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Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
352 Seiten
Deutsch
Kiepenheuer & Witsch GmbHerschienen am05.09.2024
Eine junge Frau begibt sich auf die Spuren ihres verstorbenen Vaters, der ein geheimes zweites Leben geführt hat, von dem die Tochter nicht das Geringste wusste. Schreibend nähert sie sich diesem Fremden an und beleuchtet zugleich die dunklen Ecken der italienischen Geschichte. Als ihr Vater stirbt, ist Marta Barone keine dreißig Jahre alt. Ihre Mutter findet eine Akte mit Dokumenten zu einem Prozess, in dem er angeklagt wurde, Mitglied einer linksradikalen Bewegung zu sein. Und plötzlich ist nichts mehr, wie es einmal war: Wer war ihr Vater wirklich? Dieser fremde junge Mann, Leonardo, der immer auf der Seite der Besiegten stand, der Arzt aus der Arbeiterklasse, der dort kämpfte, wo es jemanden zu retten galt, und der als Mitglied einer linksextremen Gruppe zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde? Warum hatte er nie mit ihr, seiner Tochter, darüber gesprochen? Zeugnisse, Erinnerungen und Enthüllungen fügen sich langsam zu dem zarten Porträt eines widersprüchlichen Menschen zusammen, der in einer aufwühlenden Zeit lebte. Dabei sind die Straßen Turins der Schauplatz des täglichen politischen Kampfes. Marta Barones Roman ist der dringliche Versuch, zu verstehen: Wer waren diese militanten Kommunisten? Woran glaubten sie? Und was ist eine Generation später von ihrem Kampf geblieben? Dieses autofiktionale Debüt ist ein außergewöhnliches Zeitzeugnis und die bewegende Auseinandersetzung mit dem geheimen Leben des Vaters.

Marta Barone wurde 1987 in Turin geboren. Sie ist Übersetzerin und freiberufliche Lektorin. Ihr Romandebüt, das in sieben Sprachen übersetzt wurde, stand auf der Shortlist des Premio Strega und wurde mit dem Premio Letterario Nazionale Elio Vittorini und dem Premio Fiesole ausgezeichnet. Barone ist auch Autorin mehrerer Kinderbücher.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextEine junge Frau begibt sich auf die Spuren ihres verstorbenen Vaters, der ein geheimes zweites Leben geführt hat, von dem die Tochter nicht das Geringste wusste. Schreibend nähert sie sich diesem Fremden an und beleuchtet zugleich die dunklen Ecken der italienischen Geschichte. Als ihr Vater stirbt, ist Marta Barone keine dreißig Jahre alt. Ihre Mutter findet eine Akte mit Dokumenten zu einem Prozess, in dem er angeklagt wurde, Mitglied einer linksradikalen Bewegung zu sein. Und plötzlich ist nichts mehr, wie es einmal war: Wer war ihr Vater wirklich? Dieser fremde junge Mann, Leonardo, der immer auf der Seite der Besiegten stand, der Arzt aus der Arbeiterklasse, der dort kämpfte, wo es jemanden zu retten galt, und der als Mitglied einer linksextremen Gruppe zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde? Warum hatte er nie mit ihr, seiner Tochter, darüber gesprochen? Zeugnisse, Erinnerungen und Enthüllungen fügen sich langsam zu dem zarten Porträt eines widersprüchlichen Menschen zusammen, der in einer aufwühlenden Zeit lebte. Dabei sind die Straßen Turins der Schauplatz des täglichen politischen Kampfes. Marta Barones Roman ist der dringliche Versuch, zu verstehen: Wer waren diese militanten Kommunisten? Woran glaubten sie? Und was ist eine Generation später von ihrem Kampf geblieben? Dieses autofiktionale Debüt ist ein außergewöhnliches Zeitzeugnis und die bewegende Auseinandersetzung mit dem geheimen Leben des Vaters.

