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Bei Licht ist alles zerbrechlich

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
Diogeneserschienen am21.08.2024
Davide und Teresa träumen sich schon lange fort von ihrem Dorf, fort von den vorgezeichneten Wegen. Doch an einem Tag im Jahr 1942 taucht plötzlich Nicolas in ihrem Leben auf, ein zwangsumgesiedelter jüdischer Junge aus Neapel. Es wird der Sommer ihres Lebens. Bis der Krieg auch ihr Dorf erreicht - und die zarten Bindungen zwischen den drei Jugendlichen zerreißt. Sie verlieren sich aus den Augen, doch nie ganz aus dem Sinn. Jahre später kommt es zu einem Wiedersehen, und alles ist vertraut und doch verwirrend anders.

Gianni Solla, geboren 1974 in Neapel, schreibt Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Sein jüngster Roman ?Bei Licht ist alles zerbrechlich? erscheint in 12 Sprachen. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Neapel.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR20,99

Produkt

KlappentextDavide und Teresa träumen sich schon lange fort von ihrem Dorf, fort von den vorgezeichneten Wegen. Doch an einem Tag im Jahr 1942 taucht plötzlich Nicolas in ihrem Leben auf, ein zwangsumgesiedelter jüdischer Junge aus Neapel. Es wird der Sommer ihres Lebens. Bis der Krieg auch ihr Dorf erreicht - und die zarten Bindungen zwischen den drei Jugendlichen zerreißt. Sie verlieren sich aus den Augen, doch nie ganz aus dem Sinn. Jahre später kommt es zu einem Wiedersehen, und alles ist vertraut und doch verwirrend anders.

Gianni Solla, geboren 1974 in Neapel, schreibt Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Sein jüngster Roman ?Bei Licht ist alles zerbrechlich? erscheint in 12 Sprachen. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Neapel.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783257615395
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Verlag
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum21.08.2024
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse892 Kbytes
Artikel-Nr.14343530
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



Tora e Piccilli (Caserta), 1942

 

In Tora kannten sie mich als den Schweinehirten und einzigen Sohn von Tommaso Rafâfaele Fortunato Buonasorte, genannt Furtunà, Analphabet, schwach auf der Brust, Pilzsammler, Besitzer von fünfzehn Schweinen und Mitglied der Faschistischen Partei, Ortsgruppe Caserta.

Wir waren Landleute, mit Boden und Tieren kannten wir uns aus, aber nicht mit Menschen. Mein Vater sagte, man brauche nicht zur Schule zu gehen: Ein Schwein und noch ein Schwein macht zwei Schweine, hat man das begriffen, kann man auch kompliziertere Rechnungen anstellen.

»Wenn du weißt, wie die kleinen Dinge funktionieren, verstehst du die großen«, sagte er zu mir und rührte Mehl und Kleie im Blecheimer zusammen, um die Tiere zu füttern, die unruhig warteten.

»Ja«, antwortete ich, auch wenn es nicht stimmte, denn im Dorf hatte niemand mehr als vierzig Schweine oder vierzig Ziegen, und man kann sich die Größe der Welt nicht vorstellen, nur weil man weiß, dass ein Schwein plus ein Schwein zwei macht.

Mit Nachnamen heißen wir Buonasorte - Glück. Die Alten, die den lieben langen Tag auf dem Platz saßen, sagten, in den Worten steckt die Wahrheit oder ihr Gegenteil. Sieht man sich die Geschichte meiner Familie an, angefangen bei meinen Großeltern väterlicherseits, die bei der Schufterei im Steinbruch von Maddaloni bei der Dezemberexplosion starben, bis zu mir mit meinem von Geburt an verteufelten rechten Bein, ist nicht schwer zu erahnen, wie herum unser Nachname zu verstehen ist.

Die Schweine verkaufâten wir entweder auf dem Markt, oder mein Vater stach sie auf dem Platz vor dem Koben ab. Von jedem einzelnen kannte ich die Eltern und Geschwister. Ich konnte die beiden Hauptlinien, von denen sie abstammten, fünf Jahre zurückverfolgen. Jedes gab etwas an seine Kinder weiter, bis auf Nero, den Schwarzen, der aussah, als hätten ihn die Eichen im Wald geboren. Einmal habe ich geträumt, wie das Holz sich öffnete und die alte Eiche stöhnte wie die Kühe. Der Schwarze war wild, brutal und nicht zu bändigen. Er war das gefährlichste Tier im Dorf, und mein Vater konnte es gar nicht abwarten, ihn zu verkaufen oder abzustechen. Er war der Einzige, vor dem ich Angst hatte, und das einzige Wesen auf der Welt, dem ich ähnlich sein wollte.

