Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Der Tag, an dem die Sonne starb

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Matthes & Seitz Berlin Verlagerschienen am02.05.20241. Auflage
In einem kleinen Dorf in den Bergen, wie es in China zahllose gibt, lebt der vierzehnjährige Li Niannian mit seinen Eltern, die einen Bestattungsladen betreiben. Niannian bezeichnet sich als Niemand, »ein Staubkorn auf einem Haufen Sesam, eine Nisse auf einem Kamel, einem Ochsen oder Schaf«. Alle nennen ihn den dummen Niannian, doch gerade er wird zum unbestechlichen Chronisten der unheimlichen Begebenheiten, die sein Dorf heimsuchen und sich im Laufe einer zunehmend bizarrer werdenden Nacht zutragen. Zunächst bemerkt er ein seltsames Ereignis: Statt sich bettfertig zu machen, tauchen immer mehr Nachbarn auf den Straßen und Feldern auf und gehen ihren Geschäften nach, als wäre die Sonne noch nicht untergegangen. Ratlos bemerkt er, dass sie traumwandeln und dabei alle ihre Wünsche ausleben, die sie während der wachen Stunden unterdrückt haben. Immer mehr Traumwandler tauchen auf, und es dauert nicht lange, bis die Gemeinde im Chaos versinkt. Als der Morgen anbricht, die Sonne aber ausbleibt und die Nacht nicht zu enden droht, erhält das über Jahre von seinem Vater gesammelte Leichenfett der Kremierten eine neue Bedeutung, und es liegt nun an ihm und Niannian, die Stadt mit einem Sonnenaufgang in den neuen Tag zu führen.

Yan Lianke, 1958 in der Provinz Henan geboren, diente ab 1978 in der Volksbefreiungsarmee, an deren Kunsthochschule er Literatur studierte. Obwohl einige seiner Werke auf dem Index verbotener Bücher stehen, erhielt er zahlreiche chinesische Literaturpreise und war für viele internationale Literaturpreise nominiert. Er lebt heute in Peking.
mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR25,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextIn einem kleinen Dorf in den Bergen, wie es in China zahllose gibt, lebt der vierzehnjährige Li Niannian mit seinen Eltern, die einen Bestattungsladen betreiben. Niannian bezeichnet sich als Niemand, »ein Staubkorn auf einem Haufen Sesam, eine Nisse auf einem Kamel, einem Ochsen oder Schaf«. Alle nennen ihn den dummen Niannian, doch gerade er wird zum unbestechlichen Chronisten der unheimlichen Begebenheiten, die sein Dorf heimsuchen und sich im Laufe einer zunehmend bizarrer werdenden Nacht zutragen. Zunächst bemerkt er ein seltsames Ereignis: Statt sich bettfertig zu machen, tauchen immer mehr Nachbarn auf den Straßen und Feldern auf und gehen ihren Geschäften nach, als wäre die Sonne noch nicht untergegangen. Ratlos bemerkt er, dass sie traumwandeln und dabei alle ihre Wünsche ausleben, die sie während der wachen Stunden unterdrückt haben. Immer mehr Traumwandler tauchen auf, und es dauert nicht lange, bis die Gemeinde im Chaos versinkt. Als der Morgen anbricht, die Sonne aber ausbleibt und die Nacht nicht zu enden droht, erhält das über Jahre von seinem Vater gesammelte Leichenfett der Kremierten eine neue Bedeutung, und es liegt nun an ihm und Niannian, die Stadt mit einem Sonnenaufgang in den neuen Tag zu führen.

Yan Lianke, 1958 in der Provinz Henan geboren, diente ab 1978 in der Volksbefreiungsarmee, an deren Kunsthochschule er Literatur studierte. Obwohl einige seiner Werke auf dem Index verbotener Bücher stehen, erhielt er zahlreiche chinesische Literaturpreise und war für viele internationale Literaturpreise nominiert. Er lebt heute in Peking.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783751809771
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum02.05.2024
Auflage1. Auflage
SpracheDeutsch
Dateigrösse1042 Kbytes
Artikel-Nr.14577246
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Vorwort

Hört mein Geplapper

Hallo ... Seid ihr da ... Hört einer von euch mein Geplapper?

Hallo ... Ihr Götter und Geister ... Wenn ihr Zeit habt, kommt und hört mir zu ... Auf dem höchsten Gipfel des Funiu-Gebirges knie ich, damit ihr meine Stimme hört. Einem dummen Kind werdet ihr doch sein Geschrei nicht übelnehmen?

Hallo ... Ich spreche für ein Dorf. Für eine kleine Stadt. Für ein Gebirge. Und für die ganze Welt. Hier im Angesicht des Himmels knie ich, um euch etwas zu erzählen. Ich hoffe, ihr könnt meinem Geplapper und Geschrei geduldig zuhören. Seid nachsichtig mit mir, seid großmütig. Denn ich will euch von einer Sache erzählen so hoch wie der Himmel und so weit wie die Erde.