Marta Barone wurde 1987 in Turin geboren. Sie ist Übersetzerin und freiberufliche Lektorin. Ihr Romandebüt, das in sieben Sprachen übersetzt wurde, stand auf der Shortlist des Premio Strega und wurde mit dem Premio Letterario Nazionale Elio Vittorini und dem Premio Fiesole ausgezeichnet. Barone ist auch Autorin mehrerer Kinderbücher.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783462301557
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum05.09.2024
Seiten352 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1947 Kbytes
Artikel-Nr.14350566
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

I Das erste Kitesch

Diese Geschichte hat zwei Anfänge: Mindestens zwei, denn wie immer im Leben ist es schwer zu bestimmen, was wann genau beginnt, welcher Strudel von Zufällen hinter dem steckt, was scheinbar aus heiterem Himmel kommt, welches Gesicht sich irgendwann in der Vergangenheit einmal einem anderen zugewandt und dadurch die ungeahnte Kette von Ereignissen und Personen angestoßen hat, die uns hervorbrachte. Zuerst aber - das kann ich mit einiger Gewissheit sagen - wurde ich geboren. Es war März, es schneite, und es war 1987. Meine Eltern hatten sich erst ein paar Jahre vorher kennengelernt und sollten sich drei Jahre später endgültig trennen.

Geboren wurde ich von einer Frau mit einem Loch im Kopf - meine Mutter hatte dreizehn Jahre zuvor einen Unfall gehabt. Ich blieb nach der Entbindung eine Woche zur Beobachtung im Krankenhaus, weil ich unter Entzug von den Antiepileptika litt, die sie damals noch nehmen musste. Vom Unfall, von dem Koma und den Operationen war ihr nur eine kleine Delle geblieben, wo man ein fehlendes Stück Schädel durch ein Metallnetz ersetzt hatte, über das mit der Zeit ihr feines Haar wieder gewachsen war. Zum Schlafen legt sie sich immer auf die andere Seite, weil das fehlende Stück Kopf noch heute schmerzt.

In gewisser Hinsicht kann man sagen, dass ich aus diesem Loch hervorgegangen bin. Meine ganze Existenz verdankt sich dieser Wunde, dieser Pforte zum Abgrund der Möglichkeiten. Als meine Mutter mit dreiundzwanzig vom Sozius eines Motorrads stürzte, waren dessen Fahrer und sie gerade unterwegs, um Dokumente für ihrer beider Hochzeit zu besorgen. Und dann kam alles anders. So zweigte vom bisherigen Weg meiner zukünftigen Mutter, dieses spitzgesichtigen Mädchens auf den Fotos dieser Zeit, von ihrem auf den Asphalt einer Landstraße geschleuderten Körper, ein neuer Weg ab, aus dem schließlich der meine hervorgehen sollte.

 

Der zweite Anfang der Geschichte fiel, ohne dass ich damals etwas davon ahnte, auf den Herbst meines siebenundzwanzigsten Lebensjahrs, in dem ich aus der Wohnung, in der ich mein Leben lang gewohnt hatte, nach Mailand umzog. Dort mietete ich eine Einzimmerwohnung im dritten Stock eines Gebäudes aus den Zwanzigern. Sie hatte Parkett, eine kleine Kochnische und war den ganzen Tag von Licht durchflutet - später fand ich das unerträglich, damals aber noch nicht. Diese Wohnung war der erste Ort, der mir allein gehörte, und sie bedeutete mir fast so viel wie die Liebe eines Menschen.

Unter der Woche war ich allein. Morgens zog ich ganz früh los und streifte ziellos durch die Stadt. Es war Anfang September, und nach einem kalten, regnerischen Sommer lag späte Hitze auf den noch stillen Boulevards. Gleich um die nächste Ecke, in einer Straße mit dem luftigen Namen Beato Angelico, pfiff manchmal von einem der obersten Balkone ein Kanarienvogel. An seinem Ruf - dieser unverwechselbare Rasensprengerklang, der schließlich zu einem langen, schrillen Ton anschwillt - erkannte ich ihn als Belgischen Wasserschläger (und einen Augenblick lag auf dem Bürgersteig der zarte Schatten der Voliere, in der ich als Kind mit meinem Onkel immer die Nester überprüft hatte, und ihr schwerer grüner Duft stieg mir in die Nase). In der stehenden Luft wirkten die leeren Gebäude der naturwissenschaftlichen Fakultäten in meinem Viertel wie seit Jahrtausenden verlassen. Ich spazierte den ganzen Tag herum, bog aufs Geratewohl von einer Straße in die nächste und sah nur hin und wieder mal auf meinem Handy nach, wo ich gelandet war. Die Stadt war mir vollkommen fremd, sie kannte auch mich nicht, und irgendwie war das beruhigend.

