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Von hier aus kann man die ganze Welt sehen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Gerstenberg Verlag GmbH & Co. KGerschienen am01.07.2024
Dee lebt mit ihrer Mutter in einem Hochhaus am Rande der Stadt. Dee liebt ihr Zuhause mit seinen Bewohnern aus aller Welt. Eines Tages findet sie auf der Straße einen Brief; Empfänger und Absender sind unleserlich. Dee wittert ein Geheimnis, denn der Brief ist von jemandem, der jemanden sehr vermisst. Mit Vermissen kennt Dee sich aus: Ihre Mutter ist so anders als sie, dass Dee sich fragt, ob sie vielleicht adoptiert ist? Zusammen mit ihrem besten Freund Vito macht sie sich auf die Suche nach dem Empfänger des Briefes. Sie begegnen den unterschiedlichsten Menschen. Aber jede Begegnung wirft neue Fragen auf ... Eine poetisch und mitreißend erzählte Geschichte, in der es um die Frage aller Fragen geht, die der eigenen Herkunft.

Enne Koens, geb. 1974 in Amsterdam, lebt heute in Utrecht. Sie schreibt Bücher für Kinder und Erwachsene, außerdem Theaterstücke, Lieder und Drehbücher. Ihr Kinderroman Ich bin Vincent und ich habe keine Angst war 2020 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und erhielt den Leipziger Lesekompass.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR17,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextDee lebt mit ihrer Mutter in einem Hochhaus am Rande der Stadt. Dee liebt ihr Zuhause mit seinen Bewohnern aus aller Welt. Eines Tages findet sie auf der Straße einen Brief; Empfänger und Absender sind unleserlich. Dee wittert ein Geheimnis, denn der Brief ist von jemandem, der jemanden sehr vermisst. Mit Vermissen kennt Dee sich aus: Ihre Mutter ist so anders als sie, dass Dee sich fragt, ob sie vielleicht adoptiert ist? Zusammen mit ihrem besten Freund Vito macht sie sich auf die Suche nach dem Empfänger des Briefes. Sie begegnen den unterschiedlichsten Menschen. Aber jede Begegnung wirft neue Fragen auf ... Eine poetisch und mitreißend erzählte Geschichte, in der es um die Frage aller Fragen geht, die der eigenen Herkunft.

Enne Koens, geb. 1974 in Amsterdam, lebt heute in Utrecht. Sie schreibt Bücher für Kinder und Erwachsene, außerdem Theaterstücke, Lieder und Drehbücher. Ihr Kinderroman Ich bin Vincent und ich habe keine Angst war 2020 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und erhielt den Leipziger Lesekompass.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783836992343
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum01.07.2024
SpracheDeutsch
Dateigrösse1668 Kbytes
Artikel-Nr.15239868
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Mein Liebling

Ich renne an der Bushaltestelle vorbei, zwischen den Hochhäusern hindurch und schräg über die Grünanlage.

Als ich am Spielplatz vorbeilaufe, sehe ich Kevin und Vito, meine beiden besten Freunde. Sie hängen am Zaun herum. Kevin hat seinen Ball unter dem Arm, seine Trainingshose ist noch weiter runtergerutscht als sonst. Zwischen den Gitterstäben kann ich ein Stück von seinem Hintern erkennen. Vito steht daneben, das Haar streng gescheitelt. Wie immer trägt er ein glatt gebügeltes Oberhemd. Unterschiedlicher können zwei Freunde nicht sein.

Oder drei, sollte ich eigentlich sagen. Wir sind alle drei sehr unterschiedlich. Genau wie unsere Familien übrigens. Meine Mutter ist sechsundzwanzig, viel jünger als die meisten Mütter. Vitos Mutter zum Beispiel ist zweiundvierzig und Kevins dreißig. Meine Mutter lacht fast nie, sie ist furchtbar ernst. Vitos Mutter lacht den ganzen Tag und Kevins Mutter ist meist wütend. Vitos Mutter backt Kekse. Kevins Mutter telefoniert mit Leuten über ihre Versicherung. Und meine Mutter arbeitet in der Bibliothek. Bei ihr kann man ausgeliehene Bücher zurückgeben oder auch Fragen stellen. Vito hat einen Vater und drei Schwestern. Kevins Eltern sind geschieden. Kevins Vater holt Kevin ganz manchmal ab, um etwas Schönes zu unternehmen. Ich habe keinen Vater. Und meine Mutter ist eigentlich auch ... Aber das ist eine lange Geschichte, die erzähle ich später.

