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Fast wie ein Bruder

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
192 Seiten
Deutsch
Kiepenheuer & Witsch GmbHerschienen am15.08.2024
Entlang der gemeinsamen Lebensgeschichte zweier grundverschiedener Männer ergründet Alain Claude Sulzer existenzielle Fragen über Freundschaft und Abschied, (Homo-)Sexualität, Kunst und Ruhm. Im Ruhrgebiet der Siebziger wachsen sie auf wie Brüder. Doch anders als den Ich-Erzähler zieht es Frank früh hinaus in die Welt: Er will als Künstler leben, geht nach New York, malt wie besessen, jedoch ohne Erfolg. Erst als er unheilbar krank ist, kehrt er zurück. Nach langer Zeit begegnen sich die Freunde am Sterbebett zum letzten Mal. So unterschiedlich ihre Lebensläufe, so tief ist die in der Kindheit geknüpfte Verbindung. Und so landen die Bilder aus Franks Nachlass von nun an gut verpackt in der Remise des Erzählers - dem nicht nur Franks Homosexualität stets fremd geblieben ist, sondern auch dessen Kunst. Jahrzehnte später entdeckt er die Bilder zufällig in einer Galerie. Rätselhaft, wie sie dort hingelangt sind - und welch eigentümliche Anziehungskraft sie besitzen: Die Kunstwelt feiert den unbekannten Maler als Genie, und auch der Erzähler erkennt endlich die Faszination, die von den Werken des Freundes ausgeht. Und mehr noch: Im großformatigen Gemälde eines nackten Mannes erkennt er sich selbst.

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Doppelleben. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextEntlang der gemeinsamen Lebensgeschichte zweier grundverschiedener Männer ergründet Alain Claude Sulzer existenzielle Fragen über Freundschaft und Abschied, (Homo-)Sexualität, Kunst und Ruhm. Im Ruhrgebiet der Siebziger wachsen sie auf wie Brüder. Doch anders als den Ich-Erzähler zieht es Frank früh hinaus in die Welt: Er will als Künstler leben, geht nach New York, malt wie besessen, jedoch ohne Erfolg. Erst als er unheilbar krank ist, kehrt er zurück. Nach langer Zeit begegnen sich die Freunde am Sterbebett zum letzten Mal. So unterschiedlich ihre Lebensläufe, so tief ist die in der Kindheit geknüpfte Verbindung. Und so landen die Bilder aus Franks Nachlass von nun an gut verpackt in der Remise des Erzählers - dem nicht nur Franks Homosexualität stets fremd geblieben ist, sondern auch dessen Kunst. Jahrzehnte später entdeckt er die Bilder zufällig in einer Galerie. Rätselhaft, wie sie dort hingelangt sind - und welch eigentümliche Anziehungskraft sie besitzen: Die Kunstwelt feiert den unbekannten Maler als Genie, und auch der Erzähler erkennt endlich die Faszination, die von den Werken des Freundes ausgeht. Und mehr noch: Im großformatigen Gemälde eines nackten Mannes erkennt er sich selbst.

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Doppelleben. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783462312713
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum15.08.2024
Seiten192 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2666 Kbytes
Artikel-Nr.14350579
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Erster Teil
1

Frank war zweiunddreißig, als er starb, genauso alt wie ich. Wir kannten uns einunddreißig Jahre lang, und dann war er einfach weg. Was absehbar gewesen war, war geschehen.

Wir hatten im selben Haus gelebt und waren gemeinsam aufgewachsen, zwei Einzelkinder, die, wenngleich von zwei verschiedenen Elternpaaren, beinahe wie Zwillingsbrüder erzogen wurden, nur dass wir - wie es damals bei Zwillingen noch üblich gewesen wäre - nicht die gleichen Kleider trugen und auch nicht im selben Bett und nicht im selben Zimmer schliefen. Auch sahen wir uns nicht ähnlich.

Sagen wir also, wir lebten wie nahe Verwandte. Wir kannten uns so lange, dass wir uns nicht daran erinnerten, wann uns klar geworden war, dass wir keine Brüder waren; als wären wir tatsächlich Geschwister, mussten wir uns darüber den Kopf nicht zerbrechen. Es war wie es war.

Lange Zeit waren wir unzertrennlich. Unsere Mütter schoben uns gemeinsam durch die Gegend; zwar hatte jeder seinen eigenen Kinderwagen, auf den wenigen Fotos, die damals von uns gemacht wurden, erkennt man allerdings beinahe identische Modelle mit stromlinienförmigen Elementen. Dazu Chrom für den Glanz und Plastik für den Schutz des Kindes vor Sonne und Regen. Gemeinsam besuchten wir den Kindergarten und später die Grundschule und das Gymnasium. Wir spielten miteinander im Sandkasten auf dem Spielplatz - hinterm Haus gab es keinen und davor auch nicht, obwohl die Größe der Wohnanlage dies eigentlich erfordert hätte -, wir zündeten beide in derselben Minute unsere erste Zigarette am selben Streichholz an und machten gleichzeitig unseren ersten Zug. Das lustvolle Erschrecken über die Wirkung war wohl ebenfalls das Gleiche.