Manchmal brachte eine plötzliche Brise die Luft ein wenig in Bewegung. Dann trieben Wolkenflecken über die Stirnseiten der Häuser und hoben flüchtig ein Detail in einer Lichtpfütze hervor: einen schmiedeeisernen Balkon oder einen schreienden Mund am Giebel eines Dachfensters. Die Fassaden flackerten kurz auf und kamen gleich wieder zur Ruhe. Ich setzte mich zum Lesen auf schattige Bänke. Im Park von Porta Venezia stand eine junge Frau vor einem Baum, ein kleines Kind mit Baumwollmützchen auf dem Arm. Mit baumelnden Beinchen bestaunte das Kind den Stamm und betastete die Rinde. Leise lächelnd zog die Frau die Braue hoch, als wüsste sie ein Geheimnis. Wenn ich auf dem Rückweg von einer abendlichen Verabredung ab und zu die U-Bahn nahm, kam ich durch eine Straße, in der aus den großen Bogenfenstern des Chemieinstituts bernsteinfarbenes Licht in die Finsternis hinter dem dunklen, dichten Geäst der Ulmen drang. Einmal ging ich in einer Gasse hinter dem Piazzale Loreto an einem Waschsalon vorbei, in dem drei slawisch aussehende Seeleute herumstanden. Durch die Scheibe sahen sie mich ebenso verblüfft an wie ich sie, so als wäre meine Anwesenheit dort kein Stück weniger erstaunlich als die ihre. Russische Seemänner in einem Mailänder Waschsalon. Ich zuckte die Achseln, wie man das in solchen Fällen eben tut, und ging weiter.

Manchmal sprach ich, was zuvor nur selten vorgekommen war, einen ganzen Tag mit niemandem ein Wort. In diesem langen, umfassenden Schweigen gewann alles, was ich ansah - so wie in nächtlicher Stille jedes Geräusch deutlicher hervortritt -, zwar eine sonderbare Schärfe, blieb jedoch zugleich nur Teil eines losen Reigens von Bildern ohne klaren Sinn jenseits des flüchtigen Interesses, das sie im Vorüberziehen in mir auslösten. Womöglich begriff ein winziger Teil meines Verstands sogar, dass diese aufscheinenden Bilder in gewissem Maß in mir entstanden; doch diese Beobachtung einer Beobachtung einer Beobachtung blieb so blass, so dünn, dass sie sofort wieder verflog und die Bilder bloß immer blutleerer auf einem diffusen Hintergrund schwebten. Dass diese Dinge irgendwas mit mir zu tun haben könnten, kam mir genauso wenig in den Sinn wie die Frage, worin diese Verbindung bestehen könnte.

 

Tatsächlich schien mir damals gar nicht viel mit mir zu tun zu haben. Dank einer kleinen Erbschaft konnte ich mich noch einige Monate mit meinen sporadischen Einkünften über Wasser halten, in der Hoffnung auf bessere Zeiten. Die Wirtschaftskrise war etwas Abstraktes, Nebulöses - unangenehm, das schon, aber sicher nichts, was mein Leben langfristig beeinflussen würde. Ich brauchte bloß abzuwarten. Also wartete ich ab. Einstweilen las ich gegen Bezahlung für einen großen Verlag englische und französische Manuskripte, um sie für eine mögliche Veröffentlichung in Italien zu begutachten. Eine ruhige Arbeit, bei der auch ich zur Ruhe kam.