Ich winke Kevin und Vito zu und renne weiter. Meine Mutter hatte es eilig, glaube ich. Das würde mich nicht wundern. Alles an meiner Mutter ist praktisch und schnell. Bestimmt ist sie längst oben. Ich springe in den Aufzug. Gerade als sich die Tür schließen will, schiebt Herr Ibrahim den Fuß dazwischen. Die Tür öffnet sich. Das muss mir wieder passieren.

»Hallo«, sage ich lächelnd und halte die Hand auf meine Innentasche, damit ich es nicht verliere, das kleine blaue Geheimnis.

Herr Ibrahim lächelt zurück. »Bist du in Eile, Deetje?«

»Nein, nein«, antworte ich. Was geht ihn das an.

Im Spiegel sehe ich meine roten Wangen. Meine Brust, die sich schnell hebt und senkt. Herr Ibrahim steigt in der sechsten Etage aus. Superlangsam schlurft er aus dem Aufzug. Mama wartet nicht gern. Ich drücke mindestens hundert Mal auf den Knopf und flüstere: »Tür zu, Tür zu, Tür zu.« Aber es geht nicht schneller, als es geht. Inschallah, würde Herr Ibrahim sagen.

Endlich bin ich oben. Und ja, natürlich, als sich die Aufzugtür öffnet, in der achten Etage, steht sie da.

»Na endlich«, seufzt sie. »Wo bist du denn nur geblieben?« Sie dreht sich um und geht vor mir her über die Galerie. Herbstblätter wehen aus ihren Haaren.

Erst viel später an diesem Tag gelingt es mir, den Brief zu öffnen. Nachdem wir was gegessen haben. Meine Mutter bestreicht Brote mit Margarine und belegt sie mit Wurst. Ich darf mir meine Brote nie selbst machen, weil keiner so dünne Wurstscheiben abschneiden kann wie sie. Der Brief ist inzwischen in meinem Zimmer. Gleich als ich reingekommen bin, habe ich ihn unter meine Matratze geschoben, das kommt mir fürs Erste am sichersten vor. Meine Mutter darf das niemals erfahren. Ganz bestimmt würde sie ihn mir an Ort und Stelle aus den Händen reißen und rufen: »Woher hast du den denn?« Und anschließend verlangen, dass ich ihn bei der Polizei abgebe. So ist sie.

Als beide Teller gespült und wieder eingeräumt sind, die Margarine und die Wurst wieder im Kühlschrank stehen und der Tisch abgewischt ist, setzt sich meine Mutter aufs Sofa. Sie liest die Zeitung und ich husche in mein Zimmer.

Leise schließe ich die Tür. Meine Mutter mag geschlossene Türen nicht, aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Ich ziehe den Brief unter der Matratze hervor und setze mich damit an den Schreibtisch. Vorsichtig lege ich ihn vor mich hin. Er ist klein und babyblau. Der Name und die Adresse vorn sind durchgestrichen. RETOUR AN ABSENDER, hat jemand in Druckbuchstaben danebengeschrieben. Ich muss Vito fragen, was das bedeutet, Retour an Absender. Für wen ist dieser Brief ? Ich sehe eine Handschrift mit großen Wellenlinien und Schlaufen. Aber sie ist so sorgfältig durchgestrichen, dass ich die Anschrift nicht mehr lesen kann. Hintendrauf stehen ein paar Zahlen und Buchstaben, eine Postleitzahl, halb vom Regen verwischt. Ich starre auf das, was davon übrig ist. Schließlich kann ich mühsam eine Drei und eine Neun entziffern. Ich seufze.

Ich erinnere mich noch ganz genau, wie ich zum ersten Mal gelesen habe. In der ersten Klasse haben wir Buchstaben auf Papier ohne Linien abgemalt. Ich begriff nicht, dass diese seltsamen Zeichen etwas mit Sprechen zu tun hatten, mit Geheimnisse-Weitererzählen, mit Abenteuern von Monstern und Drachen. Der Lehrer stieß seltsame Laute aus. »Das ist das Ka«, sagte er. »Ka-Ka-Ka. Sprecht mir bitte nach.« Er zeigte auf die Tafel.

Aber ich schaute nur wie gebannt auf sein Gesicht und den stammelnden Ton, der aus seinem Mund hervorbrach, als würde er selbst gleich zusammenbrechen.