Erst als wir unsere Sexualität entdeckten, zeigten sich die ersten Unterschiede.

 

Unsere Eltern hatten sich kennengelernt, als sie am selben Tag ins selbe Haus einzogen. Zwei Möbelwagen standen auf der Straße.

Dieses schicksalhafte Zusammentreffen im Jahr 1962 - Frank und ich waren ein Jahr alt - wurde von den Erwachsenen jeweils Anfang Mai wie ein Hochzeitstag begangen. Die Besiegelung einer lebenslangen Freundschaft verwandter Geister, die sie ja wirklich waren, wurde stets mit Sekt und Häppchen gefeiert (entweder Lachs oder »Tatar«, wobei es sich in Wahrheit um Schweinemett mit viel Kapern und Zwiebeln handelte). Mit jedem neuen Jahr erinnerte man sich etwas euphorischer und ausführlicher des legendären Umzugstags sowie des Augenblicks, als man sich zum ersten Mal gegenübergestanden und festgestellt hatte, dass man gerade dabei war, die beiden leer stehenden Wohnungen im zweiten Stock - ohne Aufzug - zu beziehen. Zwei Familien am Wendepunkt, der Grundstein der Unzertrennlichkeit war gelegt.

Von nun an wohnten wir also im selben Haus auf derselben Etage, wir links, Reimers rechts. Zwei Stockwerke unter uns wohnten die Zigeuner, vor deren Wohnungstür sich die Schuhe unordentlich übereinanderstapelten. In ihrer Wohnung, in die sie den Straßendreck nicht hineintragen wollten, gingen sie barfuß oder in Strümpfen, vielleicht trugen sie Hausschuhe. Auch wenn es die anderen Hausbewohner störte, es war unbestreitbar hygienischer, als die Wohnung in Straßenschuhen zu betreten. Doch keiner von uns wurde je hereingebeten, so wie auch wir nie einen Zigeuner eingeladen hätten. Die Zigeuner sprachen gebrochen Deutsch, beherrschten aber noch eine zweite Sprache, die wir nicht verstanden.

Es hieß, die vier Reihenwohnblocks seien unter der Bedingung subventioniert worden, dass pro Haus eine Wohnung für Zigeuner, die sich zur Sesshaftigkeit entschlossen hatten, zur Verfügung gestellt würde. Ob das stimmte oder bloß ein Gerücht war, weiß ich nicht.

Was man mit eigenen Augen sah, war ein fortwährendes Kommen und Gehen. Täglich entdeckte man neue Gesichter, ständig wechselnde Autos, mit denen die Zigeuner einmal im Jahr Richtung Süden, vermutlich zur Wallfahrt nach Saintes-Maries-de-la-Mer, fuhren. Mit ihnen zu reden, kam nicht in Frage. Die Jungen sprachen nicht mit uns und wir nicht mit ihnen, die Mädchen waren bestenfalls schnippisch und frech und streckten einem die Zunge heraus, sobald man sie ansah. Sie gaben uns zu verstehen, dass sie nichts mit uns zu tun haben wollten. Opel fuhr keiner, obwohl diese Autos damals in unserer Stadt hergestellt wurden, worauf man stolz war, bis es damit abwärtsging. Sie fuhren Mercedes wie wohlhabende Leute.

Die jungen Zigeunerinnen hingen von morgens bis abends am Fenster, schnalzten mit den Zungen, zogen spöttische Grimassen und machten anzügliche Bemerkungen, mit denen sie uns zu verstehen gaben, dass sie kleine Jungs nicht ernst nahmen. Sie liebten die Provokation, und wir ließen uns provozieren und wehrten uns nicht.

Wie erst mochten sie sich gegenüber erwachsenen Männern verhalten? Wir erfuhren es nicht, weil wir nicht danach fragten. Immerhin wusste man, dass die männlichen Zigeuner, die man irgendwann auch bei uns Roma zu nennen begann, nicht mit sich spaßen ließen. Es hieß, jeder führe ein Messer mit sich, für Notfälle, Übergriffe und zur Verteidigung. Sollte sich ein Deutscher in eindeutiger Absicht einer Romni nähern, drohte ihm Ungemach. Es hieß, dass die Zigeuner keine Skrupel hätten, Konkurrenten, die nicht aus dem eigenen Lager stammten, aus dem Weg zu räumen, indem man sie erstach, genauso wie Carmen in der Oper erstochen wurde, nur dass deren Mörder kein Zigeuner war (das erzählte mir Frank; ich habe mich nie für Oper interessiert).