Die Einsamkeit war eine neue Welt für mich; wie eine menschenleere Kathedrale, in der jeder Schritt gewaltig widerhallt. Man musste vorsichtig auftreten und durfte nicht zu sehr auf die Echos achten, die jedes unterirdische Flüstern verstärkten. Interessant war das, aber auch anstrengend. Sicher, an den Wochenenden besuchte mich mein Freund N., der in einer Stadt ganz in der Nähe lebte, und ich hatte Freunde in Mailand, die ich häufig traf. Schwierig war jedoch die unerwartete Leere im Alltag. Einmal, beim Mittagessen, kamen mir ohne Grund die Tränen, während ich Datteltomaten aus einer Plastikschale aß. Mein verheulter Blick fiel auf das Etikett: »Tomaten für Kenner«, stand darauf. »Gott, wie spießig«, dachte ich, und die Vorstellung von mir selbst, wie ich einsam vor mich hin weinte und Tomaten für Kenner aß, war dermaßen albern, dass ich mich wieder fasste.

 

Geschrieben habe ich damals nicht. Seit Jahren war ich in eine Idee verbissen, aber nie über gute Absichten und wirre Gefühle hinausgekommen. Ich wusste, worüber ich schreiben wollte, doch das Wie bekam ich nicht zu fassen. Wichtig war mir nur, dass die Handlung so wenig wie möglich mit meinem eigenen Leben zu tun hätte. So ließ ich meinen Roman in Gedanken mäandern, ließ ihn immer wieder neue Formen annehmen, in unerträglich vagen Umrissen durch meinen Kopf treiben, bloß ein blauer Nebel, in dem ich hin und wieder einen »schönen Satz« einfing, der dann hohl und einsam stehen blieb. Manchmal trat aus dem Dunst das blonde Gespenst von M. hervor, meinem sich mir hartnäckig entziehenden Protagonisten, der schon mehrfach die Identität gewechselt hatte, dessen erzählerische Funktion aber vor allem darin bestand, tot zu sein. Erkennen konnte ich von ihm nur Einzelheiten: den goldenen Flaum im Nacken, die langen Beine, die leicht gekrümmten Schultern. Ein ganzer Mensch sollte er sein, doch ich bekam ihn nicht zusammen. Unerschütterlich und kindlich hielt ich an dem Glauben fest, dass es mir irgendwann gelingen würde. Auch dazu musste ich nur abwarten, nur immer weiter an ihn denken.

 

Etwa drei Wochen nach meinem Umzug kam meine Mutter mich besuchen. Auf einem Rundgang durchs Viertel blieben wir vor dem Schriftzug »Überall fehl am Platz« stehen, den jemand in der Nähe meiner Wohnung unter einem weiß gerahmten Fenster hinterlassen hatte, und dachten über die Ironie dieses Graffiti nach. Es war ein strahlend sonniger Spätsommertag. Hinter den Toren, in den Innenhöfen, raschelten Palmen und Eukalyptusbäume, zauberhaft und unerwartet, wie einem Traum entsprossen. Wir spazierten durch Porta Venezia. Meine Mutter trieb durch die Straßen wie ein träger Kahn, besah sich wohlwollend die Stadt und alles, was ich ihr von ihr zeigte. Worüber wir uns unterhielten, weiß ich heute nicht mehr, doch das spielt auch keine Rolle: Wir setzten nur das fröhliche Gespräch fort, das wir seit jeher geführt...
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Autor

Marta Barone wurde 1987 in Turin geboren. Sie ist Übersetzerin und freiberufliche Lektorin. Ihr Romandebüt, das in sieben Sprachen übersetzt wurde, stand auf der Shortlist des Premio Strega und wurde mit dem Premio Letterario Nazionale Elio Vittorini und dem Premio Fiesole ausgezeichnet. Barone ist auch Autorin mehrerer Kinderbücher.Jan Schönherr, geboren 1979, lebt in München und hat Autoren wie Jack Kerouac, Jacques Poulin und NoViolet Bulawayo übersetzt. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Bayerischen Übersetzerstipendium 2022.