Ich suchte mir einen roten Stift aus und malte den Buchstaben von der Tafel ab, wie wir es machen sollten. Konzentriert folgte ich dem Buchstaben mit dem Blick nach oben und nach unten.

Aber erst als ich meine Mutter schreiben sah, begriff ich, dass es für etwas gut war. Sie ging mit ihrem Zettel weg und kam mit Sachen, die wir brauchten, vom Supermarkt zurück. Den Zettel fand ich zusammengeknüllt ganz unten in der großen Plastikeinkaufstasche. Und ich schaute. »Ss, Aa, Ll, Aa, Mm, Ii«, sagte ich. Plötzlich vermischten sich die Klänge zu einem Lied und das Lied sang ein Wort. Ich hörte es. Es ertönte in meinem Kopf. Salami. Wie erstarrt stand ich im Flur.

Ich strich über die Buchstaben. »Salami«, flüsterte ich. »Salami.« Und: »Be, Rr, Oo, Te.« Es klappte schon besser. »Brot«, sang ich. Die Zeichen standen dort anstatt der Dinge. S, A, L, A, M, I ersetzten die echte, die rote Wurst, die im Kühlschrank lag. Und wenn kein Brot da war, konnte man es aufschreiben, um es nicht zu vergessen. Brot.

Vorsichtig stecke ich die Spitze meiner Schere in den Umschlag, wie Mama es oft macht, und ritze ihn auf. In dem Umschlag ist ein zusammengefaltetes liniertes Blatt Papier. Meine Hände zittern. Ich lese die Worte eines Fremden, krieche in den Kopf eines Unbekannten, um zu sehen, was dort gewachsen ist und rausmusste.

»Mein Liebling«, lese ich. »Die Tage sind so kahl wie Bäume im Herbstwind ...«

Ich schiebe den Finger unter das Wort, das ich gerade lese. »Heute Morgen sind wir mit der Familie durch die Felder gegangen. Es war kalt. Der Weg kommt mir noch länger vor als früher, da Du mit uns gegangen bist. Die blattlosen Bäume an unserem Pfad - und dann etwas, was ich nicht lesen kann - Schafe stoben blökend auseinander. Ich ging ganz am Ende und sah, wie wir uns beugten, die Schultern hochgezogen, um uns gegen den Wind zu wappnen. So kleine Menschen unter einem so großen Himmel. In der Kirche las der Pfarrer über Jakob und Josef. Es stimmte mich nachdenklich. Wie kurz das Leben doch ist und wie sehr ich Dich vermisse. Meine Gedanken sind immer noch in Bewegung. Vielleicht sollten wir vergessen, was alles geschehen ist. Ich hoffe, Du kannst uns bald besuchen. Auf ewig ...

Verwirrt setze ich mich auf. Ich bin wieder in meinem Zimmer und schüttele die seltsame Welt von mir ab. Den Wind, die kahlen Bäume und die Kirche. Für einen Moment war ich dort, bei ... Ich kann den Namen nicht lesen.

Etwas mit P?

Es könnte auch ein B oder ein D sein.

Sein Name ist verwischt. Oder ihr Name. Aus den Buchstaben sind blaue Flecken geworden. Wie an mehreren Stellen in dem Brief. Vielleicht durch den Regen. Oder waren es Tränen?

Vorsichtig fahre ich mit der Zunge über das Papier. Salz.

Ich starre auf die Flecken. Was stand da? P ... Pieter? David? Bilal? Dann höre ich Schritte. Mama. Alarmiert falte ich den Brief zusammen und schiebe ihn zurück in den Umschlag. Sie kommt näher.

»Dee?«

So schnell ich nur kann, schiebe ich den Brief unter die Matratze und setze mich wieder hin.

»Was machst du da?« Ihre Augen kriechen über mich.

Meine Haut juckt. »Nichts.«

Sie macht noch ein paar Schritte und schaut sich suchend in meinem Zimmer um. Die Vorhänge hängen brav an den Fenstern. Die Bettdecke liegt gerade. Mein Kuschelkaninchen sitzt neben dem Kopfkissen. Die Sekunden auf meinem Wecker springen weiter. Nichts, was nicht so sein sollte. Ich folge ihrem Blick. Sie dreht sich um und verschwindet in die Küche. Mit gespitzten Ohren höre ich, wie sie sechs Löffel voll in den Filter gibt, Wasser in die Kanne füllt und danach in die Maschine...
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