Viele in unserem Dorf sind deswegen gestorben. Viele in unserer Stadt. In unseren Bergen und jenseits der Berge sind im Albtraum dieser einen Nacht so viele Menschen gestorben, wie Weizenhalme gemäht wurden. Und so viele Menschen fristen noch immer ein kümmerliches Dasein in den Bergen und jenseits der Berge, wie Weizenkörner gekeimt sind.

Das Dorf und die Kinder. Die Berge und die Welt. Ihre Eingeweide, ihre Herzen und Lebern sind wie Papiertütchen voll Blut: Eine Unachtsamkeit, und das Papier reißt. Und schon quillt das Blut hervor. Und das Leben versickert wie ein Tropfen Wasser in der Wildnis. Es vergeht wie ein gefallenes Blatt im Winter.

Ihr Götter und Geister ... Ihr Geister der Toten ... Dieses Dorf, diese Stadt, diese Berge, diese Welt, sie ertragen keinen zweiten solchen Albtraum mehr. Bodhisattwas ... Himmel ... Arhats ... Jadekaiser ... Ich flehe euch an, behütet dieses Dorf und diese Stadt. Behütet diese Berge und diese Welt. Für dieses Dorf, diese Stadt und diese Menschen knie ich hier auf diesem Berg und bitte euch um Gnade. Ich knie hier, damit die Lebenden am Leben bleiben. Ich knie hier für das Getreide ... die Erde ... die Saat ... die Ackergeräte ... die Straßen und Einkaufsviertel ... und all das geschäftige Treiben. Ich knie hier für den Tag und für die Nacht. Damit die Hühner Hühner bleiben und die Hunde Hunde.

So aufrichtig, wie ich nur kann, will ich euch bis in die kleinste Kleinigkeit erzählen, was in jener Nacht und an jenem Tag geschehen ist. Wenn mir dabei ein Fehler unterläuft, dann nicht, weil ich unehrlich wäre, sondern weil ich so aufgewühlt bin. Mein Kopf ist jahrein, jahraus ein einziger Kleister. Ein einziger Modder. Das ist er schon immer gewesen, und deshalb rede ich und rede, lang und breit und breit und lang. Egal ob ein anderer dabei ist oder nicht, ich rede einfach mit mir selber. Plappere Wörter und Sätze vor mich hin, und nichts passt zusammen. Deshalb nennen mich die Leute einen Dummkopf. Sha Niannian nennen sie mich, den Dummen Niannian. Und weil ich so dumm bin, kann ich in all dieses Wirrwarr auch keine Ordnung bringen, sodass meine Worte wie Bruchstücke klingen. Und so wirke ich umso dümmer, je mehr ich von mir gebe. Aber ihr Götter und Geister! Ihr Bodhisattwas und Arhats! Himmel und Herrgott! Haltet mich bloß nicht für einen echten Idioten! Manchmal ist mein Kopf klar. Klar wie ein Bach. Oder wie der blaue Himmel.

Jetzt zum Beispiel ist mein Kopf wie eine offene Dachluke. Ich sehe den Himmel. Und die Erde. Und die ganze Wahrheit jener Nacht. Alles bis in die kleinste Kleinigkeit steht mir vor Augen. Selbst die Nadeln und die Sesamkörner, die damals auf die finstere Erde gefallen sind, sehe ich.

Wie blau der Himmel ist. Wie nah die Wolken. Während ich hier knie, höre ich, wie meine Haare im Wind flattern und aneinanderrauschen. Höre, wie die Wolken über mir vorüberbrausen. Sehe, wie die Luft an mir vorüberflutet wie sausendes Garn. Wie still das alles ist. Wie strahlend hell. Die Luft und die Wolken duften wie Tau in der Sonne. Hier knie ich, knie ruhig auf dem höchsten Gipfel der Berge. Ganz allein bin ich. Mutterseelenallein auf der weiten Welt. Nur das Gras und die Bäume, die Steine und die Luft sind um mich herum.

Wie still die Welt ist. Alles unter dem Himmel schweigt ... Ihr Götter und Geister, lasst mich euch inmitten dieser Stille von den Ereignissen jener Nacht erzählen. Egal wie beschäftigt ihr auch seid, kommt und hört mein Geplapper. Ich weiß, ihr wohnt im Himmel über mir, wohnt auf den Bergen und der Erde ringsumher. Auch ihr, ihr einsamen Berge und Bäume, ihr Gräser und Frösche, ihr Mönchspfeffersträucher und Ulmen, hört mir zu ... Hier will ich knien, das Gesicht zum Himmel gewandt, das Herz rein wie Wasser, und will euch alles berichten, was ich gesehen und erlebt, gehört und gedacht habe. So bedächtig, als würde ich ein Weihrauchstäbchen abbrennen, will ich euch die Ereignisse jener Nacht erzählen, hier vor euch auf diesem Berg unter dem Himmel, zum Beweis, dass ich die reine Wahrheit spreche. So wie ein Gras, das der Wind mit sich trägt, ein Beweis ist, dass es die Erde gibt und dass sie dem Gras sein Schicksal auferlegt.