 

An dem Tag kam mein Vater gegen elf zum Koben. Er war im Dorf gewesen, um die Medizin für meine Schwester Rosetta zu holen, die die ganze Nacht gehustet hatte. Ich hatte sie auf der anderen Seite der Wand gehört, es klang, als hätte sie eine Grotte in der Brust. Meine Mutter sagte immer wieder: »Gleich geht´s weg«, aber das tat es nicht.

Es war das zweite Jahr in Folge, dass Rosetta Bronchitis bekommen hat, und wir hatten gehört, dass in Neapel schon zwanzig Kinder an Keuchhusten gestorben waren. Meine Mutter hat das Figürchen der Madonna von Pompeji auf Rosettas Brust gelegt und gesagt, wir sollten uns bekreuzigen. Mein Vater hat zehn Minuten gewartet, um zu sehen, ob sich durch das Zutun der Madonna das Geld für Dottor Scognamiglio sparen ließe, dann hat er sich um drei Uhr nachts auf den Weg ins Dorf gemacht.

»Gleich geht´s weg, gleich geht´s weg, Rosetta, keine Sorge, jetzt kommt der Doktor und sagt uns, was du nehmen musst, und wenn er dir nicht hilft, dann tut es bestimmt die Madonna.«

Dottor Scognamiglio hat das Figürchen der Madonna von Pompeji fortgenommen, das meine Mutter inzwischen unter Rosettas Leibchen geschoben hatte, und bat sie, den Mund aufzumachen. Dann befühlte er ihre knochigen Arme. Ich hatte den Blick des Doktors bemerkt, als er hereingekommen war, und nachdem er Rosetta in den Hals geschaut hatte, machte er das gleiche Gesicht.

Nach der Visite hat er meinem Vater einen Zettel mit dem Namen der Medizin überreicht, die wir kaufen sollten. Mein Vater hat ihn zu lesen versucht und ist stammelnd über die Buchstaben gestolpert. Dann hat er ihn meiner Mutter gegeben.

Nur Rosetta schaffâte es, den Namen zwischen einem Hustenanfall und dem nächsten nachzusprechen.

»Sehr gut«, hat der Arzt gesagt, auch wenn er damit meinte: »Die Einzige, die in diesem Haus in der Lage ist, den Namen einer Arznei nachzusprechen, könnte heute Nacht sterben.«

»Ihr müsst ihn nicht vorlesen. Geht zum Apotheker und gebt ihm den Zettel«, hat der Arzt meinen Eltern erklärt, während er den Schlauch, mit dem er das Herz abgehört hatte, wieder in seine Ledertasche packte.

Als Scognamiglio hinter dem zweiwipfeligen Baum vor unserer Haustür verschwunden war, haben meine Mutter und mein Vater die Schublade geöffnet, um das Geld zu zählen. Mit dem Bild der Geldscheine auf dem Tisch und ohne zu wissen, ob ich meine Schwester am nächsten Tag wiedersehen würde, bin ich schlafen gegangen.

 

»Das Wasser für die Tiere?«, war das Erste, was mein Vater fragte, als er vom Dorf wiederkam.

»Habe ich gewechselt.«

Er blickte zu den Tränken.

»Das nennst du gewechselt?«

Eine fliegenumschwirrte Pfütze war darin.

Ich senkte den Blick.

»Das musst du als Allererstes wechseln. Vergiss das nicht. Wenn die Tiere sterben, sterben wir auch.«

Zuerst sprach er ganz ruhig, dann versetzte er dem Zuber einen Tritt und kippte den Rest Wasser aus. Die Lache breitete sich auf dem Boden aus und wurde zu einem winzigen Rinnsal, das auf meine Füße zukroch.

Mir wäre es lieber gewesen, er hätte mich endlich einmal geschlagen wie die Schweine, um mir zu zeigen, dass ich genauso viel wert war wie sie.