»Ignoriert sie«, sagte meine Mutter.

»Achtet nicht auf sie, schaut weg«, sagte Franks Mutter, wie immer waren beide einer Meinung.

Leichter gesagt als getan, wenn die Mädchen hinter einem her zischelten, sobald man das Haus verließ, dessen Eingangstür meist sperrangelweit offen stand, als gehörte sie ebenso zur Zigeunerwohnung wie der Treppenabsatz mit der Schuhablage. Eigentum und die damit einhergehenden Einschränkungen schienen sie nicht zu kennen. Es hieß ja auch, dass sie klauten wie die Raben.

Wenn Nachbarn in anderen Häusern der Umgebung gelegentlich auch etwas anderes behaupteten, wurde bei uns tatsächlich nie gestohlen, weder aus den Wohnungen noch aus den Kellern oder Waschküchen kam je etwas weg. Man lebte so friedlich nebeneinander her wie nur möglich, indem man genau das tat, was unsere Mütter uns einschärften: ignorieren.

 

Sämtliche Balkone lagen nach hinten mit Blick auf die Schrebergartenanlage, deren Konturen sich labyrinthartig in der Ferne verloren. Grund und Boden, auf dem die Kleingärten entstanden waren, galten damals noch nicht als problematisch; die Gifte, die unter den Blumen, Salaten und Kohlstrünken lauerten, interessierten niemanden. Die Kaninchen, die die besten Teile fraßen, waren nebst den Schnecken und anderem Ungeziefer das größte Problem, das die Kleingärtner beschäftigte. Man stolperte buchstäblich über sie, und eine Weile zielten wir kaltblütig mit Steinschleudern darauf, ohne je eines der Tiere zu treffen. Schlug ein Stein neben ihnen auf, stoben sie zur Seite; ein paar Meter entfernt ließen sie sich erneut nieder und fraßen seelenruhig weiter.

Über giftige Ablagerungen sprach man damals, als Umweltschutz und Klimaerwärmung noch kein Thema waren, nicht einmal beim Feierabendbier. Es gab genug anderes zu bequatschen. Es wuchs ja alles gut. Wenn die Kaninchen überlebten, was der Bergbau an unsichtbaren Spuren hinterlassen hatte, konnte es bei den Menschen erst recht keine größeren Schäden anrichten.

 

Das Trennglas zwischen den Balkonen hatten unsere Väter eines Tages innerhalb einer knappen Stunde umsichtig entfernt, ohne es zu beschädigen; beim Auszug der einen oder anderen Partei sollte der Balkon wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzt werden - so war es von der Hausverwaltung, die man selbstverständlich um Erlaubnis gebeten hatte, verlangt worden. Bestehen blieb ein einfacher Rahmen aus Eisenstangen, zwischen dem sich auch Erwachsene hindurchwinden konnten. Mit Leichtigkeit gelangten wir von einem Balkon zum anderen. Himmel, was hatten wir doch für ein lustiges Leben. Wir wussten nicht, wie gut es uns ging.

Von hier aus konnten wir die Liebespaare beobachten, die im Schutz der dichten Kleingartenhecke knutschten, einmal sogar zwei Frauen, eine Jüngere und eine Ältere, die sich händchenhaltend aneinanderdrückten und küssten. Wir lachten uns halb tot, sie konnten uns nicht hören. Es war unheimlich peinlich. Wir erzählten es deshalb nicht weiter.

Schon bald nach dem Einzug stellten unsere Eltern fest, dass Franks Mutter Marie (Mariechen genannt) am selben Tag im Juli Geburtstag hatte wie meine Mutter Rosemarie (Rosie genannt), was die Bande zwischen den Ehepaaren noch enger knüpfte. So lange wie die zwischen Frank und mir jedoch hielten sie nicht. Der Tod kam dazwischen.

Die Zeit hält niemand auf, sie fordert ihr Recht nach ihren eigenen Gesetzen. Erst erkrankte Marie an Krebs, dann Rosemarie.

 

Unsere Mütter starben kurz hintereinander im selben Jahr, in einem Abstand von weniger als vier Monaten beide an Brustkrebs - erst Franks, dann meine Mutter. Beide lagen im Bergmannsheil, dem nahe gelegenen Krankenhaus, in dem sich alle behandeln ließen, denen der Hausarzt mit Cognac, Spalttabletten und gutem Zureden nicht weiterhelfen konnte. Uns schien es, sie seien im selben Zimmer gelegen, denn ein...
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Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Doppelleben. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.