Ich fange nun an.

Aber wo soll ich anfangen?

Am besten gleich hier.

Bei mir selber. Meiner Familie. Und unserem damaligen Nachbarn. Unser Nachbar war kein gewöhnlicher Nachbar. Ihr würdet mir nicht einmal glauben, dass er mit uns im selben Dorf und in derselben Stadt lebte. Und doch war er unser Nachbar. Und wir waren seine Nachbarn.

Wir waren darauf durchaus nicht besonders erpicht. Der Himmel und unsere Vorfahren hatten es einfach so eingerichtet.

Yan Lianke hieß unser Nachbar - der Schriftsteller, der auch malen konnte und der sich mit seinen Werken einen großen Namen gemacht hatte. In unserer Stadt hatte er einen viel größeren Namen als der Bürgermeister und im Kreis einen größeren Namen als der Kreisvorsteher. Er stach so sehr hervor wie eine Wassermelone unter lauter Sesamkörnern oder ein Kamel in einer Herde Schafe.

Ich dagegen bin ein Niemand, ein Staubkorn auf einem Haufen Sesam, eine Nisse auf einem Kamel, einem Ochsen oder Schaf. Vierzehn Jahre bin ich alt und heiße Li Niannian, aber alle im Dorf nennen mich nur »Sha Niannian«, den Dummen Niannian. Einzig und allein Yan Lianke rief mich immer »Xiao Niannian« - Kleiner Niannian. Oder auch: »Mein Junge«. Li Niannian, mein Junge. Wir lebten nicht nur im selben Dorf, wir waren tatsächlich Nachbarn.

Unser Dorf heißt Gaotian, aber weil wir Straßen haben und einen Marktplatz, ein Rathaus, eine Bank, eine Post und ein Polizeirevier, ist unser Dorf in Wahrheit schon eine kleine Stadt. Das Dorf heißt Gaotian und die Stadt auch. Der Kreis, zu dem wir gehören, ist der Kreis Zhaonan. Warum China China heißt, muss ich euch ja sicher nicht erklären: Die Chinesen glaubten schon immer, China sei das Zentrum der Welt - das »Reich der Mitte« oder eigentlich die »Reiche der Mitte«. Und die »Zentrale Ebene« heißt so, weil die Leute hier meinen, sie lebten im Zentrum von China. Diese Erklärung stammt nicht von mir, sondern aus einem von Onkel Yans Büchern. Unser Kreis wiederum liegt im Zentrum der Zentralen Ebene und unser Dorf im Zentrum des Kreises. Also bildet unser Dorf den Mittelpunkt von China und damit den Mittelpunkt der Welt.

Ich weiß nicht, ob Onkel Yan recht hat. Aber jedenfalls hat ihn nie jemand korrigiert. Er hat sogar einmal gesagt: »Mit jedem Wort, das ich geschrieben habe, wollte ich den Menschen beweisen, dass dieses Dorf und dieser Flecken Erde das Zentrum der Welt sind.«

Aber inzwischen schreibt er nicht mehr. Schon seit Jahren nicht mehr. Seine Inspiration ist versiegt, seine Seele verdorrt. Wahrscheinlich hatte er deshalb die Welt satt und wollte sich irgendwo in die Einsamkeit zurückziehen. Weil er jene Nacht erlebt hatte und trotzdem unfähig war, sie in Worte zu fassen, ist er als Schriftsteller wahrscheinlich schon tot. Und als lebender Mensch, der er auch noch war, wusste er nicht mehr, wohin er noch gehen sollte. Also knie ich hier und bitte euch, ihr Götter und Geister ... Bodhisattwas und Buddhas, Guan Yu, Kriegsgott und Schutzherr der Literatur, Zhuge Liang, Fürst der Kriegskunst, Wenqu, Schutzgott der Literatur und der Künste, Sima Qian, Ahnherr der Geschichtsschreiber, Li Bai und Du Fu, erhabenes Doppelgestirn der Dichtung, Zhuangzi und Laozi, ihr großen daoistischen Weisen, und diesen und jenen und wen auch immer ... Euch alle bitte ich: Seid barmherzig mit Onkel Yan und schenkt ihm ein klein wenig Inspiration. Lasst Eingebungen auf ihn niedergehen, unerschöpflich wie Ströme von Regen. Erweckt ihn als Schriftsteller zu neuem Leben, damit er in wenigen Tagen seinen Roman Menschennacht vollenden kann.

Ihr Götter und Geister ... Ihr Geister der Toten ... Ich bitte euch, behütet unser Dorf. Behütet unsere Stadt. Und behütet den Schriftsteller Yan Lianke. Ich habe viele seiner Bücher gelesen. All die Bücher, die er irgendwo in der weiten Welt geschrieben hatte, ließ er sich nach Hause schicken, und weil ich sein Nachbar war, konnte ich sie mir alle von ihm leihen:...
mehr