»Los, gib den Viechern Wasser.«

Die Tiere hatten etwas mitbekommen, und der Schwarze wurde unruhig. Mein Vater packte mich beim Pulloverkragen und hob meinen Kopf, damit ich ihm in die Augen sah.

»Du musst das Wasser der Tiere wechseln. Diese Schweine sind bessere Christen als du und ich zusammen. Mach das noch mal, und du kannst was erleben.«

Er hatte recht.

In dem Moment nahm der Schwarze Anlauf und rammte seinen muskulösen Wildtierschädel gegen die Bretter des Verschlags. Mein Vater machte einen Satz rückwärts und ließ mich los. Der Aufprall war heftig: Das Holz bog sich, und ein paar Splitter blieben in seinem Kopf stecken. Hätten Schweine kräftigere Zähne, müssten wir sie mehr fürchten als Wölfe.

»Dieses Dreckstück ist verrückt geworden«, sagte mein Vater.

Der Schwarze hatte mich verteidigt.

Mein Vater griff sich die Harke und ging auf den Verschlag zu.

»Elendes Mistviech«, brüllte er und hieb auf seinen Rücken ein. Ich glaubte schon, er würde ihm das Kreuz brechen.

»Hör auf«, schrie ich.

Der Schwarze floh in die hinterste Ecke. Nicht einmal mein Vater traute sich hinein, denn der Schwarze konnte einen mit einem Kopfstoß zu Boden werfen.

»Ich bring dich um, du bist als Nächster dran«, sagte mein Vater immer wieder in dem Dialekt, der die Lebenden mit den Toten unseres Dorfes verband, jener Sprache, die seit Urzeiten von Mensch und Tier gesprochen wurde.

»Ich geh Wasser holen«, sagte ich, »ich tu´s nie wieder, es war meine Schuld.«

Die Schläge hatten mir gegolten, doch er hatte einen Weg gefunden, mir noch größeren Schmerz zuzufügen.

Mein Vater wollte etwas erreichen im Leben. Ich war sein einziger Sohn, und er glaubte, mit mir an seiner Seite könnte er den kleinen Hof aufbauen, der ihm vorschwebte. Doch mein Körper und mein mangelndes Interesse an einträglicher Arbeit konnten seinen Erwartungen nicht gerecht werden, und dieser Junge, der sich hinkebeinig durchs Dorf bewegte, war zu seiner Schande geworden. Mit dem kürzeren Bein war er mehr gestraft als ich. Vielleicht starrte er deshalb stumm auf die Fotografien der frisch einberufenen jungen Männer in den Zeitungen.

Furtunà hatte seine Art zu schweigen, mit dem Kinn in der Hand und ständig mit etwas beschäftigt, als fürchtete er sich vor der Leere. Im Dorf war er als redlicher Mensch bekannt, doch zu Hause fürchteten wir seine Wutausbrüche. Wenn er seinen Zorn nicht an mir ausließ, war meine Mutter dran. Ich bin nie dahintergekommen, was ihn dazu trieb, so felsenfest an den Faschismus zu glauben.

 

Um die Tränken zu füllen, braucht es insgesamt neun Eimer, achtzehn halbe Eimer, sechsunddreißig Vierteleimer. Mit dem Messer hatte ich Kerben ins Blech geritzt. Reichte das Wasser bis zur langen Kerbe, wusste ich genau, wie oft ich zum Brunnen gehen musste. Wenn die Tränken halb voll waren, reckten sich die Tiere, um zu trinken. Je mehr sie tranken, desto mehr hatte mein Vater recht. Nur der Schwarze tat ihm den Gefallen nicht. Er war der Anführer und würde als Letzter trinken und erst, wenn mein Vater hinausgegangen wäre.

»Jetzt hör gut zu«, sagte er zu mir. »In ein paar Tagen kommen sie, und wir müssen aufpassen.«

»Wer kommt?«

»Hat dir das keiner gesagt?«

Ich schüttelte den Kopf.

Er hob einen Zweig vom Boden auf und wedelte damit in der Luft herum, als wollte er etwas zeichnen.

»Es ist nicht gut, dass sie sie herkommen lassen.«

»Wen lassen sie kommen?«, bohrte ich nach.

Dabei hatte ich die Alten auf dem Platz darüber reden hören, mit gedämpfâter Stimme wie bei allem, was man nicht sagen darf. Sie hielten das für keine gute Sache und...
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