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Arten des Lebendigseins

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
332 Seiten
Deutsch
Matthes & Seitz Berlin Verlagerschienen am18.04.20241. Auflage
Die Kinder unserer städtischen Gesellschaften können mehr als tausend Markenlogos erkennen, aber weniger als zehn Pflanzenblätter. Das ist nur eines von vielen Symptomen der von Baptiste Morizot statuierten »Krise der Sensibilität«. Diese Krise hat dramatische ökologische Folgen, wie Massenaussterben oder Klimawandel, um deren Überwindung die Politik sich vergeblich bemüht. Der blinde Fleck bei all den Bemühungen um Klimaziele und Artenrettung besteht darin, dass die aktuelle ökologische Krise nicht so sehr eine Krise der Menschen auf der einen Seite und der Lebewesen auf der anderen, sondern vielmehr eine Krise unserer Beziehungen zum Lebendigen ist. Denn in den anderen zehn Millionen Arten auf der Erde, unseren Verwandten, »nur Natur« zu sehen, also nicht Lebewesen, sondern Dinge, bloß verfügbare Ressourcen, ist eine Fiktion, deren Gewalt zu den ökologischen Katastrophen der Gegenwart beigetragen hat. Es gilt einen Kulturkampf über die Frage, was Leben eigentlich bedeutet, zu führen. Dafür begibt sich Morizot nicht nur ins Dickicht des wissenschaftlichen und philosophischen Diskurses, sondern auch tatsächlich in die Wälder, um die Spuren der Wölfe zu lesen. In seinem faszinierenden, zwischen Erzählung, Nature Writing und philosophischem Traktat changierenden Buch gelingt es ihm, den Blick für die vielfältigen Arten des Lebendigseins zu schärfen.

Baptiste Morizot, 1983 geboren, ist Schriftsteller und lehrt Philosophie an der Universität Aix-Marseille. Zuletzt auf Deutsch (Reclam): Philosophie der Wildnis oder Die Kunst, vom Weg abzukommen.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR28,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR23,99

Produkt

KlappentextDie Kinder unserer städtischen Gesellschaften können mehr als tausend Markenlogos erkennen, aber weniger als zehn Pflanzenblätter. Das ist nur eines von vielen Symptomen der von Baptiste Morizot statuierten »Krise der Sensibilität«. Diese Krise hat dramatische ökologische Folgen, wie Massenaussterben oder Klimawandel, um deren Überwindung die Politik sich vergeblich bemüht. Der blinde Fleck bei all den Bemühungen um Klimaziele und Artenrettung besteht darin, dass die aktuelle ökologische Krise nicht so sehr eine Krise der Menschen auf der einen Seite und der Lebewesen auf der anderen, sondern vielmehr eine Krise unserer Beziehungen zum Lebendigen ist. Denn in den anderen zehn Millionen Arten auf der Erde, unseren Verwandten, »nur Natur« zu sehen, also nicht Lebewesen, sondern Dinge, bloß verfügbare Ressourcen, ist eine Fiktion, deren Gewalt zu den ökologischen Katastrophen der Gegenwart beigetragen hat. Es gilt einen Kulturkampf über die Frage, was Leben eigentlich bedeutet, zu führen. Dafür begibt sich Morizot nicht nur ins Dickicht des wissenschaftlichen und philosophischen Diskurses, sondern auch tatsächlich in die Wälder, um die Spuren der Wölfe zu lesen. In seinem faszinierenden, zwischen Erzählung, Nature Writing und philosophischem Traktat changierenden Buch gelingt es ihm, den Blick für die vielfältigen Arten des Lebendigseins zu schärfen.

