unvorstellbare Weise bestand, hätte wohl für ihn, den Elfjährigen, sein Fassungsvermögen überfordert. Niemand im Haus des Großvaters hatte ihn darüber aufgeklärt, was es bedeutete, ein Jude zu sein im Deutschland dieser Kriegsjahre. Den tödlichen Sinn jener Judenlieder, die er beim Deutschen Jungvolk als Pimpf mitgesungen hatte, konnte er nicht erfassen.

Im Juli 1945 kommen die Russen auf Panje-Wagen in die Stadt am Harz. Nach dem Erlass der Sowjetischen Militär Administration (SMAD) sollen alle Waffen: Flinten, Jagdgewehre, Degen und Dolche und alle Nazi-Memorabilien: Bilder, Bücher und Fahnen unverzüglich abgeliefert werden. Kopf- und besinnungslos war er mit dem Hammer auf den goldenen Marine-Offiziersdolch seines Vaters und auf sein Pimpfen-Koppelschloss losgegangen und hatte beides zerschlagen - wie auch die alte Schallplatte mit dem Propagandasong: Denn wir fahren, denn wir fahren gegen Engel-Land , die zu einem ausgemusterten Grammophon gehörte, das ihm Helga, die schöne Gastwirtstochter, aus dem Bestand des väterlichen Betriebs geschenkt hatte. Plötzlich sollte alles verschwinden, was an die untergegangene Zeit erinnerte; plötzlich machte er sich zum Zertrümmerer dessen, was er eben noch wertgeschätzt hatte: aus Angst, aus Feigheit, aus Wut, aus Scham? Wollte er sich rächen an einem Verrat, der an ihm begangen worden war? Er hätte es nicht sagen können.

Die Schulen waren geschlossen und standen leer. Er konnte sich gut vorstellen, dass der Geschichtslehrer mit den Schaftstiefeln und der SA-Uniform als einer der Ersten verschwunden war. Jetzt räumten die Schergen die Bühne. Was er nicht wissen konnte: die Chefs der Unterwelt inszenierten ihre theatralischen Abgänge eigens auf der Schaubühne ihres Berliner Bunkerverließes. Der Oberspielleiter hatte daran erinnert, dass in hundert Jahren über diese schrecklichen Tage, die sie jetzt durchlebten, ein Farbfilm gezeigt werde und jeder sich für seine Rolle, die er spielen möchte, entscheiden solle und durchhalten müsse, damit die Zuschauer in hundert Jahren nicht johlen und pfeifen, wenn sie auf der Leinwand erschienen. Das Oberhaupt der Chaostruppe wollte diesen Empfehlungen offenbar Genüge tun, indem er sich theatralisch eine Pistolenkugel durchs Gehirn jagte. Für sein vollkommenes Verschwinden hatte er gesorgt, nichts sollte von dem Leichnam bleiben.

Von diesem letzten Coup auf der Bühne des geschichtlichen Schmierentheaters drang natürlich nichts nach draußen; ob man im Haus des Großvaters die von Wagner-Musik umrahmte Rundfunk-Nachricht vom Heldentod des Größten Feldherrn aller Zeiten , des sog. Gröfaz, gefallen als Held im letzten Gefecht gegen den Bolschewismus am 30. April in der Mitte der Hauptstadt Berlin, hatte hören können, bleibt ungewiss. Der 12-jährige Enkel hätte ohnehin das Verschwinden dieser Schimäre eines Mannes, dessen Namen man im alltäglichen Gruß zu verwenden hatte und dessen Bild allgegenwärtig war, nie und nimmer in Verbindung bringen können mit dem gleichzeitigen Verschwinden des eigenen leibhaftigen Vaters jetzt in den letzten Apriltagen während des Zusammenbruchs der Front in Italien. Das Bild der Schimäre war ihm so vertraut, allein schon von den Briefmarken seiner Sammlung. Sein befremdlich heroisierter Lebenslauf war dem Pimpfen eingebläut worden, sodass er mehr von der Schimäre wusste als vom eigenen Vater. Seit diesen Apriltagen des Jahres 1945 war die Mutter ohne Nachricht von ihrem Mann. Später wussten sie, dass es die folgenden Maitage gewesen waren, an denen das Leben des Vaters am seidenen Faden hing. Gefangen genommen von Tito-Partisanen in der Nähe von Monfalcone am 3. Mai, bei anbrechender Dunkelheit mit 2.000 Gefangenen in Marsch gesetzt in Richtung Karst und jugoslawische Grenze, ausgebrochen aus der Kolonne, geflohen unter Beschuss, fast verdurstet auf Nachtmärschen zurück in westlicher Richtung zum Isonzo, wieder gefangen genommen von neuseeländischen Truppen am 20. Mai 1945 - 11 Tage nach der unconditional surrender Deutschlands -, einen Monat nach dem Pistolenschuss in einem Berliner Bunker.

In Gleichzeitigkeit zu diesen Ereignissen weit außerhalb seines Gesichtskreises stand der Enkel an diesen Tagen im April und Mai vielleicht gerade vor den Zelten der Kaugummi-kauenden, schlaksigen amerikanischen Soldaten und bestaunte ihre Jeeps. Als Sohn eines deutschen Offiziers gehört es sich nicht, hier herumzustehen , vernahm er plötzlich aus dem Munde einer älteren Dame, die er schon bei der Großmutter gesehen hatte. Ihr strafender Ausruf erreichte ihn nicht. Er konnte nicht verstehen, was sie ihm übermitteln wollte. Was er heraushörte war, dass sie die Anwesenheit und das Verhalten der amerikanischen Besatzungssoldaten offenbar missbilligte. Nicht im Traum hätte er sich vorstellen können, hier als Sohn seines abwesenden Vaters, der ihm ohnehin seit Kriegsbeginn nur als Urlauber in Uniform begegnet war, wahrgenommen zu werden. Der Vater war ihm fremd geworden. Auch konnte er nicht wissen, was die Frau mit der Berufung auf den deutschen Offizier sagen wollte - und welcher Ungehörigkeit sie ihn bezichtigte. Wieder geriet er zwischen die Fronten der Generationen. In der Äußerung der älteren Frau schwang zu viel an Klassen- und Standesvorurteilen mit aus einer Epoche, die längst schon mit dem Ersten Weltkrieg untergegangen war. Ohne dass es dem Elfjährigen bewusst sein konnte, ohne dass er es hätte benennen können, bekam er schon ein Gespür für jene Unwahrhaftigkeit, in der so viele Menschen nach dem Höllensturz des Regimes befangen sein würden. Deutschland lag in Schutt und Scham und Schande. Menschenmassen zogen aus allen Himmelsrichtungen durch das Land: Flüchtlinge aus Schlesien, Ostpreußen und Pommern, die ersten PWs (Prisoners of war), Kriegsgefangene aus den Lagern der Alliierten, befreite Zwangsarbeiter der deutschen Rüstungsbetriebe aus allen Ländern Europas: DPs displaced persons: eigentlich alle, die jetzt durch die deutsche Trümmerwüste irrten,...

mehr

Autor

Götz Großklaus war Professor für Neuere Deutsche Philologie an der Universität Karlsruhe und für Mediengeschichte an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Als Literaturwissenschaftler mit Schwerpunkt Mediengeschichte und Medientheorie hatte er Gastprofessuren in Kairo, Melbourne und Istanbul inne.