Baptiste Morizot, 1983 geboren, ist Schriftsteller und lehrt Philosophie an der Universität Aix-Marseille. Zuletzt auf Deutsch (Reclam): Philosophie der Wildnis oder Die Kunst, vom Weg abzukommen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783751820325
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum18.04.2024
Auflage1. Auflage
Seiten332 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1807 Kbytes
Artikel-Nr.14498044
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Wir befinden uns auf dem Col de la Bataille2, es ist Spätsommer, es ist kalt, starke Nordwinde treffen hier auf Südwinde. Es ist ein trostloser, im Paläolithikum verbliebener Gebirgspass, über den eine kleine asphaltierte Straße führt, die oft gesperrt ist. Aber es ist keine Wüste, sondern eine Drehscheibe für das Leben in den Lüften. Hier kommen nämlich viele Vögel, unzählige Arten, auf ihrer langen Reise Richtung Afrika vorbei. Es ist eine mythische Pforte, durch die man auf die andere Seite der Welt gelangt. Wir sind hier, um sie zu zählen. Ausgerüstet mit einem manuellen Personenzähler, wie man ihn in Diskotheken und Theatersälen verwendet, klicken wir wie wild, in einer Art fröhlicher Trance für jede Schwalbe, die vorbeifliegt. Es sind Tausende, Zehntausende. Meine Begleiterin zählt 3547 in drei Stunden: Rauchschwalben, Mehlschwalben, Felsenschwalben. Sie kommen aus dem Norden, in Trauben, in Schwärmen, sie drängen sich in den Sträuchern unterhalb des Passes zusammen und warten auf Zeichen, die uns rätselhaft sind. Sie schätzen den Wind ab, das Wetter, ihre Anzahl, was weiß ich noch, sie füllen ihre winzigen Fettreserven während des Halts auf; und in einem bestimmten Augenblick, aus Gründen, die sich unserem Verständnis entziehen, stürzt sich ein ganzer Schwarm Schwalben in die Bresche, die sich in der Zeit aufgetan hat, um den Pass im richtigen Moment zu überqueren, gerade im richtigen Moment. Die Vögel bedecken den Himmel wie Sterne. Sobald die Windwand, die sie vom Süden trennt, überwunden ist, sind sie auf der anderen Seite. Sie haben es geschafft, sie haben eine Schwelle überschritten. Es wird weitere geben. Weiter unten, dicht am Boden, spielt sich die schleichende Migration der Sperlinge ab: Sie flattern von Baum zu Baum, kaum wahrnehmbar, als wären sie auf einem Spaziergang, aber von Baum zu Baum gelangen sie bis ans Ende der Welt. Manche Blaumeisen überqueren die Passstraße zu Fuß, um unter der Windwelle durchzukommen. Sie brauchen eine Minute, um stur den Asphalt zu überqueren. Sie zögern nicht, aber sie beeilen sich auch nicht. Sie haben eine Reise vor sich, die bis nach Nordafrika führt. Wie kann man einen Kontinent von Mut in elf Gramm Leben unterbringen? Die Greifvögel sind auch hier, der Fischadler, der heimliche König der Flüsse, der seine Krallen zu kräftigen, fischenden Bärentatzen entwickelt hat, ist eine reine Verkörperung der Tat: zwei Flügel, die vom Himmel stürzen, gepaart mit zwei unermüdlichen Klauen. Die Turmfalken und die Baumfalken mischen sich in den Schwarm, Jäger inmitten der Beute, so wie die Löwen mit den Gazellen reisen. Dies ist nur eine von vielen Schwellen im langen Zug von einem Ende der Erde zu einem anderen: die Migration von allem, was uns von den Dinosauriern bleibt, die noch ziemlich lebendig sind, obwohl einige Naive glauben, sie seien ausgestorben (sie haben sich bloß in Spatzen verwandelt). In diesem Zug findet man Pieper, Stelzen, Braunellen, riesige Geier und winzige Finken, Goldhähnchen, Girlitzen, Mauerläufer und Rotmilane, die wie gallische Stämme in ihren Farben stolzieren, jeder mit seinen Sitten, seiner Sprache, seinem ichlosen, spiegellosen Stolz - jeder mit seinen Ansprüchen. Und jede dieser Lebensformen hat ihre einzigartige Perspektive auf diese miteinander geteilte Welt, und beherrscht die Kunst, Zeichen zu lesen, die alle anderen ignorieren.

Die Schwalben zum Beispiel müssen während der ganzen Dauer des Flugs Nahrung aufnehmen; als Klimaexperten kennen sie die Tageszeiten, zu denen Insektenschwärme ihren Weg kreuzen werden, um sich im Flug von ihnen zu ernähren, ohne die Richtung zu ändern, ohne anzuhalten, ohne langsamer zu werden.

Plötzlich zieht ein Motorengeräusch unsere Aufmerksamkeit auf sich. Unten auf der Straße erklimmt eine Schlange Oldtimer den Pass. Es handelt sich um eines jener Treffen von Sammlern, die am Sonntag ausfahren, um ihre aufgetakelten Klapperkisten auf den Bergstraßen funkeln zu lassen. Sie machen am Pass Halt. Sie verlassen die Autos für ein, zwei Minuten, um ein paar akrobatische Selfies zu schießen, indem sie versuchen, Kühlerhaube, Lächeln und Landschaft auf dem Bildschirm zusammenzubringen. Sie sind rührend, und glücklich, hier zu sein. Dann brechen sie wieder auf. Meiner Freundin neben mir steht ein Bild vor Augen, das uns im schrecklichen Wind lähmt: »Sie haben es nicht bemerkt. Sie haben nicht bemerkt, dass sie sich inmitten von so etwas wie dem lebendigsten, kosmopolitischsten, buntesten Hafen des Mittelmeers befanden, von dem aus unzählige Völker nach Afrika aufbrechen.«3 Völker, die gegen die Elemente kämpfen, sich mit den Energieströmen vermählen, in der Sonne jubilierend mit der Kraft des Windes gleiten.

Als Primaten, die von ihresgleichen verblendet sind, haben sie nur einen trostlosen Gebirgspass gesehen, eine leere Kulisse, eine stumme Landschaft, einen Bildschirmhintergrund. Diese Bemerkung impliziert keinerlei Klage gegen diese Leute. Sie sind weder besser noch schlechter als wir. Wie oft haben denn nicht auch wir nichts von dem mitbekommen, was sich an Lebendigem an einem Ort abspielte? Wahrscheinlich jeden Tag. Unser kulturelles Erbe, unsere Sozialisierung hat uns so geprägt, es gibt Gründe und Ursachen dafür. Aber das ist kein Grund, nicht dagegen zu kämpfen. Kein Vorwurf, aber eine gewisse Traurigkeit angesichts dieser Blindheit, ihrer Tragweite und ihrer unschuldigen Gewalt. Die große Herausforderung besteht darin, dass wir als Gesellschaft wieder lernen, die Welt von Entitäten bevölkert zu sehen, die wunderbarer als Autosammlungen und Museumsgalerien oder auf andere Weise wunderbar sind. Und anzuerkennen, dass sie eine Wandlung unserer Lebensweisen und unseres Zusammenlebens erfordern.
EINE KRISE DER SENSIBILITÄT

Aus dieser Erfahrung lässt sich eine Idee skizzieren. Unsere ökologische Krise ist tatsächlich eine Krise der menschlichen Gesellschaften: Sie bringt das Schicksal zukünftiger Generationen, geradezu unsere Existenzgrundlagen und unsere Lebensqualität durch verschmutzte Umwelt in Gefahr. Sie ist auch eine Krise des Lebendigen: in der Form des sechsten Massenaussterbens, des Verschwindens von Wildtieren sowie der Störung ökologischer Dynamiken und Evolutionspotenziale der Biosphäre durch den Klimawandel. Doch sie ist auch eine Krise von etwas anderem, von etwas, das unscheinbarer, aber vielleicht grundlegender ist. Ich stelle die Hypothese auf, dass dieser blinde Fleck darin besteht, dass die aktuelle ökologische Krise nicht so sehr eine Krise der Menschen auf der einen Seite und der Lebewesen auf der anderen, sondern vielmehr eine Krise unserer Beziehungen zum Lebendigen ist.

Sie ist auf spektakuläre Weise vor allem eine Krise unserer produktiven Beziehungen zur lebendigen Umwelt, die sich im finanzgetriebenen Ausbeutungswahn des vorherrschenden Wirtschaftssystems zeigt. Sie ist aber auch eine Krise unserer kollektiven und existenziellen Beziehungen, unserer Verbindungen und Zugehörigkeiten zu den Lebewesen, die die Frage nach ihrer Bedeutung aufwerfen, Beziehungen, durch die sie zu unserer Welt gehören oder außerhalb unserer Wahrnehmungs- und Gefühlswelt sowie außerhalb der politischen Welt stehen.

Diese Krise ist schwierig zu benennen und zu verstehen. Doch jeder spürt deutlich, wozu sie uns aufruft: Wir müssen unsere Beziehungen zu den Lebewesen ändern.

Die aktuelle Begeisterung, die hervorgerufen wird durch politische Experimente innovativer Arten des Zusammenlebens und In-Beziehung-Tretens mit den Lebewesen, das Aufkommen von Formen alternativen gemeinschaftlichen Lebens, das Interesse an ökologischer Landwirtschaft und subversiven Wissenschaften - die die lebendige Natur neu beschreiben, nämlich als reich an Kommunikation und Bedeutungen -, das alles sind frühe und doch kräftige Signale für diesen Wendepunkt in dieser besonderen Zeit, die die unsere ist.

Ein Aspekt dieser Krise wird jedoch weniger wahrgenommen, weil er unscheinbarer und in seiner politischen Dimension, das heißt in seinen Politisierungsmöglichkeiten kaum vernehmbar ist. Das ist der Aspekt, der darin besteht, die Krise als eine Krise der Sensibilität4 zu verstehen.

Die Krise unserer Beziehungen zum Lebendigen ist eine Krise der Sensibilität, weil die Beziehungen zu den Lebewesen, die wir uns angewöhnt haben, zu ihnen zu unterhalten, Beziehungen zur »Natur« sind. Wie der brasilianische Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro erklärt, denken wir Erben der abendländischen Moderne, dass wir »natürliche« Beziehungen zur Welt der nichtmenschlichen Lebewesen unterhalten, weil jede andere Beziehung zu ihnen unmöglich wäre. Im Kosmos der Modernen gibt es zwei mögliche Arten von Beziehungen: entweder natürliche oder gesellschaftspolitische, und die gesellschaftspolitischen Beziehungen sind ausschließlich den Menschen vorbehalten. Das impliziert folglich, dass man die Lebewesen im Wesentlichen als Kulisse,...
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Autor

Baptiste Morizot, 1983 geboren, ist Schriftsteller und lehrt Philosophie an der Universität Aix-Marseille. Zuletzt auf Deutsch (Reclam): Philosophie der Wildnis oder Die Kunst, vom Weg abzukommen.Richard Steurer-Boulard ist Übersetzer zahlreicher Werke u. a. von Alain Badiou, Jacques Ranciere, Cynthia Fleury und Geoffroy de Lagasnerie.